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Auf halber Höhe der Treppe verlangsamte Jessica ihre Schritte, und das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand. Sie nahm den Geruch dieser ganz speziellen Räucherstäbchen wahr, einen Geruch, den sie niemals vergessen würde. Zedernholz und Alaun. Sie atmete tief ein und wusste, dass ein Irrtum ausgeschlossen war. Der Gestank drang aus ihrem Zimmer und kroch durch den Spalt unter der Tür in den Flur hinaus. Jessica blieb einen Moment stehen und spürte, wie sich die Gereiztheit wieder einschlich, die sich immer einzustellen schien, sobald sie allein war, ein warnendes Flimmern in ihrem Gehirn, das eine innere Unruhe in ihrer Magengrube zurückließ.
»Jess?« Trevor stand am oberen Ende der Treppe und sah sie verwirrt an. »Was ist los?«
Sie schüttelte den Kopf, als sie an ihm vorbeiging und vor ihrer Zimmertür stehen blieb. Mit größter Behutsamkeit stieß sie die Tür auf. Eiskalte Luft strömte ihr entgegen und trug den penetranten Gestank der Räucherstäbchen mit sich. Jessica stand regungslos da, und ihr Blick richtete sich sofort auf das Fenster. Die Vorhänge flatterten in der Brise wie hauchzarte weiße Geister. Einen Moment lang hing Dunst dort, ein dichter weißer Nebel, der den Raum durchdrang. Als sie blinzelte, löste er sich auf oder verband sich mit dem dichten Nebel draußen.
»Es ist eiskalt hier. Warum hast du das Fenster aufgemacht? « Trevor eilte durch das Zimmer und schlug das Fenster zu. »Was ist das für ein ekelhafter Geruch?«
Jessica stand immer noch regungslos in der Tür, doch als sie sah, dass er zusammenzuckte, wurde sie schlagartig aktiv und eilte an seine Seite. »Trev?«
»Was ist das?« Trevor deutete auf das Symbol auf dem Bettvorleger.
Jessica holte tief Luft. »Manche Menschen glauben, sie könnten durch gewisse Zeremonien Geister um Beistand anflehen, Trevor. Was du vor dir siehst, ist ein plumper magischer Kreis.« Gebannt starrte sie die beiden Kreise an, einer innerhalb des anderen. Sie bestanden aus der Asche mehrerer Räucherstäbchen.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Im Moment noch gar nichts, weil sich nichts darin befindet.« Jessica kaute auf ihrer Unterlippe. Zwei Kreise hatten keinerlei Bedeutung. Sie waren einfach nur ein Ausgangspunkt. »Manche Menschen glauben, ohne einen geweihten magischen Kreis könnte man keinen Kontakt zu Geistern aufnehmen. Die Symbole zur Anrufung des Geistes müssten sich darin befinden.« Sie seufzte leise. »Wir sollten uns vorsichtshalber Taras Zimmer und dann deines vornehmen.«
»Du zitterst«, sagte Trevor.
»Ach ja?« Jessica rieb sich die Arme. Sie war entschlossen, nicht zu schreien. »Das muss wohl an der Kälte liegen. « Sie wollte zu Dillon laufen, damit er sie in die Arme nahm und tröstete, doch sie wusste, dass er jedes einzelne Bandmitglied aus dem Haus werfen würde, wenn er dieses Symbol sah. Und dann würde er nie mehr versuchen, Musik zu machen.
»Ich will Dad holen«, sagte Trevor, als sie Taras Zimmer betraten. »Mir gefällt das überhaupt nicht.«
Jessica schüttelte den Kopf. »Mir auch nicht, aber wir können es deinem Vater noch nicht sagen. Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Er besitzt ein unglaubliches Verantwortungsbewusstsein. Hör auf, den Kopf zu schütteln, es ist wahr. Er hat euch nicht alleingelassen, weil er euch nicht geliebt hat, sondern weil er der Meinung war, es sei das Beste für euch.«
»Blödsinn!« Trevor überzeugte sich davon, dass das Fenster verriegelt war und niemand die Sachen seiner Schwester in Unordnung gebracht hatte. »Wie konnte er es für richtig halten, fortzugehen, Jessie?«
»Nach dem Brand hat er ein Jahr im Krankenhaus verbracht und dann ist er mehr als ein Jahr lang physiotherapeutisch behandelt worden. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie schmerzhaft es ist, von Verbrennungen wie denen, die dein Vater erlitten hat, zu genesen. Oder davon, was er durchmachen musste. Und dann hat sich der Prozess fast zwei Jahre hingezogen. Nicht die eigentliche Verhandlung, sondern die gesamte rechtliche Abwicklung. Da der Mörder nie gefunden wurde, konnte Dillon nicht von jedem Verdacht freigesprochen werden. Er hat sich für alle verantwortlich gefühlt, und er hat die Schuld an allem, was passiert ist, auf sich genommen. Sein schlimmster Feind ist er selbst. In seiner Vorstellung hat er Vivian, die Band, euch Kinder und sogar meine Mutter und mich im Stich gelassen. Ich will nicht riskieren, dass er seine Musik wieder aufgibt. Jemand will, dass wir fortgehen, und derjenige weiß, womit er mir Angst einjagen kann.Aber dieser Streich war gegen mich gerichtet, nicht gegen euch.«
»Ich weiß, dass du dachtest, jemand wollte uns etwas antun.« Trevor schüttelte den Kopf, als sie sein Zimmer betraten. »Du hättest es mir sagen sollen. Deshalb hast du uns zu ihm gebracht.«
Sie nickte. »Er würde niemals zulassen, dass euch etwas zustößt. Nie im Leben.«
Trevors Zimmer war tadellos aufgeräumt. Er hatte gar nicht erst so getan, als hätte er es benutzt. »Was sollte dieses ganze Gerede über Versicherungssummen? Hat Brenda wirklich eine Versicherung auf uns abgeschlossen? Geht das überhaupt? Mir ist das alles nicht geheuer.«
»Leider sieht es so aus, als hätte sie es getan. Ich werde bei der erstbesten Gelegenheit mit eurem Vater darüber sprechen.« Jessica seufzte wieder. »Ich verstehe das alles nicht. Weshalb sollte uns jemand unbedingt vertreiben wollen und schreckt nicht mal davor zurück, uns mit einem magischen Kreis Angst einzujagen? Sie alle kennen Dillon. Ihnen muss doch klar sein, dass er jeden, der versucht, mir Angst einzujagen, von der Insel jagt. Wenn ihnen die Musik so wichtig ist, warum gehen sie dann ein solches Risiko ein?«
»Ich glaube, es ist Brenda«, sagte Trevor. »Robert hat kein Geld mehr, und sie macht meinem Dad schöne Augen. Du kommst, und Dad macht dir schöne Augen. Die Missgunst regt sich. Der Fall ist gelöst. Wieder ist es die kaltherzige Frau, die auf Geld aus ist.«
»Danke, Sherlock, schieb es auf die Frau, warum auch nicht. Lass uns wieder runtergehen und Tara suchen. Wahrscheinlich hat sie inzwischen schon die Küche aufgeräumt. «
»Was glaubst du wohl, warum ich mich hier oben herumdrücke? «
Jessica war froh, dass sie das Geschirrtuch noch in der Hand hielt. Sie holte damit aus, als sie ihm die Treppe hinunterfolgte.
Zu Trevors großer Freude hatte Tara schon in der Küche saubergemacht, und daher verbrachten die drei die folgenden Stunden mit der Erkundung des Hauses. Es machte Spaß, einen Raum nach dem anderen zu entdecken. Dillon besaß antike und brandneue Musikinstrumente aller Art. Es gab ein Spielzimmer, in dem die neuesten elektronischen Geräte standen. Jessica musste Trevor aus dem Billardzimmer zerren. Der Fitnessraum weckte ihr Interesse, doch die Zwillinge schleiften sie weiter. Schließlich machten sie es sich in der Bibliothek auf dem riesigen Sofa gemütlich, umgeben von Büchern und Antiquitäten. Jessica fand den Weihnachtsklassiker von Dickens und begann, ihn den Zwillingen laut vorzulesen.
»Jess! Verflucht nochmal, Jess, wo steckst du?« Die Stimme kam dröhnend aus dem Keller, schneidend, zornig und frustriert.
Jessica legte langsam das Buch zur Seite, als Dillon ein zweites Mal nach ihr rief.
Tara nahm Jessica erschrocken an der Hand. Trevor lachte schallend. »Du wirst angebrüllt, Jessie. Ich habe noch nie gehört, dass dich jemand anbrüllt.«
Jessica verdrehte die Augen zum Himmel. »Vermutlich sollte ich den königlichen Befehl befolgen.«
»Wir kommen einfach mit«, beschloss Trevor und bemühte sich, lässig zu wirken, als Dillon wieder lautstark nach ihr rief.
Jessica verbarg ihr Lächeln. Trevor war entschlossen, sie zu beschützen. Dafür liebte sie ihn umso mehr. »Dann lasst uns gehen, bevor er einen Herzinfarkt bekommt.«
»Was hast du angestellt, um ihn so wütend zu machen?«, fragte Tara.
»Ich habe überhaupt nichts angestellt«, erwiderte Jessica entrüstet. »Ich brächte es doch gar nicht fertig, ihn in Wut zu versetzen.«
Trevor zog an ihrem rotgoldenen Haar. »Du könntest sogar den Papst in Rage bringen, Jessie. Und du köderst ihn.«
»Stimmt doch gar nicht!« Jessica rief ihm durch den Flur nach, der zur Treppe führte. »Du ungezogener Bengel. Eines Nachts hat sich ein Außerirdischer deiner bemächtigt, während du geschlafen hast. Bis dahin warst du lieb und nett.«
Trevor rannte direkt außerhalb ihrer Reichweite rückwärts vor ihr her und lachte, als er sich der Treppe näherte. »Ich bin immer noch lieb und nett, Jessie. Du kannst es nur nicht vertragen, die Wahrheit zu hören.«
»Dir werde ich die Wahrheit zeigen«, warnte ihn Jessica und tat so, als wollte sie ihn packen.
Trevor trat rückwärts auf die oberste Stufe und rutschte unerwartet aus, so heftig, dass er den Halt verlor. Einen Moment lang wankte er bedrohlich und fuchtelte bei seinem Versuch, sich am Geländer festzuhalten, wüst mit den Armen. Jessica konnte die Furcht auf seinem jungen Gesicht sehen. Sie sprang mit einem Satz vor, um ihn zu packen, betäubt vor Entsetzen. Ihre Finger streiften den Stoff seines Hemdes, ohne ihn halten zu können. Tara streckte ihrem Zwillingsbruder beide Hände entgegen und schrie laut, als Trevor in die Tiefe stürzte.
Dillon nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinaufsprang, denn es ärgerte ihn, dass Jessica ihm nicht geantwortet hatte, obwohl er ganz genau wusste, dass sie ihn gehört hatte. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, sie zu erwürgen, nachdem sie Don, diesem Idioten, erklärt hatte, worum es ihm ging.Was war denn so schwierig daran, den richtigen Takt zu hören? Die richtigen Pausen? Taras Schrei ließ ihn aufblicken, und er sah Trevor nach hinten fallen. Im ersten Moment stand die Zeit still, und das Herz pochte ihm bis zum Hals. Der Junge prallte so fest gegen seine Brust, dass auf einen Schlag jegliche Luft aus seiner Lunge gepresst wurde. Schützend schlang er die Arme um seinen Sohn, als beide die Treppe hinunterpurzelten und schwer auf dem Kellerboden landeten.
Jessica setzte sich in Bewegung, und Tara folgte ihr auf den Fersen. Als ihr Fuß die erste Stufe berührte, merkte sie, dass sie auszurutschen drohte. Sie klammerte sich an das Geländer und fing Tara ab. »Vorsicht, Kleines, hier kann man leicht ausrutschen.« Sie hielten sich beide am Geländer fest, als sie nach unten eilten.
»Sind die beiden tot?«, fragte Tara furchtsam.
Jessica konnte gedämpftes Fluchen und Trevors Schmerzenslaute hören, als Dillon seine Hände nicht allzu sanft über seinen Sohn gleiten ließ, um ihn nach Verletzungen abzusuchen. »Es klingt nicht so«, bemerkte sie. Sie kniete sich neben Trevor, und ihre Finger strichen dem Jungen zärtlich das Haar aus der Stirn. »Dir fehlt doch nichts, Schätzchen?«
»Ich weiß es nicht.« Trevor, der immer noch auf seinem Vater lag, brachte ein schiefes Grinsen zustande.
Dillon packte Jessicas Hand, und sein Daumen, der über die Innenseite ihres Handgelenks glitt, konnte ihren rasenden Herzschlag fühlen. »Ihm fehlt nichts, er ist auf mir gelandet. Ich bin hier derjenige mit den blauen Flecken. « Ein Gemisch aus Furcht und Wut strömte durch seinen Körper. Seit Jahren hatte er keine solche Panik mehr verspürt. Es hatte ihm blankes Entsetzen eingejagt, Trevor die Treppe hinunterfallen zu sehen. »Ich kriege keine Luft. Das Kind wiegt eine Tonne.« Dillon wusste nicht, ob er Trevor umarmen oder ihn schütteln sollte, bis seine Zähne klapperten.
Jessica strich das unbändige wellige Haar aus Dillons Stirn zurück. »Du atmest. Danke, dass du ihn aufgefangen hast.«
Ihre Berührung erschütterte ihn. Es war schmerzhaft, eifersüchtig auf seinen Sohn zu sein, auf die zärtlichen Blicke, mit denen sie ihn ansah, auf die Selbstverständlichkeit im Umgang der beiden miteinander. Dillon wollte sie vor aller Augen an sich reißen und sie küssen. Sie mit Haut und Haar verschlingen. Sie nehmen. Sie versetzte seinen Körper in Aufruhr, brach ihm das Herz und ließ jede klaffende Wunde in seiner Seele wieder aufreißen. Sie ließ ihn wieder etwas empfinden und zwang ihn zu leben, wenn es doch viel besser war, abgestumpft zu sein.
»Das hast du prima gemacht«, stimmte Trevor ihr zu.
Dillon stieß den Jungen zur Seite und sah ihn finster an. Er war wütend, weil dieser ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte und weil sein Leben auf den Kopf gestellt wurde. »Lass den Blödsinn sein, Junge, du hättest dich ernsthaft verletzen können. Du bist zu alt, um so unbedacht auf der Treppe herumzuspielen. Getobt wird draußen, da kannst du wenigstens nichts kaputt machen, was nicht dir gehört, oder unschuldige Dritte durch deine Dummheiten verletzen.«
Das Lächeln auf Trevors Gesicht erlosch. Röte stahl sich auf seine Wangen. Tara keuchte empört: »Trevor hat deiner blöden Treppe nichts getan.«
»Und du musst lernen, wie man mit Erwachsenen spricht, junge Dame«, gab Dillon zurück und richtete seinen finsteren Blick auf ihr wütendes kleines Gesicht.
Jessica stand auf und zog Tara mit sich hoch. Sie streckte eine Hand aus, um Trevor auf die Füße zu helfen. »Trevor ist auf etwas ausgerutscht, genau wie ich, Dillon«, teilte sie ihm eisig mit. »Vielleicht solltest du deine anderen Gäste bitten, vorsichtiger zu sein und nichts auf der Treppe zu verschütten, worauf andere Leute ausgleiten können, statt voreilige Schlussfolgerungen über Trevors Benehmen zu ziehen.«
Dillon erhob sich langsam. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. »Was ist auf der Treppe verschüttet worden?«
»Ich habe mir nicht die Zeit genommen nachzusehen«, antwortete Jessica.
»Dann sehen wir es uns jetzt an.« Er stieg die Stufen hinauf, und Jessica folgte dicht hinter ihm.
Die oberste Stufe glänzte und war mit einer öligen Schicht überzogen. Dillon kauerte sich hin, um es genauer zu inspizieren. »Das sieht aus wie normales Speiseöl aus der Küche.« Er sah auf die Zwillinge hinunter, die am unteren Ende der Treppe warteten, als verdächtigte er sie.
»Sie haben hier kein Öl verschüttet. Sie waren die ganze Zeit mit mir zusammen«, fauchte Jessica. Sie streckte eine Hand an ihm vorbei, berührte das Öl mit einer Fingerspitze und steckte den Finger in den Mund. »Pflanzenöl. Jemand muss es auf die Stufe gegossen haben.« Öl wurde bei magischen Zeremonien benutzt, um Geister anzurufen. Diese Information war ihr im Gedächtnis haftengeblieben.
»Oder jemand hat versehentlich ein paar Tropfen verschüttet und es nicht bemerkt.« Dillons Blick glitt über sie. »Außerdem habe ich den Kindern nicht die Schuld zugeschoben. Auf den Gedanken, sie könnten es gewesen sein, bin ich gar nicht gekommen. Du bist hier diejenige, die sich vor voreiligen Schlussfolgerungen hüten sollte, Jess.«
»Dann fragen wir doch die anderen«, sagte sie herausfordernd.
Er seufzte. »Du bist wütend auf mich.« Er hielt ihr seine Hand in dem dünnen Lederhandschuh hin, eine instinktive Geste. Als er erkannte, was er getan hatte, ließ er sie wieder sinken.
»Natürlich bin ich wütend auf dich, Dillon, was hast du denn erwartet?« Jessica legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Behandle mich nicht wie ein Kind und spar dir bei mir auch diesen aufreizend herablassenden Tonfall. Ich sagte dir doch schon, dass sich für die Unfälle, die zu Hause passiert sind, leicht Erklärungen finden ließen. Ich garantiere dir, dass niemand in diesem Haus zugeben wird, Speiseöl auf der Treppe vergossen zu haben.«
Er zuckte die Achseln. »Und wenn schon? Das war kein Anschlag auf Trevor und Tara – wie könnte es das auch gewesen sein? Wir machen dort unten Aufnahmen. Was könnte jemanden auf den Gedanken bringen, die Kinder würden herunterkommen? Niemand hätte vorhersagen können, dass ich dich rufen würde.«
»Ich bin anderer Meinung. Ich liebe Musik, ich bin Toningenieurin, und das weiß hier jeder. Und du hast vorhin in der Küche gesagt, die Zwillinge könnten später hinunterkommen und euch zusehen.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Alle, einschließlich Brenda, sind im Studio. Wie erklärst du dir das?«
»Die Zwillinge waren die ganze Zeit mit mir zusammen, Dillon«, entgegnete Jessica, und ihre grünen Augen begannen zu glühen. »Wie erklärst du dir das? Und da wir gerade von Brenda sprechen – wieso um Himmels willen hast du dieser Frau deine Einwilligung gegeben, eine Versicherung auf dich und deine Kinder abzuschließen? «
»Sie gehört zur Familie, Jessie, das ist doch harmlos, wenn auch kostspielig«, sagte er mit einem gleichgültigen Achselzucken, »und ihr gibt es ein Gefühl von Zugehörigkeit. «
»Mir gibt es das Gefühl, ein Geier zieht seine Kreise über unseren Köpfen«, murmelte Jessica. Sie folgte Dillon die Stufen hinunter zu den Zwillingen, die sie gespannt erwarteten.
»He, wir verplempern unsere Zeit«, rief Brian. »Kommt ihr beide jetzt und arbeitet oder werden wir über den positiven versus den negativen Fluss des Universums um uns herum diskutieren? Was geht dort draußen vor?«
»Wir sind die Treppe runtergefallen«, sagte Dillon grimmig. »Wir sind gleich da.« Er beugte sich dicht zu Jessica vor. »Hol tief Luft,Tigermama, und reiß mir nicht den Kopf ab«, sagte er spöttisch zu ihr, um die Spannung zwischen ihnen abzuschwächen. »Zieh die Krallen ein.« Es belustigte und freute ihn, wie glühend sie seine Kinder in Schutz nahm.
Jessica sah die Zwillinge finster an. Beide wichen unschuldig zurück, schüttelten gleichzeitig die Köpfe und waren tief davon beeindruckt, dass ihr Vater den geheimen Spitznamen kannte, den sie Jessica gegeben hatten. »Ich habe es ihm nicht gesagt. Ehrlich«, fügte Trevor hinzu, als sie ihn weiterhin finster ansah. »Und er hat die Reißzähne nicht erwähnt.«
»Sie hat Reißzähne?«, fragte Dillon seinen Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen. Er war ja so erleichtert, weil der Junge sich bei dem Sturz nicht verletzt hatte.
»Oh, ja«, antwortete Trevor. » Allerdings. Sie wachsen ihr von einem Augenblick zum anderen. Fürchte um dein Leben, wenn du dich mit uns anlegst.«
Dillon grinste plötzlich, und in den blauen Tiefen seiner Augen blitzte für einen flüchtigen Moment der Schalk auf. »Glaub mir, mein Sohn, das täte ich.«
Trevor stand vollkommen still da, denn die Gefühle, die ihn bei den Worten seines Vaters durchströmten, erschütterten ihn. Jessicas Hand streifte seine Schulter, um ihm stumm ihr Verständnis auszudrücken.
»Komm schon, Jessica, wir könnten ein bisschen Hilfe gebrauchen.« Dillon nahm ihren Arm und führte sie wie eine Gefangene ab. Er sah sich nach den Zwillingen um. »Wenn ihr beide ruhig sein könnt, dürft ihr mitkommen und zusehen. Brenda! Ich habe Arbeit für dich.«
Jessica schnitt Trevor hinter Dillons Rücken eine Grimasse, die die Kinder zum Lachen brachte, als Dillon sie ins Tonstudio schleifte.
»Arbeit?« Brenda streckte sich träge, als sie aufstand. »Das ist doch sicher nicht dein Ernst, Dillon. Ich habe seit Jahren nicht mehr gearbeitet. Die Vorstellung hat etwas Erschreckendes an sich.«
»Das schaffst du schon. Auf der Treppe ist Öl, eine Menge Öl. Es muss aufgewischt werden, weil die Treppe sonst gefährlich ist. Da ich mein Personal fortgeschickt habe und wir alle einspringen, ist das deine Aufgabe für den heutigen Tag.«
Brenda riss schockiert die Augen auf. »Das meinst du doch nicht ernst, Dillon.Was hast du dir überhaupt dabei gedacht, deinem Personal freizugeben?«
»Dass die Leute Weihnachten bei ihren Familien verbringen wollen«, log Dillon. In Wahrheit hatte er keine Zeugen für seinen Misserfolg gewollt, denn ihm graute vor dem gewagten Unterfangen, mit der Band zu arbeiten. »Du wusstest doch, dass kein Personal da ist und dass wir arbeiten würden. Du hast dich einverstanden erklärt, bei der Hausarbeit mitzuhelfen, wenn ich dir erlaube mitzukommen.«
»Ja klar, im Bad die Handtücher aufschütteln, das schon, aber doch keine Schweinerei auf der Treppe beseitigen. Du«, sagte sie und deutete auf Tara, »könntest diese Kleinigkeit gewiss übernehmen.«
Bevor Tara etwas darauf erwidern konnte, schüttelte Dillon den Kopf. »Los, Brenda, mach schon. Tara und Trevor, setzt euch dort drüben hin. Jessica, sieh dir die Notensätze an und hör in die Aufnahmen rein. Sag mir, ob du dir einen Reim darauf machen kannst. Ich stehe kurz davor, mir die Haare auszureißen.« Er zog Jessica zu einem Stuhl und presste seine Hände auf ihre Schultern, bis sie saß. »Es ist ein Alptraum.«
Jessica blickte auf die Noten hinunter. Es war deutlich zu erkennen, dass Dillons Feinmotorik gelitten hatte, denn seine Notenschrift war ein kaum leserliches Gekrakel. Sie verbrachte eine Stunde damit, sich Dillons Notensätze anzusehen und in die Tonspuren hineinzuhören, die er bereits aufgenommen hatte. Das Problem war, dass die Bandmitglieder in ihren Köpfen nicht dasselbe hörten wie Dillon. Don war kein Leadgitarrist; seine Begabung lag im geschickten Umgang mit dem Bass. Für Jessica stand fest, dass die Band einen Leadgitarristen brauchte, aber sie war nicht sicher, wer Dillons Musik so spielen könnte, wie er sie gespielt haben wollte. Die meisten Musiker waren eitel. Keiner würde sich von Dillon sagen lassen, wie er zu spielen hatte.
Sie sah, dass alles wieder ins Stocken geraten war. Brian schnitt ihr durch die Glasscheibe eine Grimasse. Paul sah sie mit besorgtem Gesichtsausdruck kopfschüttelnd an. Dillon lief unruhig auf und ab und füllte das Studio mit der Brillanz seines Genies aus, in die zunehmende Frustration und Ungeduld einflossen.
»Warum kann es bloß keiner von euch hören?« Dillon schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und stürmte zu der Gitarre, die an der Wand lehnte. »Was ist denn so schwierig daran, den Takt zu erfassen? Die Melodie muss langsamer gespielt werden, das Riff wirkt gehetzt. Es geht nicht darum zu zeigen, was für ein ungeheuer guter Musiker der Einzelne ist, es geht um die Harmonie, um eine gelungene Mischung, die qualmt.« Er hielt die Gitarre zärtlich an sich gedrückt, und das Verlangen, das zu spielen, was er in seinem Kopf hörte, war so stark, dass sein Körper bebte.
Als sie ihn durch die Glasscheibe beobachtete, fühlte Jessica, wie ihr Herz in Stücke sprang.Wenn es um seine Musik ging, war Dillon immer Perfektionist gewesen. In seinen Kompositionen, seinen Texten und seinem Spiel kam seine Leidenschaft zum Vorschein. Genau darauf war der gewaltige Erfolg der Band zurückzuführen, und das wussten sie alle. Sie wollten es wieder, und sie setzten darauf, dass er es ihnen ermöglichte.
Dillon sah Don finster an. »Versuch es nochmal und mach es diesmal richtig.«
Don schwitzte sichtlich und warf den anderen unbehagliche Blicke zu. »Ich werde es nicht anders spielen als beim letzten Mal, Dillon. Ich bin nicht du. Ich werde niemals du sein. Wenn du mir was von einer Mischung, von Qualm und von Saiten erzählst, höre ich noch lange nicht, was ich deiner Meinung nach hören soll. Ich bin nicht du.«
Dillon fluchte. Die Glut in seinen blauen Augen wurde immer intensiver. Don rückte von ihm ab und hob eine Hand. »Ich sage dir eines – wir müssen einen anderen Leadgitarristen finden, denn ich bin nicht der Richtige. Und ganz gleich, wen wir uns holen, Dillon, er wird nicht du sein. Du wirst niemals zufrieden sein.«
Dillon zuckte zusammen, als hätte Don ihn geohrfeigt. Die beiden Männer sahen einander lange an, und dann wandte sich Dillon abrupt ab. Er blieb stehen, ließ den Kopf hängen und atmete tief durch, um seine Verzweiflung zu unterdrücken. Er hätte es niemals versuchen sollen, niemals glauben dürfen, er könnte es schaffen. Lautstark verfluchte er seine Hände, seinen unbrauchbaren vernarbten Körper und seine Leidenschaft für die Musik.
Taras Augen füllten sich mit Tränen, und sie begrub ihr Gesicht an der Schulter ihres Bruders. Trevor schlang einen Arm um seine Schwester und sah Jessica an.
Dillon kehrte schlagartig in die Realität zurück. Jessica konzentrierte sich auf das Mischpult und sah ihn nicht an. »Jess!« Ihr Anblick war eine Inspiration, ein unverhofftes Geschenk! Er schlich sich an wie ein Panther, packte ihren Arm und zog sie an sich. »Du wirst es tun, Jess, ich weiß, dass du hörst, was ich höre. Du hast es erfasst, tief in deinem Innern. Diese Verbindung hat schon immer zwischen uns bestanden. Komm her und spiele diesen Song so, wie er gedacht ist.« Er wollte sie zur Tür zerren. »Du spielst schon seit deinem fünften Lebensjahr Gitarre.«
»Was denkst du dir bloß? Ich kann nicht mit deiner Band spielen!« Jessica war entsetzt. »Don wird es hinkriegen. Hör auf, ihn anzuschreien, und lass ihm Zeit.«
»Er wird es nie richtig hinkriegen, er liebt die Melodie nicht. Man muss sie lieben, Jessica. Denk an all diese Nächte, in denen wir in der Küche gesessen und gespielt haben. Die Musik ist in dir, du lebst und atmest sie. Für dich ist sie genauso lebendig wie für mich.«
»Aber das war etwas anderes, das waren nur wir beide. «
»Ich weiß, dass du brillant Gitarre spielst und das Spielen niemals aufgeben würdest. Du hörst die Musik so, wie ich sie höre.«
Jessica sah die Zwillinge an und erhoffte sich Unterstützung von ihnen, doch beide strahlten über das ganze Gesicht. »Sie spielt täglich, manchmal stundenlang«, warf Tara hilfreich ein.
»Du kleine Verräterin«, zischte Jessica. »Der enge Umgang mit deinem Bruder schadet dir. Zur Strafe spült ihr beide eine Woche lang das Geschirr.«
»Beide?«, mischte sich Trevor entrüstet ein. »Ich habe doch gar nichts getan. Komm schon, Tara, das sollen die beiden unter sich austragen. Wir können uns so lange dieses Spielzimmer genauer ansehen.«
»Deserteure«, schalt Jessica die Zwillinge. »Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Das werde ich mir merken.« Sie hielt die Tür zum Studio mit ihrem Fuß zu, während Dillon sie hineinstoßen wollte.
»Es macht bestimmt Spaß, Tante Brenda beim Treppeputzen zuzusehen«, sagte Tara schelmisch. Trevor grinste von einem Ohr zum anderen, als er ihr aus dem Studio folgte.
»Es ist nicht zu übersehen, dass du die beiden großgezogen hast«, sagte Dillon mit seinen Lippen an ihrem Ohr und einem Arm um ihre Taille. »Sie haben beide ein freches Mundwerk.«
»Hör auf mit diesem Affenzirkus! Die ganze Band grinst sich schon eins!« Jessica stieß ihn von sich, strich demonstrativ ihre Kleidung und ihr Haar glatt und reckte das Kinn in die Luft. »Ich werde es tun, Dillon. Ich glaube, ich habe eine Ahnung, worum es dir geht, aber es wird seine Zeit brauchen, sie umzusetzen. Schrei mich bei der Arbeit kein einziges Mal an, hast du verstanden? Du wirst deine Stimme mir gegenüber nicht erheben, oder ich verlasse das Studio, bevor du weißt, wie dir geschieht. «
»Ich wünschte, das könnte ich auch mal ungestraft sagen«, bemerkte Brian.
»Ihr könnt alle Pause machen. Jessica wird uns aus der Patsche helfen.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Sie sah Dillon finster an. »Ich sehe nur mal, ob ich dahinterkomme, was du meinst, und wenn ich es hinkriege, spiele ich es euch vor. Hast du was dagegen, Don?«
»Ganz im Gegenteil. Ich bin dir dankbar, Jess.« Don lächelte zum ersten Mal, seit sie das Studio betreten hatten. »Schrei, wenn du Hilfe brauchst. Dann kommen wir alle angerannt.«
»Na prima, das Studio ist schalldicht.« Jessica nahm die Gitarre und spielte ein beliebiges Blues-Riff. Ihre Finger wanderten über die Saiten, um ein Gespür für das Instrument zu bekommen, und ihr Gehör stimmte sich auf seinen Klang ein. »Ihr lasst mich hier mit Dillon allein, vergesst das nicht.«