9.
Azami zu küssen brachte ihn dem Paradies so nah, wie er ihm jemals kommen würde, und Sam gestattete es sich, sich in ihr zu verlieren, doch er war Soldat – und Schattengänger –, und ein kleiner Teil von ihm ruhte nie. Er hörte nicht wirklich Schritte, sondern fühlte eher den Hauch von Energien, doch er wusste, dass sie jeden Moment Gesellschaft haben würden. Widerstrebend hob er seinen Kopf und sah dasselbe bedauernde Wissen in ihren Augen. Er würde sich nie Sorgen machen müssen, dass seine Frau Gefahren nicht kommen sah. Ihre Hand war bereits auf den Dolch gesunken, den sie in der Schlaufe ihres raffinierten Gürtels trug. Er war nicht zu sehen, aber er hatte ihn gefühlt, sowie er sie eng an sich gezogen hatte.
Sam trat vor Azami, um sie zu verdecken, ein instinktiver Schritt, der nicht dazu diente, sie zu beschützen – das Energiefeld hatte ihm bereits gesagt, dass Ian McGillicuddy durch den Flur kam, um nach ihm zu sehen. Sämtliche Mitglieder seines Teams sahen abwechselnd nach ihm, aber er war nicht sicher, ob Azami mit ihm gesehen werden wollte oder ob sie die Gelegenheit lieber nutzen wollte, um zu verschwinden.
Ihre Hand glitt über seinen nackten Rücken, eine ihrer kaum wahrnehmbaren Berührungen, doch er fühlte die Woge von Wärme, die sie in sein Inneres verströmte.
Ich schäme mich nicht, mit dir zusammen zu sein, Sam.
Sam ertappte sich dabei, dass er idiotisch lächelte, als Ian die Tür aufstieß. Der Ire blieb abrupt stehen, als er Sam dastehen sah, die Jeans nachlässig zugeknöpft und ohne Hemd, sodass sein verwundeter Bauch und sein nackter Brustkorb zu sehen waren. Sam wusste sofort, dass Ian Azamis Anwesenheit wahrgenommen hatte – es war daran zu erkennen, wie er einatmete, die Stirn in Falten legte und sich irritiert umsah.
»Sie kann nicht hier sein.« Ian klang empört.
Sam ließ sich auf das Bett sinken. Seine Kräfte kehrten langsam zurück, aber auf wackligen Beinen konnte Stehen lästig sein. Der Schmerz seiner Wunde hatte eindeutig nachgelassen. »Warum nicht?«, fragte er mit einer Spur von Angriffslust.
»Sie kann nicht hier sein. Das ist ganz ausgeschlossen. Ich habe vor ihrer Tür Wache gestanden.« Ian sah Azami in die Augen. »Zu Ihrem Schutz, versteht sich.«
»Ja, selbstverständlich, weil in den Fluren hier so viele Feinde herumschleichen«, sagte Azami mit einer angenehmen, melodischen Stimme, die unschuldig und reizend klang.
Ians Stirnrunzeln vertiefte sich, als sei er verwirrt. Sie konnte es doch gewiss nicht so gemeint haben, das hätte jeder gewusst, der sie hörte. »Was tut ihr zwei hier überhaupt?«, fragte er, und der Argwohn verlieh seinem Tonfall etwas Finsteres und Melodramatisches. Er zuckte sogar mit den Augenbrauen wie ein Schurke.
Sam kostete es Mühe, keine Miene zu verziehen. Ian war ein großer, stämmiger Mann mit Sommersprossen. Er hatte überhaupt nichts Fieses oder Bedrohliches an sich, nicht einmal, wenn er es versuchte.
»Azami hat mir gerade erzählt, als sie ihr Zimmer verlassen hätte, um sich nach meiner Gesundheit zu erkundigen, hätte im Flur neben ihrer Tür ein Riese mit rotem Haar geschnarcht.«
»Niemand hätte an mir vorbeikommen können«, beharrte Ian.
Sam grinste ihn an. »Willst du damit etwa sagen, du seist tatsächlich im Dienst eingeschlafen?«
»Nein, verdammt noch mal.« Ian sah ihn finster an. »Ich war hellwach, und sie hat sich nicht an mir vorbeigeschlichen.«
»Das sagst du«, hob Sam hervor, und sein Tonfall war spöttisch, als er die Arme vor seiner Brust verschränkte und sich lässig zurücklehnte. Es machte ihm Spaß, seinen Freund aufzuziehen. »Sie ist trotzdem hier, und das beweist, dass du entweder in die falsche Richtung geschaut oder geschlafen hast, wie damals in Indonesien, als wir dich mit einem Fallschirm abgeworfen haben und du auf dem Weg nach unten eingeschlafen bist. Wenn ich mich recht entsinne, hast du dich bei der Gelegenheit mitten im feindlichen Lager in einem sehr großen Baum verfangen.«
Azamis Wimpern flatterten und zogen Sams Aufmerksamkeit auf sich. Er hätte beinah einen Arm ausgestreckt, weil er ihre Hand halten wollte, aber sie hatte mehrfach erwähnt, dass sie in der Öffentlichkeit keine Zuneigung zeigte.
»Sie sind eingeschlafen, während Sie mit einem Fallschirm abgesprungen sind?«, fragte sie, sichtlich verunsichert, ob die beiden scherzten oder nicht.
Ian schüttelte den Kopf. »Nein, keinesfalls. Wind kam auf, und ein heftiger Windstoß hat mich direkt in diesen Baum geweht. Gator hat allen erzählt, ich hätte geschnarcht, als er mich aus dem Flugzeug gestoßen hat. Diese ganze Episode ist nichts weiter als ein gemeines Hirngespinst. Andererseits ist unser Sam hier tatsächlich am Steuer eingeschlafen, während wir in Brasilien vor einem sehr wütenden Drogenbaron geflohen sind.«
Azami zog eine Augenbraue hoch, als sie sich zu Sam umdrehte und eine Erklärung von ihm erwartete. Ihre Augen lachten ihn an, und wieder verspürte er den unbändigen Drang, sie an sich zu ziehen und seine Arme eng um sie zu schlingen. Primitive Triebe waren nie ein Teil seiner Veranlagung gewesen, bevor sie aufgetaucht war. Jetzt sagte er sich, er würde wohl zum Höhlenmenschen. Ihr Blick richtete sich auf sein Gesicht, als wüsste sie genau, was er dachte – was wahrscheinlich der Fall war. Er grinste sie an.
»Das ist wahr. Ich bin tatsächlich am Steuer eingeschlafen. Wir wären fast in eine Schlucht gestürzt. Aber es gab mildernde Umstände.«
Ian wieherte vor Lachen. »Willst du jetzt etwa die Heulsusennummer abziehen? Er hatte ein klitzekleines Wehwehchen, so geringfügig, dass er vergessen hat, uns etwas davon zu sagen. Seit er damals am Steuer eingeschlafen ist, versucht er uns einzureden, das sei schuld daran gewesen.«
»Es war keine Kleinigkeit. Ich habe eine Narbe. Von einer Messerstecherei«, sagte Sam selbstgerecht.
»Du hast kaum einen Kratzer abgekriegt«, höhnte Ian. »Es war nur ein winziger Schnitt, als hättest du dich an einem Blatt Papier geschnitten.«
Sam hielt Azami seinen Arm hin, damit sie den Beweis sehen konnte – einen fünf Zentimeter langen hellen Streifen auf seiner dunklen Haut. »Der Blutverlust war enorm. Ich war geschwächt, und wir hatten seit Tagen nicht mehr geschlafen.«
»Enorm?«, wiederholte Ian. »Ha! Zwei Tropfen Blut sind kein enormer Blutverlust, Springer. Wir hatten seit Tagen nicht mehr geschlafen, das ist wahr, aber der Rest …« Er ließ seinen Satz unbeendet in der Luft hängen und schüttelte den Kopf, sah Azami an und verdrehte die Augen.
Azami untersuchte die kaum vorhandene Narbe. Das Messer hatte nicht viel Schaden angerichtet, und Sam wusste, dass sie Spuren von wesentlich schlimmeren Wunden gesehen hatte. »Hattest du getrunken?«, fragte sie mit unschuldigen, weit aufgerissenen Augen.
Sam stöhnte. »Hör nicht auf ihn. Ich hatte nichts getrunken, aber wir waren einmal auf einer Rettungsmission im südlichen Pazifik, und mitten in einem Orkan beschließt unser guter Ian, dass er unbedingt in diese Bar gehen muss …«
»Oh, nein«, fiel ihm Ian ins Wort und lachte schallend. »Diese Geschichte wirst du ihr nicht erzählen.«
»So war es doch, Mann. Er hat uns übrigens alle dazu gebracht, mit ihm reinzugehen und diesen Drecksack mitzunehmen, den wir gerettet hatten«, erzählte Sam Azami. »Es kam ein Punkt, an dem die Bar derart überschwemmt war, dass wir durch die Fenster aussteigen und aufs Dach klettern mussten. Ich schwöre es, das Krokodil, das direkt auf uns zukam, war riesengroß. Wir sind um unser Leben gerannt, haben uns halbtot gelacht und dabei versucht, diesen bescheuerten Franzosen am Leben zu erhalten.«
»Du hast gesagt, wir sollten ihn den Krokodilen vorwerfen«, rief ihm Ian ins Gedächtnis zurück.
»Was war das Besondere an der Bar, in die ihr unbedingt gehen musstet?«, fragte Azami, die sichtlich verwirrt war.
»Die Krokodile«, sagten Sam und Ian gleichzeitig. Sie brachen in schallendes Gelächter aus.
Azami schüttelte den Kopf. »Ihr beide könntet verrückt sein. Denkt ihr euch diese Geschichten aus?«
»Ryland wünschte, wir dächten sie uns aus«, sagte Sam. »Jetzt mal ganz im Ernst: Wir schleichen uns also inmitten einer vom Feind besetzten Ortschaft an dieser Bar vorbei, und draußen hängt dieses Schild, auf dem steht: Wer mit den Krokodilen schwimmt und überlebt, bekommt in Zukunft alle Getränke umsonst. Der Wind heult, und die Bäume biegen sich, bis sie fast abbrechen, und wir schleppen diesen Drecksack … äh … den von uns Befreiten, weil der Kerl nicht mal bereit ist zu rennen, um sein eigenes Leben zu retten …«
»Der Mann wog eine ganze Menge«, unterbrach ihn Ian. »Er war entführt und zwei Jahre lang festgehalten worden, um ein Lösegeld zu erpressen. Ich vermute, er hatte beschlossen, für seine Kidnapper zu kochen, damit sie ihn nicht schlecht behandelten. Als wir kamen, um ihn rauszuholen, hat er sich in einem Wandschrank versteckt, weil er nicht raus in den Regen wollte. Er war die größte Nervensäge, die man sich vorstellen kann«, fuhr Ian fort und lachte bei der Erinnerung daran. »Jedes Mal, wenn wir im Schlamm ausgerutscht und zu Boden gegangen sind, hat er schrill gekreischt.«
»Der Fluss hatte die Ortschaft überschwemmt«, fügte Sam hinzu. »Wir sind durch Wasser gewatet, das mehr als einen halben Meter hoch war. Wir sind alle mit Schlamm überzogen, und er zappelt und kreischt mit dieser schrillen Stimme, und dann entdeckt Ian dieses Schild, das draußen an der Bar hängt.«
Beide Männer wandten sich der Tür zu, und Azami wich in die Schatten zurück, als ein weiterer Mann eintrat. Tucker Addison blieb in der Tür stehen und sah sie alle ernst an.
»Was geht hier vor?«, erkundigte er sich. »Ihr klingt wie ein Rudel Hyänen, und dabei seid ihr nur zu zweit.«
Sams Eingeweide verkrampften sich, und das Gelächter ebbte ab. Die anderen konnten Azamis Energien ebenso wenig entdecken, wie es Whitney gelungen war, und doch war sie eindeutig ein Schattengänger.
»Sam hatte die großartige Idee, Ms. Yoshiie zu erzählen, wie wir den Franzosen ›gerettet‹ haben und mit den Krokodilen geschwommen sind«, erklärte Ian. »Natürlich schiebt er mir die ganze Geschichte in die Schuhe, und dabei war er genauso neugierig wie ich.«
Tucker wandte seinen Blick abrupt den Schatten zu und suchte den Raum ab. Sam widerstand dem Drang, Azami schützend an sich zu ziehen. Wie jeder Schattengänger war auch Tucker das reinste Raubtier, äußerst geschickt und gefährlich. Zwar brauchte Azami seinen Schutz ebenso wenig wie Tucker, doch er verspürte trotzdem den Drang.
Sie bewegte sich vorsätzlich, um Tuckers Blick auf sich zu lenken. Ihre langen Wimpern waren leicht gesenkt und ließen sie täuschend unschuldig und sehr gesittet wirken. »Diese Männer erzählen mir eine Geschichte, die ich nur mit großer Mühe glauben kann.«
Ihre Stimme war zart und melodisch und hörte sich angenehm an, ein Hinweis auf ihre Herkunft. Lange Strähnen hatten sich auf raffinierte Weise aus ihrem sorgsam hochgesteckten Haar gelöst. Plötzlich ging Sam auf, dass diese wunderschönen langen, dekorativen Haarnadeln in ihrer kunstvollen Frisur in Wirklichkeit tödliche Waffen waren. Ihre dichten Ponyfransen lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre unglaublichen Augen und ihre zarten Gesichtszüge. Sie sah so zerbrechlich aus und überhaupt nicht nach der Samuraikriegerin, die sie, wie er sehr wohl wusste, war – und genau darin lag ihre größte Stärke.
Tucker entspannte sich sichtlich, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er das Gespräch wieder aufgriff. »Tatsächlich ist diese Geschichte nur allzu wahr. Sam und Ian sind wirklich so verrückt. Na ja, sie waren nicht die Einzigen. Gator wollte auch reingehen, aber jeder weiß, dass er komplett wahnsinnig ist. Er hat zu viel Zeit in dem Sumpf verbracht, in dem er aufgewachsen ist.«
»Du bist auch reingegangen«, hob Sam hervor. »Und ich wollte gar nicht reingehen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte Ian doch nicht allein reingehen lassen.«
Tucker schüttelte den Kopf. »Du hattest den Franzosen verflucht satt, und du wolltest ihn in die Grube mit den Krokodilen werfen. Er hat sich ernsthaft gewehrt, in diesen Sturm hinauszugehen. Wir haben ihn für nichts weiter als einen erbärmlichen Feigling gehalten.«
Sam zuckte die Achseln. »Später haben wir herausgefunden, dass er sein Land verraten hat. Er hat der Terrorzelle Informationen zugespielt, die dabei geholfen haben, in Paris drei Bomben gleichzeitig hochgehen zu lassen, und daher hatte er gute Gründe, unser Vorankommen zu behindern. Uns war nicht bekannt, dass wir ihn nach Frankreich zurückbringen, damit er vor Gericht gestellt und aufgrund ausreichender Beweise verurteilt wird. Wir dachten, wir riskieren unser Leben, um ihn rauszuholen, und er setzt sich gegen uns zur Wehr. An seinem Benehmen hätten wir gleich erkennen sollen, dass er gar nicht gerettet werden wollte. Wir hielten ihn einfach nur für eine Nervensäge.«
»Wenn ihr solche Schwierigkeiten mit ihm hattet, weshalb hättet ihr dann auf dem Weg eine Bar besuchen wollen?«, fragte Azami leicht befremdet.
Tucker schnaubte. »Ian hat gesagt, wir gingen rein, um uns die Krokodile anzusehen, und Gator hat gesagt, wir gingen rein, weil wir die Drinks umsonst kriegen. Sam wollte den Franzosen den Krokodilen vorwerfen. Jedenfalls schaue ich über meine Schulter, und da steigen sie gerade durch das Fenster ein. Die Scheibe war rausgebrochen, und auf dem Boden stand das Wasser einen guten halben Meter hoch. Ich konnte sie da nicht einfach reingehen lassen, ohne ihnen Rückendeckung zu geben. Und ich wollte ganz bestimmt nicht Ryland erzählen müssen, der ›Gefangene‹, den wir gerettet hatten, sei den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen worden.«
Ian lachte schallend. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich durch dieses Fenster geschoben, und da die Öffnung etwas zu klein für dich war, hast du die Fensterbank rausgetreten.«
Sam nickte. »Richtig, genauso war es, und ich habe die feige Memme durch die Öffnung gestoßen und bin erst nach euch beiden reingeklettert.«
Azami fing an zu lachen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Mr. Miller dazu zu sagen hatte, als er es rausgefunden hat.«
Die drei Männer tauschten Blicke miteinander und brüllten vor Lachen. »Er hat gesagt: ›Reicht mir eine Flasche Scotch raus‹, als er zurückkam und seinen Kopf durch das Fenster reingestreckt hat.«
Azami sah sie ungläubig an. »Dann habt ihr also alle die Notwendigkeit gesehen, inmitten einer Rettungsmission während einer Überschwemmung mit Orkanwinden in eine Bar mit Krokodilen zu gehen?«
»Nun ja …«, sagte Tucker ausweichend.
Azamis Blick richtete sich kurz auf die Tür, und mit einer subtilen, kaum wahrnehmbaren Bewegung verschwand sie wieder in den Schatten. Es wirkte eher, als hätte sich das Licht verändert, als so, als hätte sie ein echtes Bedürfnis, sich zu verbergen, doch Sam bewunderte sie unwillkürlich für ihre Geschicklichkeit. Sie hielt sich in einem Raum voller Schattengänger auf, und doch verschwand sie ohne das kleinste Rascheln von Kleidungsstücken, die eine der Wände streiften, vor ihren Augen. Kein Schritt war zu hören, nicht der geringste Laut. Im einen Moment war sie noch da und im nächsten fort.
»Wir hatten auch noch ›Smoke‹ dabei«, sagte Sam und hob seinen Blick zur Tür und dem Mann, der die Türöffnung ausfüllte. »Er wollte nichts von diesen Krokodilen wissen.«
Jonas Harper trat ein. »Immer die Stimme der Vernunft, Ma’am. Einer muss das ja sein, bei all den Verrückten in dieser Truppe.«
Er hatte den Satz noch nicht beendet, als die anderen Männer schon wieder zu lachen begannen. Sam fiel auf, dass Jonas direkt in die Schatten blickte, in denen Azami verschwunden war. Er hatte nicht nur ihre Stimme gehört, sondern wusste, wo sie sich verbarg. Aus irgendeinem Grund ließ der Umstand, dass Jonas sie sehen konnte, sein Herz stolpern. Er hatte den winzigen Stich nicht erwartet, den ihm die Eifersucht versetzte, weil es einem anderen Mann gelungen war, Azami in den Schatten zu entdecken. Er hatte sich an die Vorstellung gewöhnt, der Einzige zu sein, der sah, was für eine wahrhaft tödliche Waffe sie war.
Azamis Wärme strömte in sein Inneres, beschwichtigend und zugleich belustigt. Er sieht im Dunkeln, und ich bin ein Teil des Dunkels. Seine Augen glühen wie die eines Tieres auf der Jagd.
Whitney hat an unserer DNA rumgepfuscht. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er Smoke DNA von einer Großkatze oder einem Wolf beigemischt hat.
»Jemand muss die Stimme der Vernunft sein«, sagte Azami laut, »aber wenn ich das hämische Gelächter Ihrer Teamkameraden höre, bin ich nicht sicher, dass Sie diese Person sind, Sir.«
Jonas bedachte die anderen mit einem langen, finsteren, ermahnenden Blick. »Ich habe jedem Einzelnen von euch gesagt, dass ihr verrückt seid, in diese Bar zu gehen. Die Bäume um die Bar herum haben sich gebogen, als würden sie jeden Moment auf halber Höhe abbrechen. Ich habe euch gesagt, sie sähen aus wie Gottesanbeterinnen, die sich gleich auf ihre Beute stürzen. Und hatte ich recht?«
Tucker lachte. »Du hattest verdammt recht.« Er stieß Sam spielerisch mit dem Ellbogen an. »Diese Bäume sind auf das Gebäude gestürzt und haben die Wand und einen Teil des Dachs zertrümmert, während wir drin waren.«
»Ich habe den Franzosen fallen lassen«, bestätigte Sam lachend. »Auf seinen Hintern.«
»Die Bäume haben die Absperrung zertrümmert, hinter der die Krokodile waren, und diese Riesenviecher kommen mitten durch die Bar direkt auf uns zugeschwommen«, sagte Tucker. »So große Krokodile hatte ich noch nie gesehen. Sam und ich wurden durch die Äste der Bäume unter die Wasseroberfläche gerissen, und diese Krokodile sind gemeinsam mit uns allen ungehindert in dem Wasser herumgeschwommen.«
»Und unser Jonas hier«, fuhr Ian fort, »der zieht sich durch die Öffnung in der Wand rein und sitzt mit seinem Messer zwischen den Zähnen in der Fensteröffnung, vollführt irgendeine Art Zirkusmanöver, und im nächsten Moment hängt er mit dem Kopf nach unten von der Decke und sagt uns, wir sollten schleunigst verschwinden, er gäbe uns Rückendeckung.«
»Er sah natürlich aus wie ein Schimpanse, der an einem Kronleuchter schaukelt, aber in Wirklichkeit waren es nur ein paar Glühbirnen an Ketten, die gebündelt von der Decke hingen«, fügte Sam hinzu und krümmte sich vor Lachen. »Ich blicke durch das Wasser auf und habe diesen schweren Ast auf meiner Brust, und ich kann sehen, dass Jonas wie ein Verrückter direkt über dem Wasser schaukelt.«
»Und dann ist der verdammte Haken aus der Decke gerissen.« Jonas nahm den Faden der Geschichte auf, weil Ian zu sehr lachte, um weiterzureden. »Ich bin auf dem Franzosen gelandet, der wie am Spieß geschrien hat. Sam war mir keine Hilfe. Die Krokodile sind herumgeschwommen, als seien sie verwirrt, immer im Kreis. Sie sahen aus wie prähistorische Dinosaurier, verflucht gruselig.«
Sam fühlte die Energien, die nur der Auftakt zum Erscheinen eines weiteren Schattengängers sein konnten. Rasch nahm er die Geschichte lachend wieder auf. »Da plötzlich kann Gator nicht länger an sich halten, und er fängt an zu heulen wie ein Gespenst. Er hat eine Art zeremoniellen Regentanz der Cajuns aus dem Bayou oder so was hingelegt …«
»Ich wusste doch, dass ihr hier seid und Lügen über mich verbreitet«, sagte Gator. »Ich konnte euch zwei Häuser weiter lachen hören. Ihr werdet noch die Toten aufwecken. Ma’am, glauben Sie bloß keine einzige der Lügen, die diese Witzbolde Ihnen erzählen. An dem Tag habe ich sie alle gerettet. Es war unsere dunkelste Stunde, gigantische Krokodile sind in dem Raum herumgeschwommen, aus allen Richtungen kam Wasser hereingeströmt, Bäume sind auf uns gestürzt, und die ganze Horde reißt Schnapsflaschen an sich und planscht rum, Köder für die Krokodile.«
Azamis leises Lachen war reine Musik. Sam war ziemlich sicher, dass er bereits süchtig nach dem Klang ihrer Stimme war. Dieser gedämpfte, lockende Tonfall war so angenehm, dass er ihm für alle Zeiten hätte lauschen können.
»Ich weiß nicht, was für ein Zeremoniell der Regentanz der Cajuns aus dem Bayou ist, aber weshalb hätten Sie ein solches Zeremoniell vollführen wollen, wenn es ohnehin schon geregnet hat?«, fragte sie.
»Genau«, sagte Tucker. »Das haben wir ihn später alle gefragt, und er beharrt ganz einfach darauf, er hätte uns dadurch gerettet, dass er auf dem Tresen getanzt hat und wüst im Kreis herumgewirbelt ist.«
»Ich habe euch eine Million Male gesagt, dass der Tresen nass war und dass ich ausgerutscht bin und nicht inmitten eines Orkans irgendeinen Regentanz aufgeführt habe«, protestierte Gator. »Ich kenne überhaupt keinen Regentanz.«
Gators Behauptung löste noch mehr Gelächter aus. Sam schlang einen Arm um seinen Bauch, denn er befürchtete, wenn er nicht bald aufhörte zu lachen, würden seine Wunden wieder aufreißen.
Azami schüttelte den Kopf, als sie näher zum Bett glitt und dicht neben Sam ihre schmale Hüfte an das Gestell lehnte. »Eure Mission klingt so, als hätte sie viel mehr Spaß gemacht als alles, was ich jemals getan habe.«
»Spaß?« Ian zog seine Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch. »Ma’am, Sie scheinen sich nicht über die tödliche Gefahr im Klaren zu sein, in der ich in dieser Bar geschwebt habe. Der Franzose hat versucht, mich zu ertränken, und die Krokodile haben mich umkreist, weil sie mich für ihre nächste Mahlzeit hielten.«
»Hattest du nicht gesagt, du wolltest mit den Krokodilen schwimmen?«, fragte Sam. »Wir haben es alle gehört. Und wenn ich mich recht entsinne, waren Tucker und ich diejenigen, die unter die Wasseroberfläche gepresst wurden, und du hast dich wie eine Eidechse an die Wand geklammert.«
»Ich wollte sie sehen«, verbesserte Ian ihn mit feierlichem Ernst. »Nicht mit ihnen schwimmen. Aber wisst ihr«, fügte er hinzu, und seine Stimmung hellte sich beträchtlich auf, »auf dem Schild stand, wenn man mit ihnen schwimmt und überlebt, kann man dort für den Rest seines Lebens umsonst trinken. Rein technisch gesehen, schuldet mir diese Bar Gratisgetränke, weil ich mit den Krokodilen geschwommen bin und überlebt habe.«
»Rein technisch gesehen, bist du nicht mit den Krokodilen geschwommen, Ian. Nachdem sie frei waren, hast du dir kaum noch den großen Zeh nass gemacht. Sam und ich waren diejenigen, die mit ihnen geschwommen sind«, brachte Tucker lachend hervor.
»Und wie ging es weiter?«, fragte Azami. »Wie um alles in der Welt seid ihr alle heil dort rausgekommen?«
Die Männer tauschten Blicke miteinander und lachten dann wieder.
»Tom Delaney«, sagte Sam.
»Tom Delaney«, stimmten Tucker und Ian ihm gleichzeitig zu.
»Wir nennen ihn ›Shark‹«, vertraute ihr Gator an, »den Hai.«
»Der Neue. Unser Team hatte Zuwachs bekommen, einen Neuling, der mitgekommen war, um sich einzuarbeiten, sozusagen«, erklärte Sam. »Er war schon seit einiger Zeit Schattengänger, und seine bisherigen Leistungen waren beeindruckend, aber keiner von uns hatte vorher jemals mit ihm zusammengearbeitet. Wir dachten, es sei ein unproblematischer Einsatz, den wir schnell hinter uns bringen können.«
»So einen hat es bisher noch nie gegeben«, sagte Tucker, »aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.«
»Wenn etwas schiefgehen kann«, fügte Jonas hinzu, »dann tut es das auch.«
»Wir haben also diesen Neuling dabei, dem keiner von uns so recht traut«, fuhr Sam fort. »Er ist misstrauisch. Wir sind misstrauisch. Wir denken uns alle, wir schnappen uns einfach diesen Franzosen und verschwinden schleunigst, klar? Nur fängt der Franzose an, zu schreien und sich zu wehren. Mich hat er getreten. Und Tucker hat er gebissen.«
Augenblicklich brach wieder schallendes Gelächter aus.
Tucker wirkte verletzt. »Im Ernst, Ma’am, der Biss hat wehgetan. Er war wirklich gemein. Lily hat darauf bestanden, mir eine Tetanusspritze oder so was zu geben. Mit einer Nadel.« Er erschauerte dramatisch.
»Armer Kleiner«, tröstete ihn Sam. Tucker war mehrfach verwundet worden und hatte nie auch nur gewimmert. Die Vorstellung, dass er wegen einer Spritze jammerte, war wirklich zu komisch. »Hört auf, mich andauernd zu unterbrechen. Wir waren vollkommen unbemerkt in das Haus gelangt und hatten vor, genauso unbemerkt wieder zu verschwinden. Wie Schatten. Das ist nun mal unser übliches Vorgehen. Aber dieser Franzose – und das Wetter – hatten andere Pläne. Anscheinend war er schon im letzten Jahr vor seinem Abschluss angeworben worden, und sowie er in der Regierung einen Posten hatte, der es ihm erlaubte, den Terroristen Informationen über Geld- und Waffentransporte zukommen zu lassen, nahm er die Arbeit ernsthaft auf. Soweit ich gehört habe, hat jemand Verdacht geschöpft und seinen Nachrichtenweg abgeschnitten. Daraufhin haben ihn die Terroristen ›entführt‹ und sich davon erhofft, die Regierung von der Spur abzubringen und ihn benutzen zu können, wenn Frankreich Lösegeld für ihn bezahlt. Von alldem wussten wir natürlich nichts. Wir wurden einfach nur hingeschickt, um ihn rauszuholen.«
»Dieser ausgeflippte kleine Mistkerl«, bemerkte Gator.
»Ehe wir wissen, wie uns geschieht, haben wir in ein Wespennest gestochen, und alle möglichen Leute schießen auf uns«, fuhr Sam fort.
Azami hob ihre langen Wimpern und sah Sam an. Ihre Augen lachten, aber sie waren auch herausfordernd. »Und warum seid ihr wirklich in diese Bar gegangen?«, fragte sie. »Ich glaube nämlich nicht, dass ihr das getan hättet, es sei denn, ihr hattet keine andere Wahl.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Die Männer grinsten und tauschten lange, vielsagende Blicke.
»Der kann man so leicht nichts weismachen, stimmt’s, Sam?«, fragte Ian.
Azami lächelte ihn an und wirkte so heiter und gelassen wie sonst auch. »Ihr könnt scherzen, so viel ihr wollt, aber ihr seid eindeutig Profis, und es müsste schon ein sehr zwingender Grund vorliegen, damit ihr inmitten einer Rettungsaktion während eines Orkans euer Vorhaben vorläufig aufgebt und in einer Bar, die von dem Sturm verwüstet wird, in die Falle geht.«
»Das ist wahr«, stimmte Sam ihr zu, »aber Ian hat tatsächlich das Schild gesehen, und wir waren einen Moment stehen geblieben, weil der Fluss über die Ufer getreten war und uns den Fluchtweg abgeschnitten hatte.«
»Der Franzose ist ausgebüxt«, nahm Ian den Faden auf. »Und geradewegs in diese Bar gerannt. Kugeln flogen durch die Luft, der Fluss schwoll immer mehr an, und wir mussten eine schnelle Entscheidung treffen – ob wir ihn laufen lassen oder ob wir ihn wieder an uns bringen.«
»Nein, zum Teufel, er wäre uns nicht entkommen«, sagte Sam nachdrücklich. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ihm ins Bein zu schießen. Dieser kleine Mistkerl wäre mit uns gekommen, und wenn ich ihn jeden Schritt des Weges hätte tragen müssen.«
»Wie ich sehe, hast du eine sture Ader«, bemerkte Azami.
»Ha!«, stimmte Ian ihr zu. »Sie wissen noch nicht, wovon Sie reden. Er wäre diesem Franzosen in die Bar gefolgt, ganz egal, was einer von uns gesagt hätte. Und ich konnte ihn doch nicht allein reingehen lassen.«
Gator grinste frech. »Sam hätte wirklich fast auf unseren Ausreißer geschossen, aber Ian ist durch dieses Fenster hinter ihm hergesprungen, und dann ging es erst richtig los.«
»Und ihr seid ihm natürlich alle gefolgt«, sagte Azami.
»Tja, Ma’am«, sagte Jonas. »Da drinnen gab es Schnaps und keinen, der hinter der Theke stand. Ian ist Ire. Wir mussten dafür sorgen, dass noch etwas übrig bleibt.«
»Wir waren alle mächtig durstig, nachdem wir vor all diesen Kugeln weggerannt waren, Ma’am«, fügte Gator hinzu.
»Wie seid ihr den Krokodilen entkommen? Oder sind die ein Teil euer Ausschmückungen?«, fragte Azami.
»Ausschmückungen?«, sagte Ian verblüfft. »Sie zieht unsere Geschichte in Zweifel, meine Herren. In der Bar sind Krokodile rumgeschwommen, und Gator hat auf dem Tresen getanzt. Jonas hat es fertiggebracht, auf den Franzosen zu fallen, und ich war im Wasser und in Lebensgefahr. Mir war es nicht einmal gelungen, eine Flasche guten irischen Whiskey an mich zu bringen, und ich hätte jeden Moment sterben können. Kein Ire, der etwas auf sich hält, würde sterben, ohne vorher mindestens einen Drink zu kippen.«
»Wie schrecklich«, murmelte Azami teilnahmsvoll.
Ian nickte, da ihm ihre Reaktion diesmal viel besser gefiel. »Jetzt wird Ihnen langsam der Ernst der Lage klar.« Er sah seine Teamgenossen finster an, als sie wieder in Gelächter ausbrachen.
»Erzählt mir, wer dieser Shark ist, der euch zu Hilfe kam«, hakte Azami nach.
Sam streckte einen Arm nach ihrer Hand aus und hielt mitten in der Bewegung inne. Er hatte die Genehmigung ihrer Brüder noch nicht eingeholt, und sie hatte ihm mehrfach gesagt, wie sie zu Bezeugungen von Zuneigung in der Öffentlichkeit stand. Er seufzte. Er würde die Kraft finden müssen, seine Finger selbst dann von ihr zu lassen, wenn es ihm so schien, als müsste er sie dringend berühren.
Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelte ihn an. Nur ihn ganz allein. Ihre Augen, sonst kühl und dunkel, schimmerten warm und glutvoll.
Ich möchte dich berühren. Haut an Haut. Das Eingeständnis seines geheimen Bedürfnisses gab ihm, selbst wenn es nur ein Flüstern in ihrem Kopf war, das Gefühl, ihr näher zu sein.
Azami bewegte sich wieder ganz subtil. Ihr nackter Arm streifte nur ganz leicht seinen Arm, und doch spürte er die Berührung bis in die Knochen, als hätte sie ihn als ihr Eigentum gebrandmarkt.
»Wir nennen ihn Shark, weil er sich im Wasser gut hält, Ma’am«, sagte Tucker.
Azami lächelte sie alle an und lehnte sich mit einer so natürlichen Bewegung an das Bett, dass Sam sicher war, keiner würde sich Gedanken darüber machen. »Genug damit, dass Sie mich mit ›Ma’am‹ ansprechen. Meine Brüder und ich nehmen keinen Anstoß daran, wenn wir mit unseren Vornamen angesprochen werden. Das ist persönlicher, und wir empfinden es nicht als kränkend. Nennen Sie mich bitte Azami; ich werde es als eine Ehre ansehen.«
Sam starrte sie gegen seinen Willen an. Ihre Worte klangen so gesittet und reizend, ihre langen Wimpern verschleierten ihre Augen, und ihre Lippen waren faszinierend und zugleich verlockend, wenn sie sprach.
Tucker nickte. »Azami, in Ordnung. Shark heißt mit richtigem Namen Tom. Er hatte sich unserem Team erst vor kurzer Zeit angeschlossen, und das war, wie wir bereits sagten, sein erster Einsatz mit uns. Wir waren noch dabei, uns vorsichtig an ihn heranzutasten und ihn zu beschnuppern. Er hat keinen Moment gezögert. Er ist in dieses Wasser gesprungen und unter Wasser auf Sam und mich zugeschwommen. Ian hat wie verrückt herumgeplanscht, und Gator hat sein wildes Cajun-Ding abgezogen, um die Aufmerksamkeit der Krokodile auf sich zu lenken, während Shark damit beschäftigt war, diesen Baum von ihnen runterzuziehen. Er musste unter Wasser für uns atmen. Ich bin gut im Wasser und kann lange unten bleiben, aber das ist gar nichts im Vergleich zu Tom. Er hatte alle Hände voll zu tun. Musste uns mit Luft versorgen, an dem Baum zerren und uns mit mehr Luft versorgen, bis er das blöde Teil von uns runtergezogen hatte. Ian hat immer noch rumgeplanscht, und Gator hat weiterhin seine verrückten Possen abgezogen, um sie zu ködern, und Jonas und Rye haben über Wasser geholfen, den Baum hochzuheben.«
Azami kniff ihre Lippen fest zusammen und sah Sam wortlos an. Sie wusste trotz all der Scherze und des Gelächters, wie gefährlich die Situation wirklich gewesen war und wie dicht Sam und Tucker davorgestanden hatten, ums Leben zu kommen.
Das ist die Form von Arbeit, die dir gefällt?
Sam nickte bedächtig. Stört dich das?
»Was ist aus dem Franzosen geworden? Ist er entkommen?«, fragte Azami die anderen.
Ich bin Samurai. Ich habe ein ehrenwertes Leben gewählt. Da ist es nur angemessen, dass der Mann, den ich für ein gemeinsames Leben in Betracht ziehe, ein ebensolches Leben wählt. Ich fürchte den Tod nicht, und du fürchtest ihn offensichtlich auch nicht. Mein Vater hat mich gelehrt, niemals den Tod zu fürchten, sondern mein Leben in vollen Zügen auszukosten und jeden Moment zu genießen, als könnte es mein letzter sein. Als Partner kommt für mich nur jemand in Frage, der sein Leben auch so lebt.
»Nein, zum Teufel, er ist nicht entkommen«, sagte Ian. »Wir haben ihn mit uns zurückgeschleift und ihn den Franzosen übergeben. Die waren sehr froh, ihn zu kriegen, und ich glaube, sie haben ihn wegen Landesverrats verurteilt. Was auch immer sie über ihn verhängt haben, er hat es verdient.«
Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, Azami, dass wir zusammengehören. Er brauchte sie nicht mehr zu berühren, um zu wissen, dass sie sich auf ihn eingelassen hatte. Ihre Wärme war in ihm und füllte die einsamen Orte aus.
Er hatte auf der Straße gelebt und sich mühsam über Wasser gehalten, immer einen Schritt vor den Banden und den Pädophilen, bis er versucht hatte, einen Wagen zu stehlen, mit dem Gedanken im Hinterkopf, aus der Stadt zu verschwinden. Er hatte zu der Zeit keinen Plan gehabt, nur das dringende Bedürfnis, von dort, wo er war, fortzukommen. General Ranier hatte ihm gesagt, es sei Vorsehung, dass er versucht hatte, ausgerechnet Raniers Wagen zu stehlen, denn das hatte es ihnen erlaubt, einander zu begegnen. Insgeheim war Sam ganz egal, was es war. Für ihn zählte nur, dass sie einander begegnet waren und dass der General ihm zu einer guten Ausbildung verholfen und seinem Leben eine Richtung gegeben hatte. Und jetzt war ihm Azami begegnet. Sie war sein Leitstern, nach dem er sich ausrichten würde, und der Weg erschien ihm sehr klar.
»Oh, oh«, flüsterte Ian übertrieben laut. »Jetzt fliegen wir auf.«
Azami rückte noch näher zu Sam und brachte ihren Körper schützend zwischen ihn und die Tür. Er musste lächeln. Seine Frau würde angesichts einer Bedrohung nicht friedlich in einer Ecke sitzen.
»Es ist Ryland«, sagte er leise.
Sie warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu. Die Bewegung war anmutig, ein Rascheln von Seide und Sünde, Verlockung in Form von langen Wimpern und heiterer Gelassenheit, hinter der sich glühende Leidenschaft verbarg. Sein Herz schlug heftig. Azami lächelte ihn an. Es war ein intimes Lächeln, das nur ihm zugedacht war und das genügte, um ihm zu sagen, dass sie ihm gehörte, ganz und gar ihm.
Ryland füllte den Türrahmen mit seinen breiten Schultern fast vollständig aus. In seinen Armen schmiegte sich Daniel an ihn, hellwach, intelligent und nur zu gern bereit, sich dem Spaß anzuschließen, den all seine Onkel miteinander hatten.
»Glaubt ihr, ihr macht genug Lärm?«, schnauzte Ryland die Männer an. »Es ist mitten in der Nacht, falls das keiner von euch bemerkt hat.«
»Haben wir Daniel geweckt?«, fragte Ian, der augenblicklich besorgt war. Er streckte seine Arme nach dem Jungen aus. »Komm her, kleiner Mann.«
Daniel sah an Ian vorbei, und sein Blick richtete sich auf Azami. Er lächelte strahlend, hakte seine Zeigefinger ineinander und bildete damit in Zeichensprache das Wort für »Freund«. Er streckte ihr seine Arme entgegen und stieß sich fast von Ryland ab.
Azami nahm den Jungen und schmiegte ihn an sich. »Hallo, mein kleiner Freund. Haben wir dich aufgeweckt? Deine Onkel haben mir gerade spannende Geschichten über ihre früheren Abenteuer erzählt.« Sie sprach mit ihm, als sei er ein Erwachsener, kein Kleinkind, und sie sah ihm in die Augen, während sie ihn eng an sich hielt.
Sam konnte sie sich mit ihrem gemeinsamen Kind ausmalen. Sie wäre mit Sicherheit eine fürsorgliche Mutter, die ihr Kind beschützen würde; es war schon daran zu erkennen, wie sie Daniel hielt.
»Ihr kennt euch bereits?«, fragte Ryland.
Sein Tonfall brachte Sam auf. Er setzte sich aufrechter hin und schwang für alle Fälle seine Beine über die Bettkante, auch wenn er nicht sicher war, wozu er das tat. Rylands Stimme hatte mehr als argwöhnisch geklungen, regelrecht anklagend. Dazu kam noch, dass sein Team auf Alarmbereitschaft geschaltet hatte. Hier ging es um Daniel, das Familienmitglied, das sie mehr als jedes andere beschützten, und eine Fremde war inmitten von ihnen an ihn herangekommen.
»Daniel hat uns alles über seinen neuen Freund erzählt. Wir dachten, er hätte einen imaginären Spielkameraden erfunden.« Rylands Blick richtete sich auf Ians Gesicht. Ian – Azamis Wächter. Wenn sie Daniel getroffen hatte, wo hatte diese Begegnung dann stattgefunden, und wie war es dazu gekommen?
Ian wand sich unbehaglich. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie gerade noch alle mit Azami gelacht hatten; jetzt sah jeder Mann sie an, als sei sie der Feind. Sam kam auf die Füße und lehnte sich kurz an das Bett, ehe er wieder stabil stand.
Diesmal war Rylands Anschuldigung unmissverständlich, und Sam konnte ihn verstehen. Lily hatte erschrocken auf die Vorstellung reagiert, Daniel bräuchte einen imaginären Spielkameraden. Daniel musste streng vor Außenstehenden beschützt werden, und doch hatte das Kind Azami wie eine alte Freundin begrüßt, was bedeutete, dass sie einander schon mehrfach getroffen hatten. Daniel war Fremden gegenüber von Natur aus argwöhnisch.
»Er ist ein wunderbarer Junge und so aufgeweckt«, sagte Azami, als Daniel sich an sie kuschelte. Sie wiegte ihn behutsam. »Er ist in der ersten Nacht in mein Zimmer gekommen. Ich habe ein leises Geräusch im Lüftungsschacht gehört, und eine Schraube ist auf den Boden gefallen. Als ich aufgeblickt habe, hat er lachend auf mich hinuntergeschaut. Er war ziemlich neugierig, weil Sie Besuch hatten, den Sie ihm nicht vorgestellt haben. Ich habe ihm erklärt, nicht alle Fremden seien gute Menschen, manche könnten ihm gefährlich werden und deshalb beschützten Sie ihn. Er beherrscht die Zeichensprache recht gut.«
Azami erhob ihre Stimme nicht und erweckte auch nicht den Eindruck, als nähme sie die gesteigerte Anspannung im Raum wahr. Sie wirkte entspannt, und ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem Kleinkind, doch Sam ließ sich nicht im Mindesten davon täuschen. Sie war eine Kraft, die man nicht unterschätzen durfte, und aus irgendeinem Grund fühlten seine Teamkameraden ihre Energien nicht so deutlich wie er. Das bereitete ihm weiterhin Sorgen.
Lange Zeit herrschte Schweigen. Niemand hatte diese Erklärung erwartet, aber es hätte sie nicht wundern sollen. Daniel war eindeutig ein Entfesselungskünstler. Er konnte von überall entkommen, und er mochte schmale Ritzen und benutzte Werkzeuge bereits wie ein Profi.
Ryland sah seinen Sohn finster an. »Du bist ins Schlafzimmer unseres Gastes gegangen, Daniel? Hältst du das etwa für ein angemessenes Benehmen?« Er seufzte, während er das sagte.
Daniel schüttelte den Kopf, schmiegte sich enger an Azami und antwortete seinem Vater in Zeichensprache.
»Mir ist egal, dass es sie nicht gestört hat.« Rylands Stimme klang mürrisch. »Sie ist unser Gast. Ihr Schlafzimmer ist uns heilig, es ist ihr Zufluchtsort. Dort dringen wir nicht ein. Hast du verstanden?«
Daniel nickte.
»Außerdem ist es gefährlich für dich, ohne unser Wissen Fremde zu besuchen. Dafür wirst du mal eine Auszeit nehmen müssen.« Jetzt klang Rylands Stimme noch strenger. Daniels Gesicht verzog sich, und Tränen traten in seine Augen.
Die Männer sahen einander bedrückt an. Keiner von ihnen mochte es, wenn Daniel weinte, und da er das genau wusste, konnte er sie mühelos manipulieren, wenn er schluchzend auf seinem kleinen Stuhl saß.
Azamis subtile Bewegung brachte sie in Sams schützenden Arm. Daniel blickte mit bebenden Lippen zu ihm auf. Sam beugte sich hinunter und drückte dem Jungen einen zarten Kuss auf den Haarschopf.
»Was bedeutet Auszeit?«, fragte Azami. Ihre Stimme war sanfter denn je, doch Sam fühlte, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufstellten. Offensichtlich gefiel ihr die Idee nicht, dass der Junge bestraft werden würde.
»Daniel sitzt zwei Minuten lang auf einem Stuhl«, erklärte Sam hastig.
Daniel erkannte daran, wie schützend sie ihn in ihren Armen hielt, dass er in Azami eine Verbündete hatte. Er schluchzte leise und schmiegte sein Gesicht an ihre Schulter.
»Ihr bindet ihn an einen Stuhl?« Azami blickte finster zu Sam auf.
Ian brach in schallendes Gelächter aus. »Wenn man versuchen würde, diesen Jungen an einen Stuhl zu binden, würde Mama Bär mit Zähnen und Klauen auf einen losgehen.«
»Und mit einem Schießgewehr«, fügte Ryland hinzu. »Ich weiß nicht, wie Sie das in Japan handhaben, aber wir binden unsere Kinder nicht an Stühlen fest. Er sitzt auf dem Stuhl, weil wir ihm sagen, dass er sitzen bleiben soll. Das ist ungefährlich, und es tut nicht weh. Er mag die Isolation nicht und versteht, dass unartiges Benehmen Folgen hat. In dem Fall hat er außerdem auch noch gegen eine Sicherheitsvorschrift verstoßen.«
»Was passiert, wenn er von dem Stuhl aufsteht?«, fragte Azami. »Bevor die zwei Minuten abgelaufen sind?«
»Er wird wieder auf den Stuhl gesetzt, und so geht es den ganzen Tag weiter, wenn es nötig ist«, sagte Ryland. »Daniel großzuziehen erfordert nicht nur Liebe, sondern auch Geduld.« Er sah sich im Zimmer um. »Ich glaube, es erfordert uns alle. Wir arbeiten zusammen. Offenbar ist uns ein grober Schnitzer unterlaufen. Es tut mir leid, dass er Sie in Ihrer ersten Nacht bei uns gestört hat. Ich danke Ihnen für Ihre Nachsicht.«
»Ich schlafe nachts selten. Ich musste mich vergewissern, dass meine Brüder in Sicherheit waren und alles hatten, was sie brauchten. Mir war wohler zumute, als ich gesehen habe, dass auch ihnen Wächter zugeteilt worden waren.«
Ian musterte sie finster. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ihr Zimmer in der Nacht verlassen haben?«
»Ja, selbstverständlich. Das Baby musste ins Bett zurückgebracht werden. Ich hatte schließlich nicht vor, es wieder in den Lüftungsschacht zu schieben und zu hoffen, dass der Kleine unbeschadet den Rückweg in sein Zimmer schafft«, sagte Azami.
»Das ist ausgeschlossen«, stritt Ian ab. »Ich habe mich keinen Moment von der Tür entfernt. Wirklich nicht, Rye. Ich bin weder heute Nacht noch in einer der letzten Nächte eingeschlafen.«
Ryland richtete seinen stechenden Blick auf Azami und erwartete eine Erklärung von ihr.
»Ihr Sohn ist ein extrem intelligentes und wissbegieriges Kind«, sagte Azami. »Und er ist sehr talentiert. Vielleicht sogar zu talentiert für sein Alter.«
Ryland streckte die Arme aus und nahm ihr Daniel ab. »Was wollen Sie damit sagen?«
Rylands Tonfall war so angriffslustig, dass sich Sam die Haare sträubten. »Sie wollte gar nichts damit sagen«, fauchte er, ehe er die Worte zurückhalten konnte.
Rylands Blick richtete sich abrupt auf sein Gesicht.
»Sir«, sagte Azami seelenruhig. »Ihr Sohn schwebt in der größtmöglichen Gefahr, und diese Gefahr droht ihm nicht von jemandem außerhalb dieses Geländes, sondern von ihm selbst. Wie Sam und ich beherrscht auch er die Kunst der Teleportation.«