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Tara hob die Decke an, damit Jessica darunterkriechen konnte. Jessica trug ihre Schlafanzughose und ein Trägertop. Das Haar fiel ihr gelöst über den Rücken, da sie sich schon zum Schlafengehen fertig gemacht hatte. Sie sprang über Trevors improvisiertes Bett und schlüpfte zu Tara unter die Decke. »Warum ist es so kalt im Zimmer?«

»Dein geheimnisvoller Fensteröffner hat in Taras Zimmer zugeschlagen«, sagte Trevor. »Das Fenster stand weit offen, und die Vorhänge waren vom Regen durchnässt. Es war ganz neblig im Raum, Jess.« Er erzählte ihr bewusst nichts von dem magischen Kreis aus der Asche von Räucherstäbchen auf dem Fußboden vor dem Bett, den er gemeinsam mit Tara mühsam weggewischt hatte. Wenn sie das herausfand, würde sie die beiden nie mehr aus den Augen lassen.

Jessica seufzte. »So was Albernes. Hier hat jemand einen Fimmel für offene Fenster. Was ist mit deinem Zimmer, Trev, hast du dort etwas Ungewöhnliches vorgefunden? «

»Nein, aber in meinem Zimmer habe ich ja auch die Videokamera aufgebaut«, sagte er mit einem frechen Grinsen. »Ich hatte den Eindruck, da war jemand und hat in meinen Sachen gekramt, und ich wollte die Täter auf frischer Tat ertappen, falls sie nochmal zurückkommen.« Er ließ sich anmerken, dass es ihm nicht ernst damit war.

»Und wen hast du in Verdacht und wonach haben sie deiner Meinung nach gesucht?«, fragte Jessica.

»Ich hatte angenommen, ich würde Brenda auf der Suche nach Bargeld erwischen«, gab er zu.

»Brenda ist mittlerweile nett«, widersprach Tara. »Die wühlt doch nicht in deinen stinkigen alten Socken, in denen du, wie jeder weiß, dein Geld versteckst.«

»Das weißt nur du.« Trevor sah sie finster an.

»Jetzt weiß ich es auch«, gab Jessica mit einem heimtückischen Lächeln zu bedenken.

»Erzählst du uns jetzt endlich, ob Dad Brian umgebracht hat oder nicht?« Trevor versuchte seine Worte möglichst beiläufig klingen zu lassen, doch eine Spur unterschwelliger Sorge war nicht zu überhören. »Ich sterbe vor Spannung.«

»Natürlich nicht. Brians Religion ist sehr alt, die Anbetung der Erde und der Gottheiten, die in Harmonie mit der Erde leben. Mit Teufelsanbetung und Okkultismus hat das nichts zu tun.« Sie zögerte und sah in die beiden identischen Gesichter. »Eure Mutter ist seinem Beispiel eine Zeit lang gefolgt, aber während ihres letzten Lebensjahres, als sie so krank wurde, ist sie einem Mann begegnet, der Phillip Trent hieß. Er war durch und durch verkommen. « Ihr wurde schon übel, wenn sie seinen Namen bloß aussprach. In dem Moment fühlte sie es, diese grässliche Kälte, die in einen Raum vordringen konnte, unnatürlich und ungeladen. Unter der Decke presste sie sich eine Hand auf den Magen, denn sie fürchtete, sich zu übergeben.

»Was hast du, Jess?« Trevor setzte sich kerzengerade auf.

Sie schüttelte den Kopf. Es war lange her. In einem anderen Haus. Dieser teuflische Mann war tot und nichts, was er ins Leben gerufen hatte, war zurückgeblieben. Alles war zu einem Haufen Asche niedergebrannt. Sie bildete sich nur ein, dass ein kalter Luftzug die Gardinen kaum merklich in Bewegung versetzte, obwohl das Fenster geschlossen war. Sie bildete sich nur ein, dass sie Augen auf sich fühlte, die sie beobachteten, und dass sie belauscht wurden. Dass, wenn sie über jene Zeit sprach, das Böse triumphieren würde. Dass es freigesetzt würde.

»Euer Vater kennt den Unterschied. Brian hat erklärt, dass er die Rituale aus Respekt vor Dillons Gefühlen nicht im Haus, sondern draußen vollzieht. Ich habe ihn nicht auf den Kreis in meinem Zimmer angesprochen, weil ich ihn unter vier Augen danach fragen möchte. Dillons Beschützerinstinkte erstrecken sich auf uns alle. Die beiden sind gute Freunde, und sie haben es ausdiskutiert.« Jessica erschauerte wieder, und ihre Blicke schossen durch das Zimmer in die dunkelsten Winkel. Sie fühlte sich unbehaglich. Erinnerungen lauerten viel zu dicht unter der Oberfläche. Sie krallte ihre Finger in die Bettdecke.

Tara beugte sich über sie und sah ihr forschend ins Gesicht. Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu. Dann legte sie ihre Hand auf die Jessicas und streichelte sie liebevoll. »Erzähl uns die Weihnachtsgeschichte, Jessie. Dann geht es uns immer gleich viel besser.«

Jessica zog die Decke noch höher und schmiegte ihr Gesicht ans Kissen. Am liebsten hätte sie sich die Decke wie ein verängstigtes Kind über den Kopf gezogen. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich genau daran erinnern kann.«

Trevor schnaubte ungläubig, setzte jedoch forsch an, die altbekannte Geschichte zu erzählen. »Es waren einmal zwei wunderschöne Kinder. Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge war gescheit und sah gut aus, und alle liebten ihn, insbesondere die Mädchen aus der Nachbarschaft, und das Mädchen war ziemlich doof, ein dummes kleines Ding, aber er duldete sie großzügig. «

»In der wahren Geschichte ist es genau umgekehrt«, erklärte Tara verächtlich.

»In der wahren Geschichte sind sie beide wunderbar«, verbesserte Jessica und ließ sich von den Kindern mit dieser leicht durchschaubaren Masche ködern. »Die Kinder waren brav und freundlich und sehr liebevoll, und sie hätten viel Glück verdient gehabt, doch beide litten an einem gebrochenen Herzen. Sie verbargen es gut, aber der böse, heimtückische Zauberer hatte ihren Vater geraubt. Der Zauberer hatte ihn fern von den Kindern in einen Turm gesperrt, in einem bitterkalten Land, in dem keine Sonne schien und wo er nie das Tageslicht sah. Er lebte ohne Lachen, ohne Liebe und ohne Musik. Seine Welt war trostlos, und sein Leiden war groß. Er vermisste seine Kinder und seine einzig wahre Liebe.«

»Weißt du was, Jess«, warf Trevor ein, »als ich klein war, hat sich mir bei der Stelle mit der einzig wahren Liebe der Magen umgedreht, aber ich glaube, inzwischen gefällt sie mir.«

»Das ist das Beste von allem«, widersprach Tara entsetzt, weil der Sinn für Romantik bei ihrem Bruder so unterentwickelt war. »Wenn du das nicht einsiehst, Trev, dann hast du keine Chance, jemals bei den Mädchen anzukommen. «

Er lachte leise. »Die kriege ich schon noch, Schwesterchen, das ist erblich.«

Tara verdrehte die Augen. »Er ist so verrückt, Jessie, meinst du, es besteht noch Hoffnung für ihn? Beantworte das nicht, erzähl uns lieber, warum der böse Zauberer ihn fortgeholt und in den Turm gesperrt hat.«

»Er war ein wunderschöner Mann mit einem Engelsgesicht und dem Herzen eines Dichters. Er sang mit einer Stimme, die nur eine Gabe der Götter sein konnte, und wohin er auch ging, liebten ihn die Menschen. Er war freundlich und gut, und er tat stets sein Bestes, um jedem zu helfen. Mit seiner Musik und seiner wunderbaren Stimme brachte er Freude in das harte Leben anderer. Die Menschen liebten ihn so sehr, dass der Zauberer neidisch wurde und ihm sein Glück nicht gönnte. Er wollte, dass der Vater in seinem Inneren hässlich und gemein war, so grausam wie er selbst. Daher nahm der Zauberer dem Vater alles, was er liebte. Seine Kinder, seine Musik, seine einzig wahre Liebe. Der Zauberer wollte, dass er verbittert wurde, hasserfüllt und entstellt. Er ließ den Vater foltern und im Verlies des Turms abscheuliche Grausamkeiten an ihm begehen. Die teuflischen Schergen des Zauberers fügten ihm Schmerzen zu, entstellten ihn und warfen ihn dann in den Turm, zu einer Ewigkeit im Dunkeln verdammt. Dort ließen sie ihn allein, ohne einen Menschen, mit dem er reden konnte oder der ihn getröstet hätte, und seine Seele weinte.«

Jessicas Stimme stockte. Sie würden nie genau wissen, was ihm das Leben angetan und was es ihm genommen hatte. Die Zwillinge waren zum Zeitpunkt des Brandes fünf Jahre alt gewesen und hatten nur vage Erinnerungen an Dillon, wie er in den alten Zeiten gewesen war, an den überschäumenden charismatischen Poeten, der allen durch seine bloße Existenz so viel Freude bereitete.

»Die Kinder, Jess«, half Trevor ihr auf die Sprünge, »erzähl uns von ihnen.«

»Sie liebten ihren Vater von ganzem Herzen. Sie liebten ihn so sehr und vergossen so viele Tränen um ihn, dass der Fluss anschwoll und über die Ufer trat. Die einzig wahre Liebe ihres Vaters tröstete die Kinder und erinnerte sie immer wieder daran, dass er sich wünschen würde, seine Kinder seien stark und Beispiele dafür, wie er sein Leben immer gelebt hatte – indem er Menschen half und Menschen liebte und dort Verantwortung übernahm, wo andere sie nicht tragen wollten. Und die Kinder führten sein Erbe des Dienstes an den Menschen, der Loyalität und der Liebe weiter, obwohl ihre Seelen im Einklang mit der seinen weinten. Eines Nachts, als es kalt war und in Strömen regnete, als es so dunkel war, dass die Sterne nicht leuchten konnten, landete eine weiße Taube auf ihrem Fensterbrett. Sie war müde und hungrig. Die Kinder fütterten sie mit ihrem Brot und gaben ihr von ihrem Wasser. Die einzig wahre Liebe des Vaters wärmte den zitternden Vogel in ihren Händen. Zu ihrem Erstaunen sprach die Taube zu ihnen und sagte,Weihnachten stünde bevor. Sie sollten den perfekten Baum finden, ihn in ihr Haus holen und ihn mit kleinen Symbolen der Liebe schmücken. Aufgrund ihrer Güte würde ihnen ein Wunder gewährt werden. Die Taube sagte, sie könnten ungeahnte Reichtümer haben, sie könnten das ewige Leben haben. Aber die Kinder und die einzig wahre Liebe des Vaters sagten, sie wollten nur eines. Sie wollten, dass der Vater zu ihnen zurückkehrte.«

»Die Taube gab zu bedenken, dass er nicht mehr derselbe wie früher sein würde, er wäre verändert«, warf Tara eifrig ein.

»Ja, das ist wahr, aber das machte den Kindern und der einzig wahren Liebe des Vaters nichts aus. Sie wollten ihn zurückhaben, ganz gleich, in welcher Form. Sie wussten, dass sich an dem, was er in seinem Herzen trug, niemals etwas ändern würde.«

Draußen vor Taras Zimmer lehnte Dillon an der Tür und lauschte dem Klang von Jessicas wunderschöner Stimme, als sie ihre Weihnachtsgeschichte erzählte. Er hatte sich auf die Suche nach ihr gemacht, weil ihm der Kummer verhasst war, der sich auf ihrem Gesicht widergespiegelt hatte, und weil er die Alpträume vertreiben musste, die er in ihren Augen gesehen hatte. Er hätte sich ja denken können, dass sie bei den Zwillingen sein würde. Bei seinen Kindern. Seine Familie. Sie war auf der anderen Seite der Tür und wartete auf ihn, wartete auf ein Wunder. Tränen brannten in seinen Augen, liefen ihm ungehindert über die Wangen, schnürten seine Kehle zu und drohten ihn zu ersticken, während er der Geschichte seines Lebens lauschte.

»Haben sie den perfekten Baum gefunden?«, drängte Tara. Ihre Stimme hatte einen so hoffnungsvollen Klang, dass Dillon die Augen gegen eine neuerliche Flut von Tränen schloss, Tränen, die den tiefsten Winkeln seiner Seele entsprangen. Genug, um die Ufer des mythischen Flusses zu überschwemmen.

»Anfangs dachten sie, die Taube meinte Perfektion im Sinne von vollendeter Schönheit.« Jessica hatte die Stimme gesenkt, und er konnte sie nur noch mit Mühe hören. »Aber als sie sich im Wald umsahen, erkannten sie schließlich, dass es um etwas ganz anderes ging. Sie fanden einen kleinen, buschigen Baum, der im Schatten eines wesentlich größeren Baumes stand. Die unregelmäßigen Zweige hatten Lücken, aber sie wussten sofort, dass es der perfekte Baum für den Gabentisch war. Alle anderen hatten ihn übersehen. Sie fragten den Baum, ob er Lust hätte, mit ihnen Weihnachten zu feiern, und der Baum willigte ein. Sie bastelten herrlichen Schmuck und schmückten ihn mit großer Sorgfalt. Am Heiligen Abend saßen die drei da und warteten auf das Wunder. Sie wussten, dass sie den perfekten Baum gewählt hatten, als die Taube sich freudig im Geäst niederließ.«

Lange Zeit herrschte Schweigen. Das Bett quietschte, als hätte sich jemand umgedreht. »Jessie. Willst du uns nicht das Ende der Geschichte erzählen?«, fragte Trevor.

»Das Ende der Geschichte kenne ich noch nicht«, antwortete Jessica. Weinte sie? Dillon wäre es unerträglich gewesen, wenn sie geweint hätte.

»Natürlich kennst du es«, klagte Tara.

»Lass sie in Ruhe, Tara«, riet Trevor. »Lass uns jetzt einfach schlafen.«

»Ich erzähle sie euch an Weihnachten«, versprach Jessica.

Dillon lauschte der Stille im Zimmer. Seine Brust war zugeschnürt. Taumelnd wich er vor dem Schmerz zurück und wankte die Treppe hinauf in die Dunkelheit seines einsamen Turms.

Jessica lag da und lauschte den Lauten der schlafenden Zwillinge. Es war tröstlich, ihren gleichmäßigen Atem zu hören. Draußen schlug der Wind gegen die Fenster wie die Hand eines Riesen, der an den Fensterbänken rüttelte, bis die Scheiben alarmierend klapperten. Der Regen traf mit Wucht auf das Glas, ein stetiger Rhythmus, der beruhigend war. Sie liebte den Regen und den frischen, sauberen Duft, den er mit sich brachte. Sie atmete tief ein und glitt in einen leichten Halbschlaf. Nebelschwaden krochen ins Zimmer und trugen einen Geruch mit sich, den sie wiedererkannte. Sie roch Räucherstäbchen und runzelte die Stirn. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch ihre Arme und Beine waren zu schwer, um sie zu heben. Alarmiert rang sie darum, wach zu werden, als sie erkannte, dass ihr Wegdämmern sie an ihren Träumen vorbei zu ihrem allzu vertrauten Alptraum geführt hatte.

 

Sie wollte sie nicht ansehen, keinen von ihnen. Sie hatte das Grauen hinter sich gelassen und sich an einen Ort begeben, an dem sie gefühllos war. Sie bemühte sich, nicht zu atmen. Sie wollte sie nicht riechen und auch nicht den Weihrauch, und sie wollte auch nicht den Singsang hören oder daran denken, was ihrem Körper zustieß. Sie spürte die Hand auf sich, die sie grob berührte, während sie den Angriff hilflos über sich ergehen lassen musste. Sie hatte sich gewehrt, bis ihr die Kraft ausgegangen war. Nichts würde diesem wahnsinnigen Gebaren Einhalt gebieten, und sie würde es über sich ergehen lassen, weil ihr gar keine andere Wahl blieb.

Die Hand drückte fest zu und stocherte an empfindlichen geheimen Orten. Sie wollte nichts fühlen, wollte nicht wieder schreien. Die Tränen konnte sie nicht zurückhalten; sie rannen ihr über das Gesicht und fielen auf den Fußboden. Ohne jede Vorwarnung wurde die Tür eingetreten, die daraufhin zersplittert und schief an geborstenen Angeln hing. Mit seinem verzerrten Gesicht und den wutentbrannten blauen Augen sah Dillon aus wie ein Racheengel.

Sie wand sich, als er sie ansah, als er die Obszönität dessen sah, was sie ihr antaten. Sie wollte nicht, dass er sie so sah, nackt und bemalt, während etwas Teuflisches ihren Körper berührte. Er bewegte sich so schnell, dass sie nicht sicher sein konnte, ob er tatsächlich da war, und riss Phillip Trent von ihr fort. Sie hörte das Geräusch einer Faust, die auf Fleisch traf, und sah Blut in die Luft aufsprühen. Sie war hilflos, zu keiner Bewegung in der Lage und unfähig zu sehen, was passierte. Sie hörte Schreie, Ächzen, das Splittern eines Knochens. Geschriene Obszönitäten. Sie roch Alkohol und war sicher, dass sie nie mehr fähig sein würde, diesen Gestank zu ertragen.

Und dann hüllte er sie in sein Hemd und löste die Schnüre, mit denen ihre Hände und Füße gefesselt waren. Als er sie hochhob, strömten Tränen über sein Gesicht. »Es tut mir leid, Kleines, es tut mir so leid«, flüsterte er mit den Lippen an ihrem Hals, als er sie aus dem Zimmer trug. Sie erhaschte Blicke auf zertrümmerte Möbelstücke, Glasscherben und wüst verstreute Gegenstände. Als er sie hinaustrug, wanden Körper sich auf dem Boden und stöhnten. Seine Hände waren blutig, aber sanft, als er sie in ihr Bett legte und sie sanft in seinen Armen wiegte, während sie weinte und schluchzte, bis ihrer beider Herzen gebrochen waren. Sie flehte ihn an, niemandem zu erzählen, wie er sie vorgefunden hatte.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Er war von einer Wut erfüllt, die immer noch tödlich war. Er wandte ein, sie bräuchte ihre Mutter, und dann verließ er ihr Zimmer, um sich irgendwo draußen abzuregen, wo er niemandem etwas antun konnte. Sie schrubbte sich unter der Dusche, bis ihre Haut aufgescheuert war und ihr keine Tränen mehr geblieben waren. Sie zog sich an, wobei ihre Hände so sehr zitterten, dass sie ihre Bluse nicht zuknöpfen konnte, als sie die Salve von Schüssen durch das Haus knallen hörte. Der Brandgeruch war überwältigend. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es nicht der Dampf aus dem Badezimmer war, der das Zimmer verschwimmen ließ, sondern dichte Rauchwolken. Sie musste durch den Flur zum Zimmer der Zwillinge kriechen. Sie weinten und hatten sich unter dem Bett versteckt. Flammen fraßen sich gierig durch den Flur und an den Vorhängen hinauf. Es war unmöglich, zu den anderen zu gelangen.

Sie zerrte die Kinder zu dem großen Fenster, stieß sie hinaus und folgte ihnen, ließ sich auf die Erde fallen und kam auf dem glitschigen Boden ins Rutschen. Tara kroch blindlings voran, weil Tränen aus ihren geschwollenen Augen strömten und sie am Sehen hinderten. Sie schrie laut auf, als sie über den Rand der Klippe schlitterte. Jessica sprang mit einem Satz hinter ihr her. Sie rollten und holperten und rutschten bis zum Meer hinunter. Tara verschwand in den Wogen, und Jessica stürzte hinter ihr her. In die Tiefe. In die Dunkelheit. Das Salzwasser brannte. Es war eiskalt. Ihre Finger streiften das Hemd des Kindes und glitten ab, sie packte wieder zu, erwischte eine Handvoll Stoff und hielt daran fest. Mit kräftigen Beinschlägen gelangte sie an die Wasseroberfläche und kämpfte sich mit ihrer Last durch die stampfenden Wogen. Sie lagen gemeinsam auf den Felsen und schnappten keuchend nach Luft, das Kind in ihren Armen. Ihre Welt in Trümmern.

Schwarzer Rauch. Lärm. Orangefarbene Flammen, die bis zu den Wolken reichten. Schreie. Ermattet zog sie Trevor in ihre Arme, als er sich ihnen anschloss. Gemeinsam stiegen sie langsam den Pfad hinauf, der zur Haustür führte. Dort sah sie Dillon liegen. Er lag regungslos da. Sein Körper war schwarz, seine Arme ausgestreckt. Er gab keinen Laut von sich, doch seine Augen schrien, als er schockiert auf die geschwärzten Überreste seines zerstörten Körpers hinabsah. Er blickte zu ihr auf. Sah an ihr vorbei auf die Kinder. In dem Moment verstand sie, warum er sich in ein brennendes Inferno gestürzt hatte. Ihre Blicke trafen sich. Er blickte ähnlich hilflos zu ihr auf, wie sie zu ihm aufgeblickt haben musste, als er sie gerettet hatte. Zeit ihres Lebens würde sie den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht vergessen, das Entsetzen in seinen Augen. Sie hörte sich selbst schreien, weil sie es nicht wahrhaben wollte. Immer wieder. In dem Laut drückten sich reine Seelenqualen aus.

 

»Jessie.« Trevor rief leise ihren Namen. Er hatte einen Arm um Tara geschlungen. Sie sahen hilflos zu, wie Jessica sich dicht neben dem Fenster an die Wand presste und immer wieder schrie, ihr Gesicht eine Maske des Entsetzens. Ihre Augen waren geöffnet, doch die Zwillinge wussten, dass Jessica nicht sie sah, sondern etwas anderes, etwas, das für sie lebhaft und real vorhanden war, das sie selbst jedoch nicht sehen konnten. Nachtängste waren gespenstisch. Jessica war in einem Alptraum gefangen und oft verschlimmerte es sich durch alles, was sie taten.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer wurde aufgerissen, und ihr Vater kam hereingestürzt, während er sich noch die Jeans zuknöpfte. Er trug kein Hemd und war barfuß. Sein Haar war wüst zerzaust und fiel wie dunkle Seide um sein vollendet geformtes Gesicht. Seine Brust und seine Arme waren ein dichtes Geflecht aus starren Wülsten und Wirbeln aus roter Haut. Die Narben zogen sich über seine Arme und breiteten sich auf seiner Brust bis zu seinem Bauch aus, wo sie in normale Haut übergingen.

»Was zum Teufel geht hier vor?«, fragte Dillon, doch sein wilder Blick hatte bereits Jessica gefunden, die noch an die Wand gepresst war. Er warf einen Blick auf seine Kinder. »Ist alles in Ordnung mit euch?«

Tara starrte das Narbengeflecht an. Nur mit Mühe konnte sie ihren Blick davon losreißen und ihm ins Gesicht sehen. »Ja. Sie hat Alpträume. Das ist ein ganz schlimmer.«

»Tut mir leid, dass ich mein Hemd vergessen habe«, sagte Dillon sanft zu ihr, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Jessica zuwandte. »Wach auf, Kleines, es ist vorbei«, gurrte er leise. Seine Stimme war gesenkt und unwiderstehlich, nahezu hypnotisch. »Ich bin es, meine Süße, du bist hier in Sicherheit. Ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas antut.«

Tara drehte den Kopf um, als sich weitere Personen in der Tür ihres Zimmers drängten. Sie musste gegen die Tränen anblinzeln, damit sie erkennen konnte, wer es war. Trevor schlang seinen Arm um sie, um ihr Trost zu spenden, und sie nahm ihn an.

»Gütiger Himmel«, sagte Brenda, »was ist denn nun schon wieder passiert?«

»Schick sie fort, Trevor«, ordnete Dillon an, »und dann verschwindet ihr und macht die Tür hinter euch zu.«

Trevor befolgte seine Aufforderung sofort. Er wollte nicht, dass jemand Jessica anstarrte und sie in einem derart kritischen Zustand sah. Und ihm gefiel auch nicht, wie sie den Oberkörper seines Vaters anstarrten. Er nahm Tara mit, bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden, schloss energisch die Tür hinter sich und ließ Dillon mit Jessica allein. »Die Vorstellung ist beendet«, sagte er mürrisch. »Ihr könnt also ebenso gut wieder ins Bett gehen.«

Brenda sah ihn finster an. »Das hat man davon, wenn man behilflich sein will. Wenn Jessie mich braucht, macht es mir nichts aus, die ganze Nacht bei ihr zu sitzen.«

Zum Erstaunen aller Anwesenden schlang Tara Brenda ihre Arme um die Taille und blickte zu ihr auf. »Ich brauche dich«, vertraute sie ihr an. »Ich habe ihn schon wieder verletzt.«

Trevor räusperte sich. »Nein, das hast du nicht getan, Tara.« Er war froh zu sehen, dass sich die Bandmitglieder zerstreuten und nur Brenda und Robert zurückblieben.

»Doch, ich habe seine Narben angestarrt, und er hat es gemerkt«, gestand Tara und sah dabei zu Brenda auf. »Obwohl Jessie geschrien hat und er ihr unbedingt helfen wollte, hat er es gemerkt. Und er hat gesagt, es täte ihm leid.« Wieder stiegen Tränen in ihren Augen auf. »Ich wollte ihn nicht anstarren, ich hätte wegschauen sollen. Es muss ihm furchtbar wehgetan haben.«

Robert legte ihr unbeholfen die Hand auf den Kopf, weil er sie trösten wollte. »Wir konnten ihn nicht zurückhalten. Das Haus hat lichterloh gebrannt. Er hat nach dir und deinem Bruder und Jessica gerufen. Er ist auf das Haus zugerannt. Ich habe ihn festgehalten und Paul auch. Er hat uns beide abgeschüttelt.« Kummer und Schuldbewusstsein schwangen in seiner rauen Stimme mit. Robert unterbrach sich, rieb sich den Nasensteg und zog die Stirn in Falten.

Brenda legte die Hand auf seinen Arm, ganz beiläufig, als sei es nicht wichtig, aber Trevor sah, dass es wichtig war und dass sie Robert damit Halt gab. Robert lächelte auf Brendas Hand hinunter und beugte sich vor, um ihre Fingerspitzen zu küssen. »Er ist mitten durch die Wand aus Flammen ins Haus gerannt. Paul hat versucht ihm nachzulaufen, aber Brian und ich haben ihn mit Gewalt zurückgehalten. Das hätten wir auch mit Dillon tun sollen. Wir hätten ihn gewaltsam zurückhalten müssen.« Er schüttelte den Kopf, als die Erinnerungen ihn bestürmten.

Trevor streckte zu seinem eigenen Erstaunen seine Hand aus und berührte erstmals seinen Onkel. »Niemand hätte ihn zurückhalten können. Wenn es überhaupt etwas gibt, was ich über meinen Vater weiß, dann das:Von dem Versuch, uns rauszuholen, hätte ihn keiner abhalten können.« Er warf einen Blick zurück auf die geschlossene Tür. Jessicas Schreie waren verstummt. Er konnte Dillons Stimme leise murmeln hören. »Niemand hätte ihn von dem Versuch abhalten können, zu Jess zu gelangen.«

Robert blinzelte und richtete seinen Blick auf Trevor. »Du bist ihm so ähnlich, so, wie er früher war. Tara, was ich euch zu sagen versuche, ist: Fürchtet euch nicht davor, die Narben eures Vaters anzusehen. Schämt euch niemals seines Äußeren. Diese Narben sind ein Beweis dafür, wie sehr er euch liebt und wie viel ihr ihm bedeutet. Er ist ein großartiger Mann, jemand, auf den ihr stolz sein solltet, und ihr werdet für ihn immer an erster Stelle stehen. Das haben nur wenige Menschen, und ich finde es wichtig, dass ihr wisst, was ihr an ihm habt. Ich hätte niemals in dieses Haus laufen können. Keiner von uns Übrigen konnte sich dazu durchringen, noch nicht einmal dann, als wir die Schreie gehört haben.«

»Tu das nicht, Robert«, sagte Brenda mit scharfer Stimme. »Niemand hätte diese Menschen retten können.«

»Schon gut, ich weiß.« Er rieb sich mit einer Hand das Gesicht, um die Schrecknisse der Vergangenheit auszulöschen, und rang sich entschlossen ein Lächeln ab. Jetzt musste er das Thema wechseln. »Ist jemand zu einem von Brendas albernen Brettspielen aufgelegt? Sie kann nicht genug davon kriegen.«

»Ich gewinne immer«, warf Brenda selbstgefällig ein.

Trevor warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tür und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder seiner Tante zu. »Ich gewinne immer«, konterte er.

Tara nahm Robert an der Hand. »Das stimmt«, vertraute sie ihm an.

»Dann wird es ein harter Kampf«, beschloss Brenda und ging zu ihren Räumlichkeiten voraus. »Ich verabscheue es, zu verlieren, egal, wobei.«

»Hast du wirklich Versicherungen auf uns abgeschlossen? «, erkundigte sich Trevor neugierig, als er ihr durch den Flur folgte.

»Natürlich, Herzchen, du bist ein Junge, da stehen die Chancen, dass du Dummheiten begehst, viel besser«, bemerkte Brenda selbstgefällig. »Die ganze schöne Knete«, fügte sie hinzu und grinste ihn über ihre Schulter an.

Trevor schüttelte den Kopf. »Die Masche kaufe ich dir nicht mehr ab, Tantchen. Du bist nicht das böse Mädchen, für das du von allen gehalten werden willst.«

Brenda zuckte sichtlich zusammen. »Sag das nicht nochmal, das ist ein Sakrileg. Und übrigens, mit deinen goldigen kleinen Streichen jagst du mir nicht die geringste Angst ein, du kannst sie also auch gleich bleibenlassen.«

»Ich spiele niemandem goldige kleine Streiche«, widersprach Trevor, der an ihrer Wortwahl Anstoß nahm. »Wenn ich dir einen Streich spielen würde, dann wäre der weder goldig noch klein. Und du würdest dich fürchten. Ich bin ein Meister im Streichespielen.«

Brenda stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und zog eine Augenbraue hoch, als er ihr in ihre Suite vorausging. »Ach, wirklich? Was ist dann mit dem vermummten Gesicht, das am Fenster auftaucht, und mit den geheimnisvollen Nachrichten, die auf meinen Schminkspiegel geschrieben werden? Verschwinde, ehe es zu spät ist.« Sie verdrehte die Augen. »Also, wirklich! Total kindisch. Und wie erklärst du, dass das Wasser in die Badewanne läuft, wenn der Stöpsel im Abfluss ist, und dass ständig Dunst im Zimmer hängt? Wenn ich nicht wüsste, dass du es bist, wäre es mir unheimlich. Das offene Fenster und Brians magischer Kreis, das ist wirklich ein guter Einfall, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Wir alle haben darüber geredet, und wir wissen, dass ihr beide es seid. Sogar dieser räudige Hund steckt mit euch unter einer Decke. Er knurrt den Dunst an und starrt ins Nichts und das bloß, um uns zu erschrecken.«

Kurze Zeit herrschte Schweigen. Tara und Trevor tauschten einen langen Blick miteinander aus. »Steht dein Fenster offen, wenn du in dein Zimmer kommst?«, fragte Tara mit gepresster Stimme. »Und das ganze Zimmer ist voller Nebel oder Dampf?«

Robert sah sie scharf an. »Willst du damit sagen, dass ihr Kinder nicht hinter diesen Streichen steckt?« Er schenkte beiden ein Soda aus dem kleinen Eisschrank ein, den sie in ihrem Zimmer stehen hatten.

Trevor schüttelte den Kopf und leerte das Glas fast auf einen Zug. Er hatte gar nicht bemerkt, wie durstig er war. »Nein. Und Jessicas Fenster steht auch ständig offen.« Sein Verneinen ließ einen eisigen Hauch ins Zimmer ein. »Taras Fenster stand heute Abend offen. Und sowohl in Jessies als auch in Taras Zimmer war auf dem Boden einer dieser Kreise aus der Asche verbrannter Räucherstäbchen. Jess hat Dillon nichts davon gesagt, weil sie befürchtet, er würde die Aufnahmen sofort beenden. Sie meint, es sei wichtig für ihn und alle anderen, dass sie Musik machen.«

Robert und Brenda sahen einander lange an. »Wenn ihr uns die Streiche gespielt habt, dann könnt ihr es uns ruhig sagen«, beharrte Robert. »Wir wissen, dass Kinder solche Dinge tun.« Er zog ein Brettspiel aus dem Schrank und trug es zum Tisch.

»Cluedo! Wie angemessen für eine dunkle und stürmische Nacht, wenn wir gerade über geheimnisvolle Vorfälle reden«, scherzte Brenda, als sie das Spielbrett und das Zubehör auf dem kleinen Tisch ausbreiteten.

»Wir waren es nicht«, beharrte Trevor. »Ich weiß nicht, wer dahintersteckt oder warum, aber jemand will uns von hier vertreiben.«

»Warum sagst du das?«, fragte Robert mit scharfer Stimme, während er die Kartenstapel auslegte.

Trevor fiel auf, dass sein Blatt für Notizen voll war. Er knüllte es zusammen und sah sich nach einem Papierkorb um. Er hätte es gern hineingeworfen, um an seiner Wurftechnik zu feilen, aber das ging nicht, weil der Papierkorb mit Zeitungen gefüllt war. Seufzend stand er auf und ging hin. Aus irgendeinem Grund begann sich sein Magen unangenehm zu verkrampfen, und seine Haut fühlte sich feucht an. Das Gespräch setzte ihm viel mehr zu, als ihm bewusst gewesen war. »Ich weiß nicht recht, ich habe ständig das Gefühl, jemand beobachtet uns.Wir haben den Hund ins Haus gelassen, und er fängt an zu knurren und richtet seinen Blick auf die Tür, obwohl wir alleine im Zimmer sind. Das Fell auf seinem Rücken stellt sich auf. Es ist unheimlich. Aber wenn ich nachsehen gehe, ist niemand da.«

»Normalerweise würde ich glauben, du denkst dir das alles aus«, sagte Robert, »aber hier haben sich auch eigenartige Dinge zugetragen Wir dachten, ihr Kinder steckt dahinter, und deshalb haben wir nichts gesagt, aber mir gefällt das alles gar nicht. Habt ihr es Jessie erzählt?«

Trevor bückte sich, um den Zettel in den Papierkorb zu drücken. Die Zeitung fiel ihm ins Auge. Sie hatte Löcher an Stellen, an denen Worte ausgeschnitten worden waren. Er sah sich nach seiner Tante und seinem Onkel um. Sie stellten gerade die Spielfiguren auf das Brett. Tara sah blass aus und hatte die Stirn gerunzelt. Sie hielt sich den Magen, als hätte auch sie Krämpfe. Trevor hob die Zeitung ein wenig an. Er fühlte sich an Filme erinnert, in denen Lösegeldforderungen aus Zeitungsschnipseln auf Papier geklebt wurden. Taras Glas war leer. Die Furcht jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Ganz langsam richtete er sich wieder auf und entfernte sich unauffällig von dem Beweisstück im Papierkorb.

»Nein, ich habe Jessie so gut wie nichts erzählt. Sie war mit den Aufnahmen beschäftigt, und sie ist ist ohnehin schon so überängstlich.« Er sah seiner Tante mitten ins Gesicht. »Mir ist ein bisschen übel. Das liegt doch nicht am Soda, oder?«

»Ich fühle mich auch nicht besonders gut«, gab Tara zu.

Brenda beugte sich besorgt über Tara. »Habt ihr eine Magenverstimmung?«

»Sag du es mir«, antwortete Trevor herausfordernd. Eine Woge von Übelkeit brach über ihn herein. »Wir brauchen Jessie.«

Brenda rümpfte die Nase. »Ich bin durchaus fähig, zwei kleine Kinder zu versorgen, die sich den Magen verdorben haben.«

»Das hoffe ich«, sagte Tara, »weil ich mich jetzt übergeben werde.« Sie rannte zum Bad und hielt sich den Bauch.

Brenda wirkte im ersten Moment in die Enge getrieben, eilte ihr dann aber hinterher.