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»Wovon zum Teufel sprichst du?« Urplötzlich sah Dillon so bedrohlich aus, dass Jessica tatsächlich vor ihm zurückwich.

Sie hob eine Hand, denn sie fürchtete sich tatsächlich mehr vor ihm, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. In seinen Augen stand etwas Gnadenloses. Etwas Schreckliches. Und zum ersten Mal erkannte sie, dass er ein gefährlicher Mann war. Es hatte nie in Dillons Naturell gelegen, doch die Ereignisse hatten ihn ebenso verbogen und geformt wie sie selbst. Sie durfte ihn nicht weiterhin beharrlich als den Mann ansehen, den sie so sehr geliebt hatte. Er war verändert. Sie konnte die explosive Gewalttätigkeit in ihm fühlen, die dicht unter der Oberfläche wogte.

War es ein Fehler gewesen, zu Dillon zu kommen? Seine Kinder zu ihm zu bringen? Ihre oberste Pflicht bestand darin, für das Wohl von Trevor und Tara zu sorgen. Sie liebte die beiden wie eine Mutter oder zumindest wie eine ältere Schwester.

»Was zum Teufel führst du im Schilde?«, fauchte er sie an.

»Was ich …« Sie war so baff, dass sie ihren Satz abreißen ließ. Ihre Furcht räumte das Feld für eine abrupte Woge von Wut. Sie wich nicht mehr vor ihm zurück, sondern ging sogar einen Schritt auf ihn zu, während ihre Hände sich zu Fäusten ballten. »Du glaubst, ich erzähle dir ein Lügenmärchen, Dillon? Glaubst du etwa, ich hätte die Kinder aus einer Laune heraus heimlich mitten in der Nacht aus einer Umgebung herausgerissen, die ihnen vertraut ist, sie aus dem Haus gezerrt und sie von ihren Freunden fortgeschleppt, um einen Mann zu sehen, den zu lieben sie keinerlei Grund haben und der sie ganz offensichtlich nicht hier haben will? Weil mir gerade danach zumute war? Und weshalb? Wegen deines blöden, erbärmlichen Geldes?« Sie verhöhnte ihn mit ihren Worten und schleuderte ihm seinen eigenen Zorn ins Gesicht zurück. »Darauf läuft doch immer wieder alles hinaus, oder nicht?«

»Wenn ich sie ganz offensichtlich nicht hier haben will, weshalb solltest du sie sonst hierherbringen?« Die Wut in seinen blauen Augen konnte sich mit ihrer messen, denn ihre Worte hatten ihm eindeutig einen Stich versetzt.

»Du hast Recht, wir hätten nicht herkommen sollen. Es war dumm zu glauben, du hättest dir noch genug Menschlichkeit bewahrt, um dir etwas aus deinen eigenen Kindern zu machen.«

Zwei starke, leidenschaftliche Persönlichkeiten waren aneinandergeraten, und der Ausgang war ungewiss. Es herrschte Stille, während Jessicas Herz vor Wut hämmerte und ihre Augen ihn lodernd ansahen. Dillon betrachtete sie lange. Er machte den ersten Schritt, indem er hörbar seufzte. Die Anspannung ließ nach, und er begab sich mit seiner gewohnt lässigen Anmut wieder an seinen Schreibtisch. »Wie ich sehe, hast du eine hohe Meinung von mir, Jessica.«

»Du hast mich beschuldigt, eine habgierige Hexe zu sein, die es auf dein Geld abgesehen hat und den Hals nicht voll kriegen kann«, wandte sie ein. »Ich würde sagen, du hast eine ziemlich schlechte Meinung von mir.« Sie reckte ihm ihr Kinn entgegen, und ihr Gesicht war steif vor Stolz. »Ich muss schon sagen, während du hier mit Beschuldigungen um dich wirfst, dass du nicht mal den Anstand besessen hast, meinen Brief zu beantworten, in dem ich dir vorgeschlagen habe, die Kinder sollten nach dem Tod meiner Mutter zu dir ziehen.«

»Ich habe keinen solchen Brief bekommen.«

»Oh doch, Dillon. Du hast ihn ebenso ignoriert, wie du uns ignoriert hast. Wenn ich so geldgierig bin, warum hast du dann deine Kinder in all diesen Monaten bei mir gelassen? Mom war tot, das wusstest du, und doch hast du keinen Versuch unternommen, die Kinder zu dir zurückzuholen, und du hast nicht auf meinen Brief reagiert.«

»Wenn du Dinge behauptest, von denen du keine Ahnung hast, solltest du vielleicht daran denken, dass du dich in meinem Haus aufhältst. Ich habe euch nicht abgewiesen, obwohl du nicht einmal den Anstand besessen hast, mich vorher anzurufen.«

Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ist das eine Drohung? Was soll das heißen? Willst du mich bei diesem Unwetter vor die Tür setzen oder mich gar ins Bootshaus oder in die Hütte des Hausmeisters schicken? Jetzt mach mal halblang, Dillon. Dazu kenne ich dich zu gut!«

»Ich bin nicht mehr der Mann, den du früher kanntest, Jess, und der werde ich auch nie mehr sein.« Er verstummte einen Moment lang und beobachtete ihr ausgeprägtes Mienenspiel. Als sie den Eindruck machte, sie wollte etwas sagen, hielt er eine Hand hoch. »Wusstest du, dass deine Mutter mich zwei Tage vor ihrem Tod besucht hat?« Seine Stimme klang auffallend ruhig.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie begriff, was er da sagte. Ihre Mutter hatte Dillon aufgesucht, und zwei Tage später war sie bei diesem Unfall, der mit Sicherheit keiner gewesen war, ums Leben gekommen. Jessica bewegte sich nicht. Sie hätte sich nicht von der Stelle rühren können, während sie diese Information verarbeitete. Sie wusste, dass die beiden Vorfälle miteinander in Verbindung stehen mussten. Sie konnte seinen Blick auf sich fühlen, aber in ihren Ohren hörte sie ein seltsames Tosen. Ihre Knie wurden plötzlich weich, und der Raum schien zu kippen. Sie hatte Trevor und Tara zu ihm gebracht.

»Jessica!« Er sagte mit scharfer Stimme ihren Namen. »Werd mir jetzt bloß nicht ohnmächtig. Was ist los?« Er zog einen Stuhl vor und setzte sie darauf und drückte ihren Kopf nach unten. Das Leder, das seine Handfläche bedeckte, fühlte sich auf ihrem Nacken ganz seltsam an. »Atme. Atme einfach nur durch.«

Sie holte Atem und sog die Luft in tiefen Zügen ein, um die Schwindelgefühle abzuwehren. »Ich bin einfach nur müde, Dillon, sonst fehlt mir nichts, wirklich nicht.« Selbst in ihren eigenen Ohren klangen ihre Worte nicht überzeugend.

»Dass deine Mutter hier war, hat dich irgendwie aus der Fassung gebracht, Jess. Weshalb sollte dich das stören? Sie hat mir oft geschrieben oder hier angerufen, um mich über die Fortschritte der Kinder auf dem Laufenden zu halten.«

»Weshalb hätte sie hierherkommen sollen?« Jessica zwang sich zu atmen und wartete darauf, dass sich das Schwindelgefühl vollständig legte. Dillons Griff in ihrem Nacken war fest; er würde nicht zulassen, dass sie sich aufrecht hinsetzte, ehe sie sich vollständig erholt hatte. »Mir fehlt nichts, wirklich nicht.« Sie stieß gegen seinen Arm, weil sie den Körperkontakt nicht wollte. Er war ihr zu nah. Und er war zu charismatisch. Und er hatte zu viele dunkle Geheimnisse.

Dillon ließ sie abrupt los, fast so, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er rückte von ihr ab und zog sich wieder in die Schatten hinter dem Schreibtisch zurück, unter dem er seine Hände verbarg, obwohl sie mit Handschuhen bedeckt waren. Jessica war sicher, dass seine Hände gezittert hatten.

»Wieso sollte es dich aus der Fassung bringen, dass deine Mutter mich besucht hat? Und wie kommst du auf den Gedanken, jemand wolle den Zwillingen etwas antun? « Die Wut zwischen ihnen hatte sich aufgelöst, als sei sie nie da gewesen, und seine Stimme war wieder zart, einschmeichelnd und so sanft, dass es ihr zu Herzen ging. »Ist es schmerzhaft für dich, über sie zu reden? Ist es noch zu früh?«

Jessica biss die Zähne zusammen, um die Wirkung abzuwehren, die er auf sie ausübte. Sie hatten einander früher einmal so nahegestanden. Ihr Leben war von seiner Gegenwart erfüllt gewesen, von seinem Lachen und seiner Wärme. Wenn er zu Hause war, hatte er dem gesamten Haushalt ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Es war schwierig, ihm gegenüberzusitzen und durch seine rauchige Stimme in diese Zeiten der Kameradschaft zurückgeworfen zu werden, wenn sie wusste, dass er jetzt ein anderer Mensch war.

»Jemand hatte sich an dem Wagen meiner Mutter zu schaffen gemacht.« Die Worte sprudelten überstürzt heraus. Jessica hob eine Hand, um seine unvermeidlichen Einwände aufzuhalten. »Lass mich erst ausreden, bevor du mir sagst, ich sei verrückt. Ich weiß, was im Polizeibericht stand. Ihre Bremsen haben versagt. Sie ist über eine Klippe gefahren.« Sie wählte ihre Worte sorgsam. »Ich habe akzeptiert, dass es ein Unfall war, doch dann folgten weitere Unfälle. Anfangs waren es nur beunruhigende Kleinigkeiten wie das Gebläse eines Motors, das sich losreißt und sich durch die Motorhaube und die Windschutzscheibe meines Wagens bohrt.«

»Was?« Er setzte sich aufrecht hin. »Ist jemand verletzt worden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Tara war gerade auf den Rücksitz geklettert.Trevor war nicht im Wagen. Ich habe ein paar Kratzer abbekommen, nichts Ernstes. Der Mechaniker hatte eine simple Erklärung für den Vorfall, aber mir hat er Sorgen bereitet. Und dann kam die Geschichte mit dem Pferd. Trevor und Tara reiten jeden Donnerstag auf einem nahen Gestüt. Jede Woche um dieselbe Uhrzeit. Trevs Pferd hat verrückt gespielt, es hat sich aufgebäumt und sich im Kreis gedreht und gekreischt, es war einfach furchtbar. Das Pferd wäre fast auf seinen eigenen Rücken gefallen. Sie haben im Blut des Tieres ein Rauschmittel entdeckt.« Sie sah ihm fest ins Gesicht. »Das hier habe ich im Stroh in der Box des Pferdes gefunden. « Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als sie ihm das Plektron mit dem unverwechselbaren Design reichte, das vor so vielen Jahren als Geschenk für Dillon Wentworth angefertigt worden war. »Trevor hat zugegeben, es könnte in seiner Tasche gesteckt haben und herausgefallen sein. Das und andere Dinge waren den Kindern anonym zugeschickt worden.«

»Ich verstehe.« Dillons Stimme klang grimmig.

»Die Besitzer des Reitstalls glauben, dem Pferd sei ein Streich gespielt worden, sie sagen, das käme manchmal vor. Die Polizei war der Meinung, Trevor sei der Täter gewesen, und sie haben ihn in die Mangel genommen, bis ich einen Anwalt hinzugezogen habe. Trevor würde so etwas niemals tun. Aber ich hatte den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte, zwei Unfälle so kurz hintereinander, und das nur wenige Monate, nachdem der Wagen meiner Mutter außer Kontrolle geraten war.« Jessica trommelte mit dem Fingernagel auf die Kante des Schreibtischs, ein nervöser Tick, wenn sie besorgt war. »Ich hätte die Unfälle als solche akzeptieren können, wenn es damit zu Ende gewesen wäre, aber das war es nicht.« Sie beobachtete ihn ganz genau und versuchte hinter seinen unbeteiligten Gesichtsausdruck zu schauen. »Natürlich sind die Unfälle nicht direkt nacheinander passiert, zwischendurch sind jeweils etwa zwei Wochen vergangen.« Sie wollte unbedingt in seinen blauen Augen lesen, doch sie sah nur Eis.

Jessica zitterte wieder. Die Vorstellung, in einem abgedunkelten Raum mit einem Mann allein zu sein, der eine Maske trug und die Dunkelheit in seiner Seele hütete wie einen Schatz, sandte ihr einen Schauer der Furcht über den Rücken.

»Was ist, Jess?«, fragte Dillon mit ruhiger Stimme.

Was sollte sie darauf antworten? Er war ein Fremder, dem sie nicht mehr blind vertraute. »Warum ist meine Mutter hergekommen? Und wann?«

»Zwei Tage vor ihrem Tod. Ich hatte sie gebeten herzukommen. «

Jessicas Kehle schnürte sich zu. »In sieben Jahren hast du uns nie hierher eingeladen. Weshalb solltest du plötzlich meine Mutter auffordern, die weite Reise zu unternehmen, um dich zu sehen?«

Er zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. »Weil ich sie nicht besuchen konnte, das liegt doch auf der Hand.«

Wieder schrillten die Alarmglocken in Jessicas Kopf. Er wich der Frage aus und wollte ihr nicht antworten. Es war ein zu großer Zufall, dass ihre Mutter Dillon auf seiner Insel besucht hatte und zwei Tage später mysteriöserweise ihre Bremsen versagt hatten. Die beiden Ereignisse mussten miteinander in Verbindung stehen. Sie blieb stumm, und der Argwohn fand seinen Weg in ihr Herz.

»Was ist sonst noch passiert? Es muss noch mehr vorgefallen sein.«

»Vor drei Tagen haben auch bei meinem Wagen die Bremsen versagt. Es war ein Wunder, dass wir es alle überlebt haben. Der Wagen hatte einen Totalschaden.Außerdem hat jemand im Haus angerufen und den Kindern alte Zeitungsberichte über den Brand zugeschickt. Das Plektron war auch dabei. Die Telefonanrufe waren beängstigend. Deshalb und aufgrund der anderen Zwischenfälle in den letzten Monaten habe ich beschlossen, die Kinder zu dir zu bringen. Ich wusste, dass sie hier in Sicherheit sein würden.« Sie ließ eine Zuversicht in ihren Tonfall einfließen, die sie nicht mehr verspürte. Ihre Instinkte waren in Alarmbereitschaft. »Weihnachten steht vor der Tür – ein perfekter Vorwand, falls jemand unseren Entschluss, dich zu besuchen, hinterfragen sollte.« Sie war so sicher gewesen, dass er in der Vorweihnachtszeit sanfter gestimmt sein würde, empfindsamer und eher bereit, sie alle wieder in seinem Leben aufzunehmen. Sie war zu ihm gelaufen, weil sie Schutz und Trost suchte, und jetzt hatte sie große Angst, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben.

Dillon beugte sich zu ihr vor. Seine Augen waren lebhaft, sein Blick scharf. »Erzähl mir mehr über diese Anrufe. «

»Es waren Tonbandaufnahmen mit verzerrter Stimme. Der Anrufer hat sie abgespielt, wenn eines der Kinder ans Telefon gegangen ist. Sie haben fürchterliche Dinge über dich gesagt und dich beschuldigt,Vivian und ihren Liebhaber ermordet zu haben. Alle im Zimmer eingesperrt und das Haus angezündet zu haben. Einmal hat er behauptet, es könnte sein, dass du sie auch tötest.« Sie konnte ihren eigenen Herzschlag hören, als sie es ihm erzählte. »Ich habe den Zwillingen nicht mehr erlaubt, ans Telefon zu gehen, und ich habe Pläne geschmiedet, sie hierherzubringen. «

»Hast du jemandem davon erzählt?«

»Nur der Polizei«, gestand sie. Sie wandte den Blick von ihm ab, denn sie fürchtete, etwas zu sehen, dem sie nicht gewachsen war. »Als die Polizei erfahren hat, dass Trevor und Tara deine Kinder sind, schien man dort zu glauben, ich hätte es auf Schlagzeilen abgesehen. Sie haben mich gefragt, ob ich vorhätte, meine Geschichte an die Regenbogenpresse zu verkaufen. Die Vorfälle waren mit Ausnahme des Autounfalls Kleinigkeiten, für die sich leicht eine Erklärung finden ließ. Am Ende haben sie gesagt, sie würden dem nachgehen, und sie haben einen Bericht aufgenommen, aber ich glaube, sie dachten, ich sei entweder scharf auf Publicity oder hysterisch.«

»Es tut mir leid, Jess, das muss dir sehr unangenehm gewesen sein.« In der reinen Sinnlichkeit seiner Stimme schwang stille Aufrichtigkeit mit. »Ich habe dich dein Leben lang gekannt. Du warst nie jemand, der leicht in Panik gerät.«

Als er die Worte aussprach, wollte ihr Herz ihren Brustkorb sprengen. Beide erstarrten restlos, während sich die verstörenden Erinnerungen aufdrängten und den Raum ausfüllten wie heimtückische Dämonen, die über den Fußboden und die Wände krochen. Ein Überraschungsangriff, unerwünscht und unerwartet, und nichts blieb verschont. Die schwere Last der Vergangenheit schien die Luft dicker werden zu lassen. Durch die bloße Erwähnung eines einzigen Wortes hatte sich das Böse zu ihnen gesellt, und beide nahmen seine Gegenwart wahr.

Jessica hatte tatsächlich enge Bekanntschaft mit heller Panik gemacht. Sie kannte vollständige Hysterie. Sie wusste, was es hieß, sich so hilflos, so angreifbar und machtlos zu fühlen, dass sie nur noch hatte schreien wollen, bis ihre Kehle wund war. Die Demütigung ließ eine heftige Röte in ihr Gesicht aufsteigen, und sie wandte den Blick hastig von Dillons Augen ab. Niemand sonst wusste etwas davon. Kein Mensch. Noch nicht einmal ihre Mutter. Sie hatte ihrer Mutter nie die ganze Wahrheit gesagt. Sie konnte ihr nicht ins Gesicht sehen – zu real und grausig war der Alptraum.

»Es tut mir leid, Jess, ich wollte es nicht zur Sprache bringen.« Seine Stimme war sanft und beschwichtigend.

Es gelang ihr, sich auf ihre wackligen Beine zu stellen und zu verhindern, dass sie zitterte, als sie sich von seinem Schreibtisch abstieß. »Ich denke nicht daran.« Aber sie träumte davon, Nacht für Nacht. Ihr Magen schlingerte wie verrückt. Sie brauchte Luft, und sie musste sich dringend der Intensität seines glühenden Blicks entziehen, dem nichts entging. Einen Moment lang verabscheute sie ihn dafür, dass er sie so nackt und hilflos sah.

»Jessica.« Er sagte ihren Namen nicht, er hauchte ihn.

Sie wich vor ihm zurück, verletzt und bloßgestellt. »Ich denke nie daran.« Jessica schlug den Weg des Feiglings ein und floh aus dem Zimmer. Tränen verschleierten ihr Sichtfeld, doch irgendwie schaffte sie es die Treppe hinunter.

Sie konnte Dillons Blicke auf sich fühlen, doch sie drehte sich nicht um. Mit hoch erhobenem Kopf blieb sie in Bewegung und zählte in Gedanken, um das Echo der Stimmen aus alter Zeit nicht zu sich vordringen zu lassen, den grässlichen Singsang, der sich in ihre Erinnerung schleichen wollte.

Als sie ihr Zimmer erreicht hatte, schloss Jessica energisch die Tür und warf sich bäuchlings auf das Bett. Sie atmete tief durch und rang um Selbstbeherrschung. Sie war kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau. Sie trug Verantwortung. Sie hatte Selbstvertrauen. Sie würde sich von nichts und niemandem erschüttern lassen – das konnte sie sich gar nicht leisten. Sie wusste, dass sie aufstehen und nach Tara und Trevor sehen sollte, um sich zu vergewissern, dass sie es in den Zimmern, die Paul zu beiden Seiten ihres eigenen Zimmers für die beiden hergerichtet hatte, behaglich hatten, aber sie war zu müde und zu ausgelaugt, um sich zu bewegen. Sie lag da und trieb irgendwo zwischen Schlafen und Wachen.

Die Erinnerungen setzten ein und warfen sie in eine andere Zeit zurück.

Immer wenn Vivian und ihre Freunde zusammenkamen, wurde dieser Singsang angestimmt. Jessica zwang sich, durch den Flur zu laufen, obwohl ihr davor graute, in ihre Nähe zu kommen, aber sie musste unbedingt Taras Lieblingsdecke finden. Andernfalls würde Tara niemals einschlafen. Ihr Herz klopfte, und ihr Mund war trocken. Vivians Freunde jagten ihr Angst ein, mit ihrem verschlagenen, anzüglichen Grinsen, ihren schwarzen Kerzen und ihren wüsten Orgien. Jessica wusste, dass sie vorgaben, Satan anzubeten. Sie redeten unaufhörlich über Gelüste und religiöse Bräuche, doch keiner von ihnen wusste wirklich, wovon sie sprachen. Sie dachten sich das alles aus, wie es ihnen gerade in den Sinn kam, und sie taten genau das, was ihnen Spaß machte, wobei jeder versuchte, die anderen zu überbieten und sich noch empörendere und abartigere sexuelle Rituale einfallen zu lassen.

Als Jessica am Wohnzimmer vorbeikam, warf sie einen Blick hinein. Vor den Fenstern waren die schweren, schwarzen Vorhänge zugezogen und überall brannten Kerzen. Vivian, die auf einem Sofa saß, blickte auf. Sie war von der Taille aufwärts entblößt und trank Wein, während ein Mann hungrig an ihren Brüsten saugte. Eine andere Frau war vollständig nackt und von etlichen Männern umgeben, die sie berührten und dabei gierig grunzten. Der Anblick war Jessica peinlich und machte sie krank, und sie wandte schnell den Blick ab.

»Jessica!« Vivians Stimme war gebieterisch, die einer Königin, die sich an ein Bauernmädchen wendet. »Komm rein.«

Jessica konnte den Wahnsinn in Vivians gerötetem Gesicht und in ihren harten Augen sehen, die übermäßig glänzten, und sie hörte ihn in ihrem lauten, spröden Lachen. Sie rang sich ein mattes Lächeln ab. »Tut mir leid, Mrs. Wentworth, aber ich muss gleich wieder zu Tara zurückgehen.« Sie blieb nicht stehen.

Eine Hand packte hart ihre Schulter und eine andere wurde so fest auf ihren Mund gepresst, dass es brannte. Jessica wurde ins Wohnzimmer gezerrt. Sie konnte denjenigen, der sie festhielt, nicht sehen, aber er war groß und sehr kräftig. Sie schlug wüst um sich, doch er ließ sie nicht los, sondern lachte und rief Vivian zu, sie solle die Tür abschließen.

Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr. »Bist du die goldige kleine Jungfrau, mit der Vivian uns ständig lockt? Ist das deine süße kleine Belohnung, Viv?«

Vivians Kichern war schrill und klang irrsinnig. »Dillons kleine Prinzessin.« Ihre Worte waren nur undeutlich zu verstehen, als sie Jessica und den Mann, der sie ins Zimmer gezogen hatte, mehrfach umkreiste. »Meint ihr, er hat sie schon gehabt?« Ein langer, spitzer Fingernagel fuhr über Jessicas Wange. »Du wirst solchen Spaß mit uns haben, kleine Jessica.« Sie veranstaltete einen großen Wirbel darum, noch mehr Kerzen und Räucherstäbchen anzuzünden, ließ sich Zeit dabei und summte leise vor sich hin. »Kleb ihr den Mund gut zu, sonst schreit sie.« Kaum hatte sie den Befehl erteilt, nahm sie ihr Summen wieder auf. Zwischendurch küsste sie einen der Männer, die Jessica mit gierigen, glühenden Augen anstarrten. Jessica wehrte sich und biss in die Hand, die auf ihren Mund gepresst war. Ein Schrei des Entsetzens stieg in ihr auf. Sie konnte sich selbst in ihrem Kopf schreien hören, immer wieder, doch kein Laut kam hervor.

 

Sie wehrte sich und wälzte sich herum und die Geräusche abscheulichen Gelächters verklangen zu einem verängstigten Weinen. Als sie vollständig wach wurde, schluchzte sie unbeherrscht. Sie presste das Kissen fester auf ihr Gesicht, um die Laute zu ersticken, und stellte erleichtert fest, dass sie nur einen Alptraum gehabt hatte und dass es ihr gelungen war, daraus zu erwachen.

Ganz langsam setzte sie sich auf und sah sich in dem großen, freundlichen Zimmer um. Es war kalt, erstaunlich kalt sogar, wenn man bedachte, dass Paul die Heizung angeschaltet hatte, um die Kälte zu vertreiben. Sie strich sich ihr langes Haar aus dem Gesicht, während sie auf der Bettkante saß, ihr die Tränen über das Gesicht strömten und sie das Entsetzen in ihrem Mund schmeckte. Sie war nicht nur auf die Insel zurückgekehrt, um die Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie hatte die Hoffnung gehegt, sie alle würden ihren inneren Frieden finden – sie selbst, Dillon und die Kinder. Jessica rieb sich die Wangen und wischte resolut die Tränen aus ihrem Gesicht. Stattdessen wurden die Alpträume noch schlimmer. Dillon war nicht mehr der Mann, den sie vor sieben Jahren gekannt hatte. Und sie war nicht mehr dasselbe Mädchen, das seinen Helden anbetete.

Sie musste alles gründlich durchdenken. Ihre größte Sorge galt Tara und Trevor. Jessica knipste die Lampe neben dem Bett an. Es war ihr unerträglich, im Dunkeln zu sitzen, wenn ihre Erinnerungen so frisch waren. Die Vorhänge flatterten und tanzten anmutig in der Brise. Sie starrte das Fenster an. Es stand weit offen und ließ den Nebel, den Regen und den Wind in ihr Zimmer. Das Fenster war geschlossen gewesen, als sie das Zimmer verlassen hatte. Das wusste sie mit absoluter Sicherheit. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und ihre Haut prickelte vor Unbehagen.

Jessica sah sich eilig im Zimmer um und suchte mit ihren Blicken jeden Winkel ab. Sie schaute sogar unter das Bett und konnte es nicht lassen, im Schrank, im Badezimmer und in der Dusche nachzusehen. Es wäre jedem schwergefallen, durch das offene Fenster in ihr Zimmer zu gelangen, vor allem während eines Sturms, da es nicht ebenerdig lag. Sie versuchte sich einzureden, einer der Zwillinge müsse in ihr Zimmer gekommen sein, um ihr eine gute Nacht zu wünschen, und das Fenster geöffnet haben, damit frische Luft hereinkam. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum, es war nicht einleuchtend, doch diese Erklärung war ihr lieber als die Alternative.

Sie lief ans Fenster, starrte in den Wald hinaus und sah zu, wie der Wind wild mit den Bäumen spielte. Stürme hatten etwas Elementares und Kraftvolles an sich, das sie faszinierte. Eine Zeit lang beobachtete sie den Regen, bis sich ein gewisser Frieden auf sie herabgesenkt hatte. Dann schloss sie abrupt das Fenster und ging hinaus, um nach Tara zu sehen.

In Taras Zimmer brannte die Nachttischlampe und erzeugte einen weichen Lichtschein. Zu Jessicas Erstaunen lag Trevor in einen Haufen Decken gewickelt auf dem Boden, und Tara lag unter einer dicken Steppdecke auf dem Bett. Sie redeten leise miteinander und wirkten keineswegs erstaunt, sie zu sehen.

»Wir dachten schon, du würdest nicht mehr kommen«, sagte Tara zur Begrüßung und rutschte ein Stück, da sie offenbar erwartete, dass sich Jessica zu ihr ins Bett legte.

»Ich dachte schon, ich würde zu deiner Rettung eilen müssen«, fügte Trevor hinzu. »Wir haben gerade darüber diskutiert, wie wir das am besten anstellen, da wir nicht genau wussten, in welchem Zimmer du bist.«

Wärme vertrieb die Kälte aus ihrer Seele und verdrängte ihre namenlosen Ängste und die beunruhigenden Überreste vergangener Gräuel. Sie lächelte die beiden an, schlüpfte zu Tara unter die Decke und schmiegte ihren Kopf ans Kissen. »Habt ihr euch tatsächlich Sorgen gemacht?«

»Natürlich«, bestätigte Tara. Sie griff nach Jessicas Hand. »Hat er dich angeschrien?«

Trevor schnaubte. »Wir haben keine Funken fliegen sehen, oder? Wenn er sie angeschrien hätte, wären Feuerwerkskörper in die Luft gegangen.« »Na, hört mal«, wandte Jessica ein. »So schlimm bin ich nun auch wieder nicht.«

Trevor gab ein unflätiges Geräusch von sich. »Du würdest doch kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn unser eigener Vater uns über Weihnachten nicht bei sich haben wollte. Du würdest ihm eine Standpauke halten, ihm ordentlich eins auf den Deckel geben und mit uns abziehen. Du brächtest uns dazu, zur nächsten Stadt zurückzuschwimmen. «

Tara kicherte und nickte. »Hinter deinem Rücken nennen wir dich Tigermama.«

»Was?« Jessica lachte. »Was für eine Übertreibung!«

»Du bist sogar noch schlimmer. Wenn jemand gemein zu uns ist, wachsen dir Reißzähne und Krallen«, fügte Trevor selbstgefällig hinzu. »Gerechtigkeit für die Kinder. « Er grinste sie an. »Es sei denn, du bist diejenige, die auf uns rumhackt.«

Jessica warf ihr Kissen nach ihm. »Ich hacke nie auf euch rum. Wieso seid ihr überhaupt um halb fünf Uhr morgens noch wach?«

Die Zwillinge brachen in Gelächter aus, deuteten auf sie und und ahmten ihre Frage nach. »Siehst du, genau das meinten wir, Jess«, sagte Tara. »Du bist noch schlimmer als Mama Rita.«

»Sie hat euch hoffnungslos verzogen«, sagte Jessica hochmütig, doch ihre grünen Augen lachten. »Also gut, von mir aus, aber niemand, der bei klarem Verstand ist, ist um halb fünf Uhr morgens wach. Das ist lächerlich. Daher ist das eine absolut angemessene Frage.«

»Ja, klar, weil wir nämlich nicht in einem alten Haus sind, in dem es spukt, und noch dazu unter wildfremden Menschen und bei einem Mann, der uns gern vor die Tür setzen würde«, sagte Trevor.

»Und der dich unter das Dach verschleppt hat, um eine grausige Tat zu begehen, die wir uns nicht mal ausmalen können«, versuchte ihn Tara zu übertrumpfen.

»Wann seid ihr beide eigentlich solche Klugscheißer geworden?«, wollte Jessica wissen.

»Wir haben uns unten eine Weile mit Paul unterhalten«, sagte Trevor, als das Gelächter sich gelegt hatte. »Er ist wirklich nett. Er hat gesagt, er kannte uns schon, als wir noch klein waren.«

Jessica spürte, dass sich zwei Augenpaare auf sie geheftet hatten. Sie fing das Kissen auf, das Trevor ihr zuwarf, und stopfte es hinter ihren Rücken, als sie sich aufsetzte und die Knie anzog. »Er und euer Vater waren schon lange, bevor die Band gegründet wurde, eng miteinander befreundet. Ursprünglich war Paul der Sänger. Dillon hat die meisten Songs geschrieben und war der Leadgitarrist. Er konnte so gut wie jedes Instrument spielen. Paul hat Bass gespielt, aber anfangs hat er auch gesungen. Brian Phillips war der Schlagzeuger, und ich glaube, es war seine Idee, die Band zu gründen. Sie haben in einer Garage angefangen, sind in sämtlichen Clubs aufgetreten und auf Tour gegangen. Schließlich sind sie dann sehr berühmt geworden.«

»Es gab noch ein paar andere Bandmitglieder, einen Robert Soundso«, warf Trevor ein. »Er war am Keyboard, und ich dachte, Don Ford sei der Bassist gewesen. Er ist auf allen CDs dabei und wird in den alten Artikeln genannt, die über HereAfter geschrieben wurden.« Stolz schwang in seiner Stimme mit, als er den Namen der Band aussprach.

Jessica nickte. »Robert Berg. Robert ist fantastisch am Keyboard. Und du hast Recht, Don haben sie als Bassisten aufgenommen, als Paul nicht mehr vom Rauschgift losgekommen ist.«

Tara rümpfte die Nase. »Er wirkte so nett.«

Jessica strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Er ist nett, Tara. Menschen machen Fehler, sie lassen sich gedankenlos auf Dinge ein, und dann ist es zu spät, um wieder rauszukommen. Paul hat mir erzählt, dass er das Zeug irgendwann ständig genommen hat und sich während ihrer Live-Auftritte nicht mehr an die Songtexte erinnern konnte. Dann ist euer Vater für ihn eingesprungen und hat gesungen. Paul hat gesagt, das Publikum hätte getobt. Paul war auf dem absteigenden Ast, und irgendwann wollten ihn die Bandmitglieder rauswerfen. Er hat verrückte Sachen gemacht und randaliert. Er hat alles kurz und klein geschlagen, ist zu Auftritten nicht erschienen und so weiter. Da hat es ihnen gereicht.«

»Genau das, was man in den Schundblättern liest«, sagte Trevor.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während beide Kinder sie ansahen. »Ja, das stimmt. Aber deshalb sind die Dinge, die sie über euren Vater geschrieben haben, noch lange nicht wahr. Denkt daran, dass all das lange her ist. Wenn Leute zu schnell berühmt werden und zu viel Geld haben, dann fällt es ihnen manchmal schwer, damit umzugehen. Ich glaube, Paul war einer dieser Menschen. Es ist ihm über den Kopf gewachsen. Ständig haben sich ihm Mädchen an den Hals geworfen, es gab einfach zu viel von allem. Aber wie dem auch sei, Dillon wollte ihn nicht aufgeben. Er hat ihn auf Entziehungskur geschickt und ihm geholfen, wieder auf die Füße zu kommen.«

»Deshalb haben sie sich einen anderen Bassisten zugelegt«, vermutete Trevor.

Jessica nickte. »Während Paul auf Entzug war, kam die Band ganz groß raus, und sie brauchten einen anderen Bassisten. Deshalb haben sie Don in die Band aufgenommen. Dillons Stimme hat sie schlagartig zu Stars gemacht. Aber er wollte Paul nicht links liegenlassen. Euer Vater hat Paul Arbeit im Studio gegeben und später wieder einen Platz in der Band für ihn geschaffen. Und als Dillon ihn mehr denn je brauchte, war Paul für ihn da.«

»Hat Paul Vivian gekannt?«, fragte Tara zögernd.

Jessica wurde klar, dass Vivian selbst Jahre nach ihrem Tod immer noch Spannung aufkommen lassen konnte. »Ja, er kannte sie, Schätzchen«, bestätigte sie sanft. »Sämtliche Bandmitglieder kannten Vivian. Paul ist nicht auf alle Tourneen mitgekommen. Er ist oft hiergeblieben und hat dafür gesorgt, dass zu Hause alles reibungslos ablief. Er kannte sie besser als die meisten anderen.« Und er hatte sie verabscheut. Jessica erinnerte sich an die furchtbaren Auseinandersetzungen und an Vivians endlose Tiraden. Paul hatte versucht, ihr Einhalt zu gebieten. Er hatte Rita und Jessica dabei helfen wollen, für die Sicherheit der Zwillinge zu sorgen, wenn Vivian ihre Freunde ins Haus geholt hatte.

»Glaubt er, dass mein Vater Vivian und diesen Mann, der bei ihr war, ermordet hat, wie es in der Zeitung stand?«

Jessica riss ihren Kopf herum und wollte aufbrausen, bis sie Taras gesenkten Kopf sah. Langsam stieß sie ihren Atem aus. Wie sollte Tara denn die Wahrheit über ihren Vater erfahren, wenn sie keine Fragen stellen durfte? »Schätzchen, du weißt doch, dass die meisten dieser Schundblätter nicht die Wahrheit schreiben, oder? Sie sind sensationslüstern, sie bauschen Dinge auf, und sie drucken irreführende Schlagzeilen und Artikel, um die Aufmerksamkeit der Leute zu wecken. Als euer Vater auf dem Höhepunkt seiner Karriere war, war das nicht anders als heute. Die Klatschpresse hat sämtliche Tatsachen verdreht, damit es so aussah, als hätte Dillon eure Mutter mit einem anderen Mann im Bett ertappt. Sie haben es so hingestellt, als hätte er beide erschossen und dann sein eigenes Haus angezündet, um die Morde zu vertuschen. So war es aber nicht.« Jessica legte ihren Arm um Taras Schultern und drückte sie eng an sich. »Euer Vater wurde bei der Gerichtsverhandlung freigesprochen. Er hatte nichts mit den Schüssen oder dem Brand zu tun. Er war nicht mal im Haus, als all das passiert ist.«

»Was ist denn passiert, Jess?«, fragte Trevor und sah sie mit seinen stechenden blauen Augen fest an. »Warum wolltest du es uns nie erzählen?«

»Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr«, sagte Tara, doch sie kuschelte sich noch enger an Jessica und suchte eindeutig Trost.

Jessica schüttelte den Kopf. »Es wäre mir lieber, wenn euer Vater euch von dieser Nacht erzählt, nicht ich.«

»Wir werden dir glauben, Jess«, sagte Trevor. »Du wirst nämlich knallrot, wenn du versuchst zu lügen. Unseren Vater kennen wir nicht. Paul kennen wir nicht. Mama Rita wollte kein Wort darüber sagen. Du weißt selbst, dass es an der Zeit ist, uns die Wahrheit zu sagen, wenn uns jemand Zeitungsartikel voller Lügen schickt und anruft, um uns am Telefon noch mehr Lügen zu erzählen.«

»Wir drei gehören zusammen, Jessie«, fügte Tara hinzu. »Wir drei waren schon immer zusammen. Wir sind eine Familie.Wir wollen, dass du es uns sagst.«

Jessica war stolz auf die Kinder, stolz darauf, wie sie versuchten, mit einer brenzligen Situation umzugehen. Und sie hörte die Liebe in ihren Stimmen, die sie von ganzem Herzen erwiderte. Sie waren keine kleinen Kinder mehr, und sie hatten Recht, sie hatten es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Sie wusste nicht, ob Dillon sie ihnen jemals erzählen würde.

Jessica holte tief Atem, ehe sie begann. »In jener Nacht wurde im Haus eine Party gefeiert. Euer Vater war schon seit Monaten auf Welttournee, und Vivian hat oft ihre Freunde hierher eingeladen. Ich kannte sie nicht allzu gut.« Tatsächlich hatte Jessica Dillons Beziehung zu seiner Ehefrau nie verstanden. Vivian hatte die Zwillinge fast vom Moment ihrer Geburt an Rita überlassen, damit sie mit der Band auf Tour gehen konnte. In den ersten drei Lebensjahren der Kinder war sie so gut wie nie nach Hause gekommen. Und doch hatte sie das letzte Jahr ihres Lebens zu Hause verbracht, weil der Manager der Band aufgrund ihrer heftigen Stimmungsschwankungen und ihres psychotischen Verhaltens nicht bereit war, sie mitreisen zu lassen.

»Du sagst gar nichts mehr, Jessica«, spornte Trevor sie an. »Vivian hat zu viel getrunken und rauschende Partys gefeiert. Euer Vater wusste, dass sie trank, aber sie hat ihm gedroht. Sie sagte, sie würde ihn verlassen, euch mitnehmen und eine einstweilige Verfügung erwirken, damit er euch nicht sehen kann. Sie kannte Leute, die für Geld gegen Dillon ausgesagt hätten. Er war oft auf Tour, und Bands haben immer einen gewissen Ruf, vor allem die erfolgreichen.«

»Du willst damit sagen, er hatte Angst, es auf ein Gerichtsverfahren ankommen zu lassen«, fasste Trevor zusammen.

Jessica lächelte ihn an. »Genau. Er befürchtete, das Gericht würde euch in Vivians Obhut geben, und hätte er das Sorgerecht nicht zugesprochen bekommen, hätte er keinen Einfluss mehr darauf gehabt, was aus euch wird. Er hoffte, sie ihn die Schranken weisen zu können, wenn er bei ihr bleibt. Eine Zeit lang hat das auch geklappt.« Vivian wollte nicht zu Hause sein, sie zog das Nachtleben und die Clubs in den Städten vor. Erst während des letzten Jahres, als die Zwillinge fünf waren, war Vivian nach Hause zurückgekehrt, weil sie den Schein nicht länger wahren konnte.

»Was war in dieser Nacht, Jess?«, drängte Trevor.

Jessica seufzte. Es ließ sich nicht vermeiden, ihnen das zu sagen, was sie wissen wollten. Die Zwillinge waren sehr beharrlich. »Eine Party war im Gange.« Sie wählte ihre Worte sorgsam. »Euer Vater kam früher als erwartet nach Hause. Es kam zu einem furchtbaren Streit zwischen ihm und eurer Mutter, und er hat das Haus verlassen, um sich beruhigen. Er hatte sich entschlossen,Vivian zu verlassen, und sie wusste es. Überall brannten Kerzen. Der Sachverständige der Brandschutzbehörde hat gesagt, die Vorhänge hätten Feuer gefangen und es hätte sich schnell ausgebreitet, weil auf den Möbeln und an den Wänden Alkohol war. Es war eine wilde Party. Niemand weiß genau, woher die Waffe kam oder wer zuerst auf wen geschossen hat. Aber Zeugen, darunter auch ich, haben ausgesagt, dass Dillon das Haus verlassen hatte. Er kam zurückgerannt, als er die Flammen gesehen hat, und er ist ins Haus gestürzt, weil er euch nicht finden konnte. «

Jessica blickte auf ihre Hände hinunter. »Ich war mit euch auf der Klippenseite des Hauses aus einem Fenster gestiegen, aber das wusste er nicht. Er dachte, ihr wärt noch drinnen, und deshalb ist er in das brennende Haus gelaufen.«

Tara keuchte und schlug sich eine Hand auf den Mund, damit kein Laut hervorkam, doch in ihren Augen schimmerten Tränen.

»Wie ist er rausgekommen?«, fragte Trevor mit zugeschnürter Kehle. Er konnte den Anblick der schrecklichen Narben seines Vaters nicht aus seinen Gedanken verdrängen. »Und wie konnte er sich dazu durchringen, ein brennendes Haus zu betreten?«

Jessica beugte sich zu den beiden vor. »So mutig ist euer Vater nun mal. So absolut zuverlässig ist er. Und so sehr liebt er euch beide.«

»Ist das Haus über ihm eingestürzt?«, fragte Tara.

»Es heißt, als er hinauskam, habe er in Flammen gestanden, und Paul und Brian hätten ihn gepackt und die Flammen mit ihren eigenen Händen erstickt. Damals waren Menschen auf der Insel, Wachpersonal, Gärtner und Hausmeister, die alle gekommen waren, um zu helfen. Ich glaube, die Hubschrauber waren schon eingetroffen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie laut und wie zornig es zuging …« Ihre Stimme verklang.

Trevor hob einen Arm und nahm ihre Hand. »Ich hasse diesen traurigen Gesichtsausdruck, den du manchmal hast, Jess. Du bist immer für uns da. Und du warst schon immer für uns da.«

Tara drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Mir geht es auch so.«

»Dann weiß also niemand wirklich, wer unsere Mutter und ihren Freund erschossen hat«, schlussfolgerte Trevor. »Es ist immer noch ein großes Rätsel. Aber du hast uns das Leben gerettet, Jess. Und unser Vater war bereit, seines zu riskieren, um uns zu retten. Hast du ihn gesehen, nachdem er aus dem Haus kam?«

Jessica schloss die Augen und wandte ihren Kopf von den beiden ab. »Ja, ich habe ihn gesehen.« Ihre Stimme war kaum hörbar.

Die Zwillinge tauschten einen langen Blick miteinander aus. Tara ergriff die Initiative, weil sie den Kummer fortwischen wollte, den Jessica so offensichtlich empfand. »Und jetzt erzähl uns die Geschichte vom Weihnachtswunder. Die, die Mama Rita uns immer erzählt hat. Ich liebe diese Geschichte.«

»Ich auch. Du hast gesagt, wir kämen hierher, um unser Weihnachtswunder zu erleben, Jess«, sagte Trevor. »Erzähl uns die Geschichte, damit wir daran glauben können.«

»Morgen werden wir alle zu müde sein, um aufzustehen«, wandte Jessica ein. Sie kuschelte sich in die Decke und knipste das Licht aus. »Ihr glaubt doch schon an Wunder. Ich habe mitgeholfen, euch richtig großzuziehen. Euer Vater ist derjenige, der nicht weiß, was an Weihnachten passieren kann, aber wir werden ihm eine Lektion erteilen. Die Geschichte erzähle ich euch ein anderes Mal, wenn ich nicht so verflixt müde bin. Gute Nacht, ihr beiden.«

Trevor lachte leise. »So, so. Jessica kann es nicht ausstehen, wenn wir sentimental werden.«

Das Kissen traf ihn sogar im Dunkeln.