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Der weiße Vogel durchquerte den nassen Himmel. Tief unter ihm schlugen Wellen krachend gegen die Felsen, Gischt sprühte auf und griff nach der kleinen weißen Taube, die mit einem funkelnden Gegenstand in ihrem Schnabel dahinflog.
»Jessie, raus aus den Federn«, rief Tara und riss Jessica mitten aus ihrem schönen Traum heraus. »Heute ist Heiligabend, du kannst nicht einfach im Bett bleiben!«
Jessica drehte sich mit einem kleinen Stöhnen um und zog sich die Decke über den Kopf. »Geh weg, ich stehe nie wieder auf.«
Sie würde sich vor dem Heiligen Abend drücken. Sie wollte die Enttäuschung auf den Gesichtern der Zwillinge nicht sehen. Sie wollte Dillon nicht gegenübertreten. Sie hatte ihn gesehen, als die Polizei Pauls Leiche abtransportiert hatte und Dillon ihnen erzählt hatte, was passiert war. Er hatte verloren gewirkt, als seien ihm Herz und Seele aus dem Leib gerissen worden. Die Reporter waren brutal gewesen; in Scharen waren sie ins Krankenhaus gestürmt und hatten auf der Polizeiwache nahezu einen Aufstand angezettelt. So viele Fotos, so viele Mikrofone, die vor ihn hingehalten wurden. Es musste ein Alptraum für ihn gewesen sein. Für sie war es schon schrecklich genug gewesen. Die Polizei hatte die Aufnahme, die Jessica gemacht hatte, sowie Brendas und Jessicas Aussagen, die Dillons Angaben bestätigten. Die Leute von der Spurensicherung waren da gewesen und wieder gegangen. Paul war durch seine eigene Hand gestorben. Das sagten alle. In gegenseitigem Einvernehmen behielten sie ihr Wissen über die Erscheinung für sich. Es bestand keinerlei Notwendigkeit für zusätzliche Komplikationen. Die Polizei und die Zeitungen hatten ihre Geschichte. Und wer hätte ihnen schon geglaubt?
»Also wirklich, Jessie, steh jetzt auf.« Tara zog an ihrer Decke.
»Ich sorge dafür, dass sie aufsteht«, sagte Dillon sanft zu seiner Tochter. »Du spielst jetzt die Gastgeberin,Tara. Erzähl jedem deine Weihnachtsgeschichte. Heute Abend brauchen wir alle eine wohltuende Geschichte. Und Brian hat ein ganz besonderes Festmahl für uns zubereitet. Ich glaube, es gibt Pfannkuchen.«
Tara kicherte, als ihr Vater sie zur Tür brachte. »Doch nicht etwa seine berühmten Pfannkuchen! Ich bin echt schockiert.« Sie streckte sich, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben, als sie das Zimmer verließ.
Jessica hörte, wie die Tür energisch geschlossen und der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Ein geheimnisvolles Rauschen erklang und dann wurde das Zimmer von Musik durchflutet. Von wunderschönen sanften Klängen und der anschwellenden Leidenschaft des Songs, an dem sie und Dillon so hart gearbeitet hatten. Sie blinzelte gegen die Tränen an und setzte sich auf, als er das Zimmer durchquerte und sich auf die Bettkante setzte. Das Licht war ausgeschaltet und es war dunkel im Zimmer; nur die Mondsichel sorgte für einen silbernen Schimmer.
Jessica zog die Knie an und legte ihr Kinn darauf. »Und was jetzt, Dillon?«, fragte sie mit ruhiger Stimme, auf das Schlimmste gefasst und auf seine Ablehnung vorbereitet. Er hatte seit Tagen nicht mehr mit ihr gesprochen und war nicht in ihre Nähe gekommen. Die meiste Zeit hatte er auf dem Festland verbracht.
Dillon berührte ihr Kinn, Haut auf Haut. Sie merkte jetzt erst, dass er seine Handschuhe nicht trug. »Es ist Heiligabend, wir warten auf unser Wunder«, sagte er sanft zu ihr. »Erzähl mir bloß nicht, du hättest nachdem du die ganze Zeit davon überzeugt warst, plötzlich eine Glaubenskrise. « Sein Daumen strich über ihr Kinn, langsam und sinnlich.
Jessica fuhr sich mit einer zitternden Hand durchs Haar. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Dillon. Ich fühle mich vollkommen taub.« Das stimmte nicht ganz. Wenn sie ihn ansah, erwachte alles in ihr zum Leben. Glut strömte durch ihren Körper, während ihr Herz einen Salto schlug und zahllose Schmetterlinge in ihrer Magengrube mit den Flügeln flatterten. »Ich dachte, nach allem, was passiert ist …« Ganz gleich, was sie sagte, es würde ihm wehtun. Wie konnte sie zugeben, dass sie fürchtete, er würde sich von ihr,Trevor und Tara zurückziehen?
Dillons Lächeln war unglaublich zärtlich. »Du hast doch nicht wirklich gedacht, ich sei so unbeschreiblich dumm, dich und die Kinder wieder fortzuschicken, oder? Ich hätte dich nicht verdient, Jess, wenn ich auf derart idiotische Gedanken gekommen wäre. Ich weiß auch so nicht, ob ich dich verdient habe, aber du hast das Angebot gemacht, und ich halte mit beiden Händen daran fest.« Er rieb sich den Nasensteg und wirkte plötzlich verletzlich. »Ich habe in meinem Zimmer gesessen und nachgedacht, über Verrat und Betrug und auch darüber, dass mich das Leben übergangen hat und ich es zugelassen habe. Ich habe darüber nachgedacht, was Mut bedeutet. Don hat Mut bewiesen, als er zu mir gekommen ist, um mir zu sagen, was er getan hatte, obwohl er nicht musste. Er hatte den Mut zu riskieren, dass er aus der Band rausgeworfen oder vielleicht sogar verhaftet wird. Brenda und Robert haben den Mut aufgebracht zu lernen, wie man zwei Kindern, vor denen einem insgeheim graut, Tante und Onkel ist. Brian hat Mut bewiesen, als er in der Küche gestanden und mir erzählt hat, woran er glaubt.«
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Eine Frau, die sich zwischen einen Mann und den Tod stellt, beweist Mut. Du hast für mich gekämpft, Jess, obwohl ich selbst es nicht tun wollte. Das lasse ich mir doch nicht nehmen. Ich werde nie wieder so wie früher Gitarre spielen, aber ich habe immer noch meine Stimme, und ich kann immer noch Songs schreiben und produzieren. Ich habe zwei Kinder, die du mir zurückgegeben hast, und ich hoffe, dass wir, so Gott will, noch mehr Kinder haben werden. Sag mir, dass ich auch dich noch habe.«
Sie verschmolz mit ihm in einem langen Kuss, der ihr den Atem und das Herz raubte und ihm alles sagte, was er wissen wollte.
»Alle warten auf dich«, flüsterte er mit den Lippen auf ihrem Mund.
Jessica drückte ihn fest an sich, sprang aus dem Bett und lief ins Badezimmer. »Zehn Minuten«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Ich muss nur noch schnell duschen.« Sie zog ihr Top aus und warf es auf einen Stuhl.
Dillons Atem stockte, als er sah, wie ihre Schlafanzughose über die verlockende Rundung ihres Hinterns glitt, bevor sie im Bad verschwand. Er stand auf und ein bedächtiges Lächeln zog seine Mundwinkel hoch, als er sein Hemd zur Seite warf. Er tappte barfuß zur Tür, um zu beobachten, wie sie sich unter das strömende, heiße Wasser stellte. Sie wandte ihm in dem Moment ihren Kopf zu, als er langsam seine Erektion aus seiner Jeans befreite. Sofort fiel ihr Blick darauf, und das ließ ihn noch steifer werden.
»Du hast mich vermisst«, begrüßte sie ihn mit einem einladenden Lächeln. Als er sich zu ihr unter die Dusche stellte, schlang sie ihre Hand warm und fest um ihn. »Ich habe dich auch vermisst.«
Seine Hände glitten über sie, und es erfüllte ihn mit Staunen, dass sie ihn derart heftig begehren konnte. Dillons Kuss war alles andere als sanft. Ihm war nicht danach zumute, sanft zu sein. Er wollte sie verschlingen. Seine Hände legten sich auf ihre Brüste, und seine Daumen umkreisten ihre Brustwarzen.
Mit ihren kühnen Liebkosungen brachte sie ihn um den Verstand, und die Erde drehte sich wie verrückt, während ihre Münder sich miteinander paarten. Das Wasser strömte über ihre Körper und um sie herum stieg Dampf auf. Sie war weich und nachgiebig, als ihr Körper sich an ihm rieb. Ihr Bein glitt auf seine Hüfte, und sie presste sich fest an ihn, so wild, wie er es war.
Dillon senkte den Kopf auf den fürchterlichen blauen Fleck an ihrer Schulter, wo Pauls Ellbogen sie so fest getroffen hatte, dass sie zum Rand der Klippe geflogen war. Von dort aus wanderte sein Mund zu ihrer Brust und schloss sich über ihrer harten Brustwarze, um fest daran zu saugen. Sie keuchte und reckte sich ihm entgegen. Seine Hand fuhr ihre Rundungen nach und glitt tiefer, um sich in ihren Körper zu stoßen. Sie war feucht vor Verlangen, und er wünschte sich alle Zeit auf Erden, um sie zu lieben. Einfach nur neben ihr zu liegen und ihr so viel Lust zu bereiten, dass sie wissen würde, was sie ihm bedeutete.
Jessica beugte sich vor, um einen kleinen Wassertropfen aufzufangen, der von seiner Schulter über seine muskulöse Brust lief. Sie war nicht schnell genug. Ihre Zunge folgte dem Tropfen, als er über die Narben über seinem Herzen rann. Sie hatte ihn immer noch nicht eingeholt und schlang ihm einen Arm um die Taille, als sie den Kopf senkte, um den Tropfen von seinem flachen Bauch zu lecken. Ihre Hand war immer noch um seine Erektion geschlossen. Sie fühlte, wie er noch stärker anschwoll, als ihr warmer Atem ihn streifte und ihre Zunge die Tröpfchen auf der empfindlichen Spitze seines Glieds verfolgte.
Dillon erschauerte vor Lust, als sie ihn in den Mund nahm. Das herabstürzende Wasser sensibilisierte seine Haut. Das Rauschen setzte in seinem Gehirn ein, seine Eingeweide standen in Flammen, und eine süße Ekstase ließ ihn beben. Klänge der Musik, die sie gemeinsam aufgenommen hatten, drangen bis unter die Dusche vor und heizten sein Blut mit ihrem leidenschaftlichen Rhythmus noch mehr an.
»Jess«, sagte er flehentlich – und verheißungsvoll. »Ich brauche dich jetzt sofort.« Denn es gab keinen anderen Ort, an dem er lieber gewesen wäre als bei ihr, in ihr, als ein Teil von ihr.
Sie richtete sich auf und hieß ihn lächelnd und glücklich willkommen. Sie drehte sich um und stützte ihre Hände auf die kleine Bank in der Ecke, um ihm ihren gerundeten Hintern und den schönen Schwung ihres Rückens darzubieten.
Seine Hände legten sich auf ihre Hüften. Sie war mehr als bereit für ihn, feucht und heiß und so begierig wie er. Als er in sie eindrang, kam sie ihm entgegen, damit er sie sofort gänzlich ausfüllte. Geschmolzene Lava raste durch sie und durch ihn. Er stöhnte und stieß fest und tief zu, schnell und wild, eine Raserei weißglühender Lust für beide. Sie kam jedem seiner Stöße entgegen und forderte mehr, packte ihn und ließ eine feurige Reibung entstehen, die ihn bis ins Mark erschütterte. Und dann zuckte sie um ihn herum so heftig, dass sein Samen aus ihm herausgepresst wurde und sein Orgasmus von einer solchen Intensität war, dass er ihren Namen schrie.
Es gelang ihr immer wieder, ihn zu überraschen. Seine Jessica, die dem Leben und der Leidenschaft so furchtlos begegnete und sich nicht davor scheute, ihre wahren Gefühle zu zeigen. Sie gab sich der Lust so vollständig hin, wie sie in allem aufging, was sie tat. Der Orgasmus schien ewig zu dauern und doch viel zu schnell vorbei zu sein. Sie brachen gemeinsam auf dem Boden der Dusche zusammen und hielten einander in den Armen, mit gierigen Mündern und gierigen Händen.
Dillon griff in ihr Haar. »Ich kann nicht genug davon bekommen, dich zu küssen.«
»Hast du nicht gesagt, alle warten auf uns? Die zehn Minuten sind längst um«, sagte Jessica. »Sie werden die Zwillinge schicken, damit sie uns holen.«
»Wenn du mich heiratest, was sehr bald passieren wird, darf ich dann zwei Wochen mit dir im Bett verbringen, versprichst du mir das?« Er griff um sie herum und drehte das Wasser ab.
Jessica sah ihn an. »Du hast nie von einer Heirat gesprochen. «
Dillon wirkte knabenhaft und verletzlich, als er auf sie hinuntersah. »Ich bin altmodisch. Ich dachte, du wüsstest, dass ich es fürs ganze Leben meine.« Er sah sich nach seiner Jeans um, die er achtlos auf den Boden geworfen hatte. »Ich habe einen Ring«, sagte er, als wollte er sie bestechen.
»Dillon!« Jessica schlang sich nervös ein Handtuch um ihr Haar und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Du hast einen Ring?«
Sie war so schön mit ihrem verwirrten Gesicht, den Wassertropfen auf ihrer zarten Haut und den großen Augen, die vor Glück strahlten, dass Dillon am liebsten gleich noch einmal von vorn angefangen hätte. Er fand den Ring in seiner Hosentasche und nahm ihre Hand. »Ich will dich für immer, Jess, für alle Zeiten.«
Der Diamant funkelte, als sie lächelnd auf ihn herabblickte. Dann hob Dillon sie hoch, warf sie aufs Bett und leckte jeden einzelnen Wassertropfen von ihrer Haut.
Als sie endlich angezogen waren und sich auf den Weg zu den anderen machten, war viel mehr Zeit vergangen als erwartet. Jessica blieb in der Tür des großen Zimmers stehen, in dem der Baum aufgestellt war. Hunderte winziger Lichter waren mit den Zweigen verwoben und ließen den gemeinsam gebastelten Baumschmuck leuchten.
»Das hast du also die ganze Zeit getrieben«, flüsterte sie, als sie den lichtergeschmückten Baum und den Berg von leuchtend bunt verpackten Geschenken unter den Zweigen sah. »Du hast den Weihnachtsmann gespielt.«
Er grinste sie schelmisch an. »Ich bin ganz groß ins Geschäft mit den Wundern eingestiegen. Ich konnte Tara und Trevor doch nicht enttäuschen. Sie wollten ihren Vater zurückhaben, oder etwa nicht?«
Jessica schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf seinen wunderschönen Mund. Sie war überglücklich, denn sie hatte geglaubt, Pauls Verrat würde Dillon endgültig jeden Lebensmut nehmen. Stattdessen hatte er alles heil überstanden und fühlte sich viel besser als vorher.
Dillons Kuss war sanft und entspannt, doch er schmeckte nach Leidenschaft und Gier. Hinter ihnen stöhnte Trevor. »Wollt ihr beide den ganzen Abend so weitermachen? Es gibt nämlich auch noch andere Zimmer, in denen ihr allein sein könnt, falls ihr das noch nicht gemerkt habt.«
»Bring die beiden bloß nicht auf dumme Gedanken«, sagte Brian, »sonst fällt das Weihnachtsfest ganz ins Wasser.«
Dillon ließ sich Zeit, denn es gab nichts Wichtigeres, als Jessica zu küssen, und er machte seine Sache gründlich, während die Zwillinge ungeduldig mit den Füßen wippten und die Bandmitglieder einander Rippenstöße versetzten. Dann hob er langsam den Kopf und sah Jessica lächelnd ins Gesicht. »Ich liebe dich, Jessica, mehr, als ich dir mit Worten sagen kann. Ich liebe dich.«
Sie legte eine zitternde Fingerspitze auf seine Lippen. »Ich habe eine Überraschung für dich! Ich dich auch.« Sie würde das als Weihnachtswunder gelten lassen. Dillon. Ihre andere Hälfte.
»Dad!«, quietschte Tara ungeduldig. »Wir wissen alle, was hier vorgeht, also lasst uns nicht in der Luft hängen. Die Spannung wird langsam unerträglich. Was ist jetzt – tut ihr’s oder nicht?«
Dillon und Jessica sahen in die erwartungsvollen Gesichter, die sich um sie scharten. »Wovon redet ihr?« Er schlang Jessica einen Arm um die Schultern und zog sie schützend an seine Seite.
Trevor warf die Hände in die Luft. »So viel zu deinen Umgangsformen. Meine Güte, Dad, begreif es doch endlich. Du musst jetzt aktiv werden.«
Don schüttelte den Kopf. »Du enttäuschst mich,Wentworth. «
»Mannomann.« Brian presste eine Hand auf sein Herz. »Du hast meinen Glauben an die wahre Liebe zerstört.«
Brenda trat vor, packte Jessicas Handgelenk und riss ihre linke Hand hoch, damit alle sie sehen konnten. »Himmel nochmal, habt ihr denn keine Augen im Kopf?« Der Ring funkelte im Licht.
»Heiliger Strohsack, Dad.« Trevor grinste von einem Ohr zum anderen. »Du verblüffst mich. Ich muss mich bei dir entschuldigen. In aller Form.«
Jessica wurde von allen geküsst und umarmt, bis Dillon sie rettete, indem er sie an sich zog und die anderen mit einem gutmütigen Murren verscheuchte. Er schaltete die Deckenlampen aus, damit nur noch die blinkenden bunten Lichterketten leuchteten. »Es ist Mitternacht. Wir sollten das Weihnachtsfest mit Gesang einläuten«, kündigte er an und beugte sich herunter, um Jessica einen weiteren Kuss zu rauben.
Brenda setzte sich dicht neben Robert und legte ihren Kopf auf seine Brust. Brian saß dem Paar gegenüber auf dem Boden und streckte seine langen Beine aus. Don folgte seinem Beispiel. Er ließ sich auf den Boden sinken, lehnte sich ans Sofa, machte es sich behaglich und betrachtete die Lichter.
Dillon nahm Jessicas Hand, als er sich in den breiten Sessel setzte und sie neben sich zog.Tara und Trevor fanden sofort einen Platz in ihrer Nähe auf dem Boden. Robert griff hinter den Sessel, in dem er saß, und zog lässig eine akustische Gitarre heraus – Dillons älteste, die zwar kein wertvolles Stück war, die er aber jahrelang mit sich herumgetragen hatte. Robert reichte sie Trevor, der sie seinem Vater hinhielt.
»Spiel heute Nacht für uns, Dad«, sagte Trevor.
Jessica konnte fühlen, wie Dillon zusammenzuckte. Er schüttelte den Kopf, nahm seinem Sohn die Gitarre aus der Hand und versuchte, sie an Jessica weiterzureichen. »Du spielst. Ich spiele nicht mehr.«
»Oh doch, das tust du«, sagte Jessica, ohne das Instrument eines Blickes zu würdigen. »Du spielst nur nicht mehr für große Menschenmassen. Wir gehören zur Familie, wir alle, die wir heute Nacht hier zusammengekommen sind. Wir sind deine Familie, Dillon, und wir erwarten keine Perfektion. Spiel einfach nur, nichts Großartiges, aber spiel für uns.«
Dillon sah ihr in die Augen. Grüne Augen, arglos und aufrichtig. Er warf einen Blick auf die anderen, die ihn beobachteten, während er mit sich rang. Die Lichter blinkten, tanzten und zwinkerten ihm zu, als wollten sie ihn ermutigen. Er musste nicht alles allein hinkriegen, und er musste nicht perfekt sein. Manchmal bekam man eben doch eine zweite Chance. Mit einem kleinen Seufzer kapitulierte er und zog die Gitarre in seine Arme wie eine verloren geglaubte Geliebte. Seine langjährige Gefährtin, schon in jungen Jahren seine Freundin, die für ihn da war, wenn er sich einsam fühlte. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er die vertraute Struktur ertastete, die Maserung des Holzes, den breiten Hals.
Seine Finger fanden die Saiten, und sein Ohr lauschte dem Klang. Die Feinabstimmung nahm er automatisch vor, ohne nachzudenken. Er lebte und atmete Musik, die Töne, die in seinem Kopf Gestalt annahmen. Diese unvergleichliche Gabe besaß er immer noch, und er hatte seine Stimme, sein Markenzeichen, eine rauchige, heisere Bluesstimme. Sie floss aus ihm heraus. Er sang von Hoffnung und Freude, von gefundener Liebe und familiärer Eintracht. Während er sang, fanden seine Finger die vertrauten Akkorde und bewegten sich mit unvergessener Liebe über die Saiten. Ihm fehlte die Fingerfertigkeit für die schnellen Riffs und die komplizierten Melodien, die er oft in seinem Kopf hörte und komponierte, aber er konnte für seine Familie spielen und das Geschenk der Liebe genießen.
Sie sangen mit ihm, alle, die er liebte. Jessicas Stimme verband sich vollendet mit seiner. Brenda traf die Töne nicht ganz, aber dafür mochte er sie umso mehr. Taras Stimme klang vielversprechend und aus Trevors Stimme war Begeisterung herauszuhören. Es bereite ihm unvergleichliches Vergnügen, am Heiligen Abend im Kreise seiner Familie in seinem Haus zu sitzen – sein persönliches Wunder.
Ein leises Geräusch am Fenster lenkte Jessica von der Musik ab. Sie zog die Stirn in Falten und sah durch die Scheibe in das wüste Unwetter hinaus, das im Dunkeln tobte. Sie sah etwas Weißes flattern und sich draußen auf der Fensterbank niederlassen. Ein vom Sturm gebeutelter Vogel, der sich vielleicht im Dunkel der Nacht und in der Heftigkeit der Böen verirrt hatte.
»Am Fenster ist ein Vogel«, sagte Jessica leise, da sie befürchtete, wenn sie zu laut sprach, würde er verschwinden, bevor ihn außer ihr jemand sah. Sie bewegte sich behutsam durch das Zimmer, während die anderen regungslos dasaßen. »Vögel sind um diese Zeit nicht unterwegs. Ist er gegen die Scheibe geflogen?«
Der Vogel wirkte reichlich zerzaust – eine nasse, unglückliche, zitternde Taube. Jessica öffnete behutsam das Fenster und gurrte leise, um das Geschöpf nicht zu erschrecken. Zu ihrem Erstaunen wartete der Vogel seelenruhig auf der Fensterbank, während sie darum rang, eine Seite des Fensters gegen den heftigen Wind aufzudrücken. Sofort hüpfte der Vogel auf ihren Arm. Sie konnte sein Zittern spüren und legte ihre warmen Handflächen um seinen Körper. Er trug etwas in seinem Schnabel. Sie konnte das Funkeln von Gold zwischen ihren Händen erkennen. Das war aber noch nicht alles – er trug einen Ring um den Fuß. Jessica fühlte, wie er zwischen ihre Handflächen fiel, als sich der Vogel erhob, mit den Flügeln flatterte und sich in die Luft aufschwang. Er flog durch das Zimmer. Als er über den Zwillingen vorbeikam, öffnete er den Schnabel und ließ etwas zwischen sie fallen. Die Taube drehte noch eine schnelle Runde durch das Zimmer, während das Licht in wunderschönen Regenbogenfarben über ihr weißes Gefieder glitt. Dann flog sie zum Fenster hinaus und in die Nacht zurück, um sich an einen anderen geschützten Ort zu begeben.
»Was ist das, Tara?« Trevor beugte sich zu ihr, als seine Schwester eine goldene Kette hochhob, damit alle sie sehen konnten. »Das ist ein Medaillon.« Es war klein und herzförmig und außen kunstvoll verziert.
»Ich glaube, das ist echtes Gold«, sagte Trevor und nahm es in die Hand, um es sich genauer anzusehen.
»Ist das für mich? Hat jemand das für mich besorgt? Wo kommt es her?« Tara sah die Bandmitglieder an, die verstummt waren, als sie die Kette hochhob. »Wer hat mir das geschenkt?«
Dillon beugte sich vor, um das Medaillon zu betrachten. Brenda fasste sich an die Kehle. Als Dillons Blick auf sie fiel, schüttelte sie eilig den Kopf. »Ich war es nicht, Dillon, ich schwöre, ich war es nicht.«
»Man kann es öffnen, nicht wahr?« Trevor legte seiner Schwester einen Arm um die Schultern und sah das zierliche Medaillon neugierig an. »Was ist drin?«
Tara drückte auf den kleinen Schnappverschluss und das Medaillon sprang auf. Darin befanden sich zwei lächelnde Gesichter, ein zweijähriges Mädchen und ein zweijähriger Junge. Lockiges schwarzes Haar fiel um ihre Gesichter.
»Dad?« Tara sah ihren Vater an. »Das sind wir, stimmt’s?«
Dillon nickte feierlich. »Eure Mutter hat diese Kette nie abgenommen. Ich wusste nicht einmal, dass in dem Medaillon Fotos von euch waren.«
Tara wandte sich zu Jessica um, und auf ihrem jungen Gesicht stand ein verunsicherter Ausdruck. Sie wusste nicht, was sie von einem solchen Geschenk halten sollte. Alle schwiegen betroffen. Tara wusste nicht, ob sie das Medaillon an sich drücken oder ob sie es schleunigst wegwerfen und einen Strom Tränen vergießen sollte.
Jessica drückte sie an sich. »Was für ein schönes Geschenk. Es ist ein Tag der Wunder. Jedes Kind sollte wissen, dass seine Mutter es gewollt und geliebt hat. Ich erinnere mich noch daran, wie lieb und teuer dieses Medaillon eurer Mutter war. Sie hat es immer getragen, selbst als sie viel wertvolleren Schmuck hatte. Ich glaube, die Kette ist ein Beweis dafür, was sie für euch empfunden hat, auch wenn sie zu krank war, um es euch zu zeigen.«
Brenda nahm Jessicas Hand und drückte sie fest. »Vivian hat es immer getragen, Tara – ich habe sie damit aufgezogen, dass es ihr lieber war als Diamanten. Sie hat gesagt, sie hätte ihre Gründe dafür.« Tränen funkelten in ihren Augen. »Jetzt weiß ich, warum. Ich hätte es auch nie abgenommen.«
Tara gab ihrer Tante einen Kuss. »Ich bin froh, dass du hier bist, Tante Brenda«, vertraute sie ihr an. »Ich habe dich nämlich sehr lieb.« Sie reichte ihr die Kette. »Legst du sie mir an?«
Brenda nickte. Ihr lief das Herz über. »Unbedingt.«
»Es war für uns beide, Trev«, sagte Tara. »Sie hat uns beide also doch geliebt. Wir teilen es miteinander.« Sie beugte sich vor und drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange.
Jessica setzte sich auf Dillons Schoß und wartete, bis sich die anderen um die Zwillinge scharten. Erst dann öffnete sie langsam die Hand, um ihm zu zeigen, was auf ihrer Handfläche lag. Es war ein Mutterring mit zwei identischen Geburtssteinen darin. Sie blickten von dem Ring auf und sahen einander wortlos an.
Jessica schloss ihre Finger um das kostbare Geschenk, das die Taube zurückgelassen hatte. Das war besser als Diamanten, das wichtigste Geschenk aller Zeiten. Dillons vernarbte Finger legten sich über ihre Hand, um den Schatz zu hüten und ihn dicht an ihre Herzen zu halten. Trevor und Tara gehörten ihnen beiden. Sie hatten ihr Weihnachtswunder bekommen, und es war genau das, was sie brauchten.