12

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»Mach schon, Brenda, du musst mitkommen«, beschwatzte Tara ihre Tante. »Wir werden unseren Spaß haben.«

»Bist du sicher, dass du dich wieder besser fühlst? Heute Morgen war dir noch schlecht. Fast hätte ich Robert zu Paul geschickt, damit er dich mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus bringen lässt. Und jetzt hopst du durch die Gegend, als sei nichts gewesen.«

Jessica blickte alarmiert auf. Wie üblich hatten sich alle am frühen Abend, wenn sie ausgeschlafen hatten, in der Küche versammelt. »Tara war heute Morgen übel? Warum hat mich niemand geholt?«

»Beiden Kindern war heute Morgen schlecht, und damit werde ich wohl gerade noch allein fertig«, sagte Brenda bissig. »Eine Art Magenverstimmung. Weißt du, Jessie, du bist nicht die Einzige mit Mutterinstinkten. Ich war den beiden ein großer Trost. Ganz zu schweigen von meiner enormen Hilfsbereitschaft und Diskretion. Schließlich wollte ich dir und Dillon Zeit geben, um … äh … Dinge zwischen euch zu regeln.«

Fast hätte sich Trevor verschluckt. »Ein großer Trost? Brenda, du hast den Kopf aus dem Fenster gehalten, gewürgt und nach Riechsalz verlangt. Robert wusste nicht, ob er zu dir, zu Tara oder zu mir laufen soll. Der arme Kerl hat uns den halben Tag lang hinterhergewischt. «

Don verzog das Gesicht. »Ich dachte, wir arbeiten heute. Ich will die Aufnahme fertigstellen und sehen, was wir haben. Muss das denn jetzt sein?«

»Wir arbeiten die ganze Nacht durch«, antwortete Paul. »Wenn wir aufstehen, ist der Tag schon fast vorbei und uns bleibt kaum noch genug Licht, um einen Weihnachtsbaum auszusuchen. Ich bin dafür, das wir jetzt gleich losgehen.«

Don murrte leise vor sich hin, mied aber sorgfältig Dillons Blick.

Jessica musterte die Zwillinge mit gerunzelter Stirn. »Ihr hattet beide eine Magenverstimmung? Mir war heute Morgen selbst ein bisschen übel. War sonst noch jemandem schlecht? Vielleicht haben wir alle etwas gegessen, das nicht mehr gut war.«

»Brians Pfannkuchen«, sagte Brenda sofort. »Wenn ihr mich fragt, versucht er, mich zu vergiften. Aber aus dem schändlichen Plan wird nichts werden. Dafür ist mein Magen viel zu robust.«

»Meine Pfannkuchen sind Kunstwerke, Brenda«, fuhr Brian sie an. »Stell du dich doch in die Küche und rackere dich ab.«

»Ich denke nicht im Traum daran«, antwortete Brenda selbstgefällig. »Banale Aufgaben sollte man banalen Menschen überlassen.«

»Die Kinder streiten sich mal wieder«, sagte Jessica mit einem leisen Seufzen und schmiegte sich an Dillon. »Und wie üblich sind es nicht die Zwillinge.«

»Tara, bist du sicher, dass es dir gut genug geht, um im Wald herumzulaufen? Es ist kalt und windig draußen, und der nächste Sturm zieht auf. Wenn du es dir lieber hier im Warmen gemütlich machen willst, ziehen wir los und kommen mit einem Baum für dich zurück«, bot ihr Dillon an. Er schlang seine Arme um Jessica, ohne sich daran zu stören, dass alle es sahen.

Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich mit sich selbst im Reinen. Es gab Hoffnung in seinem Leben, einen Grund für seine Existenz. »Jess und Trevor können bei dir bleiben, wenn du magst.«

»Das kommt nicht infrage«, widersprach Trevor. »Ich fühle mich prächtig. Keiner von euch kann unseren Baum auswählen. Wir wissen, wonach wir suchen, stimmt’s, Tara?«

Tara nickte feierlich und schlang den Arm um ihren Bruder, aber ihr Blick war auf Jessica gerichtet. Alle drei lächelten in stillem Einverständnis. »Wir gehen alle«, kündigte sie an. »Wir werden den richtigen Baum finden.«

Dillon zuckte die Achseln. »Na, dann los. Jeder, der Lust hat, kann uns gern begleiten. Wir holen schon mal das Werkzeug aus dem Schuppen und treffen euch auf dem Weg in den Wald.« Er zog Jessica mit sich. Er freute sich schon auf ein paar Minuten mit ihr allein im Schuppen, denn er hatte noch keine zwei Minuten gefunden, um ihr einen Kuss zu rauben.

»Moment mal.« Trevor hob seine Hand. »Ich bin nicht sicher, ob wir unsere Jessica bedenkenlos mit dir in einen Schuppen gehen lassen können, Dad. Du hast einen gewissen Ruf als Casanova.«

Dillons Augenbrauen schossen in die Höhe. »Und was trägt mir diesen Ruf ein?«

»Du brauchst dich doch bloß mal in diesem Haus umzusehen. Darüber wollte ich ohnehin mit dir reden. Was da so alles von den Dachtraufen hängt! Das Haus sieht aus wie aus einer Erzählung von Edgar Allen Poe. Und die Männer in diesen Geschichten hatten immer Übles mit den Damen vor.« Anzüglich wackelte er mit den Augenbrauen.

»Dieses Haus ist ein perfektes Beispiel für die gelungene Synthese zweier Baustile – frühe Gotik und Renaissance. « Dillon war entsetzt. »Du, mein Sohn, bist ein Banause. Das Haus ist einfach perfekt, an der Südseite kriechen geflügelte Wesen hinauf und an der Ostseite krallen sich Löwen fest. Fantastische Details, Geheimgänge und bewegliche Wände dürfen natürlich auch nicht fehlen. Ein vornehmer Herrensitz ist langweilig. Den hat schließlich jeder.«

»Dad«, sagte Tara mit fester Stimme, »es ist unheimlich. Hast du das Haus jemals nachts von außen angeschaut? Es sieht so aus, als würde es spuken, und außerdem hat man das Gefühl, dass einen das Haus anstarrt. Du bist nicht ganz richtig im Kopf, auch wenn du mein Vater bist.«

»Ihr Kinder seid Verräter«, sagte Dillon. »Ihr habt viel zu viel Zeit mit eurer Tante verbracht. Sie teilt eure Meinung über mein Haus.«

Brenda verdrehte die Augen. »Dillon, an deinem Haus kriecht Zeug hoch, das einen draußen auf Schritt und Tritt beobachtet. Mir graust immer, wenn ich im Garten bin oder einen Spaziergang mache. Ich brauche nur aufzublicken und schon starrt mich etwas an.«

»Theoretisch«, warf Brian ein, »wachen diese Wesen über das Haus und die Menschen darin. Wenn du dich vor ihnen fürchtest, hast du wahrscheinlich guten Grund dazu.« Er rückte näher. »Vielleicht führst du etwas Böses gegen die Bewohner im Schilde.«

Jessica zerknüllte eine Serviette und warf sie nach Brian. »Erzähl nicht solchen Blödsinn. Ich habe die gotische Architektur auch immer geliebt. Früher haben wir uns all diese Bücher gemeinsam angesehen. Und die Fotos, die Dillon aus Europa mitgebracht hat.« Sie zwinkerte Trevor zu. »Ich hätte gedacht, diese Geheimgänge würden dich faszinieren.«

Dillon nahm sie an der Hand und zog sie zur Tür. »Zieht euch warm an, ihr zwei – wir treffen uns auf dem Weg zum Wald.«

Jessica folgte ihm, ohne Trevors spöttischen Pfiff zu beachten. »Mir gefällt nicht, dass beiden Kindern heute Morgen schlecht war, Dillon«, sagte sie. »Tara sagt, gestern, als es zu dem Erdrutsch kam, hätte sie jemand beobachtet. Sie konnte die Gestalt nicht erkennen, weil sie einen langen Umhang mit Kapuze trug. Dieselbe Person habe ich in der Nacht unserer Ankunft gesehen.«

Dillon verlangsamte seine Schritte und zog sie beschützend an sich. »Was soll das heißen, Jess?« Er achtete sorgsam darauf, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. »Glaubst du, dass bei dem Erdrutsch jemand nachgeholfen hat? Und dass die Kinder keine Magenverstimmung hatten, sondern jemand sie vergiftet hat?«

Als er die Worte aussprach, klangen sie absurd. Öl auf einer Treppenstufe, auf der jeder ausrutschen konnte.Wie konnte man einen Erdrutsch auslösen und wissen, dass die Kinder an genau der Stelle sein würden? Und ihr war auch übel gewesen. Es kam ständig vor, dass sich jemand den Magen verdarb. Jessica seufzte. Womit konnte sie das Unbehagen erklären, das sie verspürte? Die ständige Sorge, die nie von ihr abfiel. »Warum wollte die vermummte Gestalt ihnen nicht helfen? Sie steckten eindeutig in Schwierigkeiten, und Tara hat sich die Seele aus dem Leib geschrien.«

»Darauf weiß ich keine Antwort, Kleines, aber wir werden es herausfinden«, beteuerte er ihr. »Jedenfalls haben alle kräftig zugepackt, um Trevor zu befreien. Mir ist bei keinem Zurückhaltung aufgefallen, noch nicht einmal bei Don.«

»Don.« Jessica schüttelte den Kopf. »Dieser Mann macht es einem schwer, ihn zu mögen. Letzte Nacht hat er mir wirklich leidgetan, aber trotzdem fällt es mir schwer, ihm etwas abzugewinnen.«

»Ich mochte ihn wirklich«, antwortete Dillon mit einem Stirnrunzeln. »Mir gegenüber war er immer reserviert, aber er hat hart gearbeitet. Nach ihm habe ich mich nie umgesehen und mich gefragt, wo er den ganzen Abend gesteckt hat; er hat mehr als nur seinen Teil der Arbeit geleistet. Auf ihn war Verlass, und oft war er mir eine große Stütze. Ich hatte keine Ahnung, dass er eine so große Abneigung gegen mich hat. Und dass Vivian mit ihm geschlafen hat, wusste ich erst recht nicht. Sie hatte vorgeschlagen, ich solle ihn mir mal anhören, aber ich habe ihn in die Band geholt, weil er so talentiert ist, und nicht, weil sie sich für ihn eingesetzt hat.« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich weiß nicht mehr, woran ich bin, Jess. Früher war alles ganz einfach. Ich habe nie die Augen aufgemacht. Ich habe mein Leben in seliger Unwissenheit verbracht, bis alles eingestürzt ist.« Er sah sie an, und seine Finger schlossen sich fester um ihre. »Ich war so arrogant, so sicher, dass schon alles klappen wird. In Wahrheit muss ich mich fragen, wie ich Don verurteilen kann, wenn ich selbst so viele Fehler gemacht habe.«

»Glaubst du, ein Bandmitglied hat Vivian und Phillip Trent getötet?«, fragte Jessica behutsam.

»Nein, natürlich nicht. In jener Nacht waren noch fünf weitere Personen bei ihnen. Sie alle hatten eine Mischung aus Rauschgift und Alkohol im Blut. Es kann durchaus sein, dass einer von ihnen eine Waffe ins Haus geschleust hat. Jemand hat auf Viv und Trent geschossen, und vielleicht haben die anderen sich auf den Schützen gestürzt und versucht, ihm die Waffe gewaltsam abzunehmen, und dabei sind die Getränke und die Kerzen umgestoßen worden. Ich hoffe, dass es so passiert ist. Ich hoffe, das Feuer ist nicht ausgebrochen, als ich Trent zusammengeschlagen habe. Es war eine wüste Schlägerei. Wir haben Tische und Lampen umgeworfen. Vielleicht ist eine Kerze auf den Boden gefallen und keiner hat es bemerkt. Ich werde es nie erfahren. Die Band hatte keine Ahnung, was dort oben vorging. Wir waren gerade erst zurückgekommen.«

»Warum bist du überhaupt nach oben gegangen?«, fragte sie neugierig.

»Ich wollte nach den Kindern sehen. Tara hat geschlafen, aber sie hatte keine Zudecke. Ich hatte dich so lange nicht gesehen, und ich wusste, dass du dich auf die Suche nach der Decke gemacht haben musstest. Ich habe dich gesucht«, gestand er. »Ich konnte nicht bis zum nächsten Morgen warten.«

Seine Worte erfüllten sie mit großer Freude. »Ich bin dir dankbar, dass du mich gesucht hast, Dillon«, sagte sie leise.

Dillon riss die Tür zum Schuppen auf und drückte auf einen Schalter. Es wurde taghell. »Ich bin auch froh darüber, Liebes.« Er konnte sie nicht ansehen, denn er wusste, dass die Wut, die er damals empfunden hatte, sich auf seinen Gesichtszügen widerspiegelte. Er konnte nicht daran denken, ohne diese Wut zu verspüren.

Jessica lachte, und dieser Klang zerstreute die alten Erinnerungen. »Ich wünschte, von diesem Lichtschalter hätte ich gestern etwas gewusst.«

»Ach ja?« Seine Stimme nahm einen verführerischen Ton an. »Und ich dachte mir gerade, es wäre klüger gewesen, kein Licht zu machen.«

Jessica wich einen Schritt zurück. »Du hast diesen verruchten Gesichtsausdruck, als hecktest du etwas aus.« Sein Blick alleine sorgte schon dafür, dass ihr heiß wurde.

»Verrucht? Das gefällt mir.« Er legte seine Hand auf ihren Nacken, zog sie an sich und küsste sie. Seine Hand glitt unter ihre Jacke und ihre Bluse, um die nackte Haut zu finden. Ihre Brust schmiegte sich an seine Handfläche, und in ihrem Mund schmeckte er dieselbe Gier, die auch er verspürte. »Zieh deine Jacke aus, Jess«, flüsterte er, während er seine Hand wieder nach dem Lichtschalter ausstreckte und den Schuppen in düsteres graues Licht tauchte. »Beeil dich, Kleines, wir haben nicht viel Zeit.«

»Du bildest dir doch nicht etwa ein, dass wir es hier in diesem kleinen Schuppen treiben, wo jeder reinkommen kann«, sagte sie, aber ihre Jacke zog sie trotzdem aus, denn sie wollte die sengende Glut seines Mundes auf ihrer Brust fühlen. Sie wollte ihn anfassen. Es schien bereits zu lange her zu sein.

Dillon sah zu, wie sie mit atemloser Vorfreude ihre Bluse aufknöpfte. Er ließ seinen heißen Atem über ihre verlockende Brust streichen. Seine Hände glitten über ihre Jeans und fummelten am Reißverschluss herum. »Runter mit dem Zeug, ich muss dich nackt haben.«

»Glaubst du, wir haben Zeit dafür?« Sie wollte ihn so sehr, dass diese geraubten Momente in ihren Augen so kostbar waren wie die vergangene ausgedehnte Liebesnacht, und so kam sie seinem Wunsch nach.

»Nicht für all das, was ich mit dir tun möchte«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber für das, was ich vorhabe, wird es reichen. Zieh mir die Jeans über die Hüften.« Als sie ihn aus dem einengenden Stoff befreit hatte, atmete er erleichtert auf. »Das ist schon viel besser. Ich werde dich jetzt hochheben. Leg mir die Arme um den Hals und die Beine um die Taille. Bist du bereit für mich?« Seine Finger hatten sich bereits auf die Suche nach einer Antwort gemacht, und als sie tief in sie hineinglitten, war sie feucht vor Verlangen.

Er begrub sein Gesicht an ihrem Hals. »Du bist so unglaublich scharf, Jess. Und das Schönste ist, dass du mich genauso sehr willst wie ich dich.« Er wurde noch steifer, als er ihre Nässe fühlte. Sie wog nicht viel, und als sie ihre Beine um seine Hüften geschlungen hatte, presste sich seine geschwollene Eichel an sie. Ganz langsam ließ er sie auf sich gleiten. Er spürte den vertrauten Widerstand, als sich ihr Körper dehnte, um ihn gänzlich in sich aufzunehmen. Der Gefühl eines Schwertes, das in eine enge Scheide gleitet, machte ihn fast verrückt. Die Empfindungen breiteten sich aus wie ein Feuersturm, heißer und explosiver denn je. Wie ein Güterzug brauste das Verlangen durch seinen Körper und durch seinen Geist, ein Crescendo von Klängen und Verheißungen, von halbformulierten Gedanken und Bedürfnissen.

Er liebte die eifrigen kleinen Laute, die ihrer Kehle entschlüpften, und wie sie ihre Hüften in einem perfekten Rhythmus bewegte, um ihm entgegenzukommen. Jessica, seine Ergänzung, ohne die sein Herz nicht vollständig war.

Jessica verlor sich in den harten Stößen, mit denen er in sie drang, und in der feurigen Glut der brodelnden Leidenschaft, die in ihr aufstieg und sie ganz und gar verschlang. Sie warf ihren Kopf zurück und ritt ihn heftig, spannte ihre Muskeln um ihn herum an, packte zu und rieb sich an ihm, um sie beide schnell hochzuschaukeln und zum Höhepunkt zu bringen.

Sie konnte nicht fassen, dass sie das war, die dort im Schuppen, halbnackt, mit zerknautschten Kleidungsstücken, diesen wilden, wollüstigen Ritt absolvierte. Aber das spielte keine Rolle mehr, nichts anderes spielte eine Rolle, nur noch der Regen aus Lichtern und Farben, als sie in Splitter zerbrach und sich auflöste, während ihr Körper ein Eigenleben entfaltete. Sie klammerte sich fest an Dillon, als er schließlich mehrfach fest zustieß und sein heiserer Aufschrei durch ihre Schulter gedämpft wurde.

Sie hielten einander umklammert und lachten leise und zufrieden miteinander, während sich ihr Herzschlag wieder normalisierte und Dillon Jessica langsam auf den Boden stellte. Diese geraubten Momente waren für beide so kostbar wie Gold. Es war nicht ganz einfach, ihre Kleidungsstücke wieder zurechtzurücken. Jessica konnte ihre Schuhe nicht gleich finden, und Dillon lenkte sie auf ihrer Suche ständig ab, indem er ihren Hals und ihre Finger küsste oder zärtlich ihr Ohr leckte. Einen Schuh fand sie zwischen den Blumentöpfen, den anderen mit der Sohle nach oben auf einem Sack Erde. Sie nahm den Schuh in die Hand und zupfte gedankenverloren den Seetang aus der Sohle.

»Mit diesen Schuhen war ich nicht mal in der Nähe des Meeres. Wo habe ich den Seetang aufgelesen?« Sie schlüpfte hinein, kehrte in Dillons Arme zurück und bot ihm ihren Mund dar, damit er sie küsste. Nach einem langen Kuss glitten Dillons Lippen über ihr Kinn auf ihre Kehle.

Als Jessica den Kopf zur Seite neigte, um ihm den Zugang zu erleichtern, sah sie, dass sich vor dem kleinen Fenster etwas bewegte.

»Was ist?«, fragte Dillon und hob, als er spürte, wie sie zusammenzuckte, widerstrebend den Kopf. »Dein Hals eignet sich perfekt zum Knabbern. Ich könnte ewig hierbleiben. Bist du ganz sicher, dass wir den Weihnachtsbaum heute holen müssen?«

»Dort draußen hat sich etwas bewegt. Ich glaube, jemand beobachtet uns«, flüsterte Jessica. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Aber als sie noch einmal durch das kleine Fenster sah, konnte sie niemanden entdecken. Doch das änderte nichts. Jemand beobachtete sie.

Dillon stöhnte. »Nicht schon wieder. Ich kann Don nur raten, nicht noch ein Geständnis abzulegen. Sonst könnte es passieren, dass ich ihn von der Klippe stoße.« Er stellte sich an das kleine, quadratische Fenster und sah sich um. »Ich sehe niemanden, Kleines, vielleicht sind es die Wasserspeier auf dem Dach.«

Jessica konnte die Belustigung in seiner Stimme hören, den leisen Spott. Sie versuchte darauf einzugehen und sich von ihm umarmen zu lassen, aber sie wurde das Gefühl nicht los, von etwas Unheimlichem angestarrt zu werden.

»Komm schon, Jessie«, rief Trevor und brachte die beiden damit sofort auseinander. »Ich hoffe, ihr tut nichts, wovon ich nichts wissen will. Ich komme nämlich rein.« Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Trevor sah sie finster an. » Alle anderen waren zu feige, nachzusehen, was ihr treibt.«

»Wir suchen die Axt«, improvisierte Jessica lahm.

»Ach, wirklich?« Trevor zog die Augenbrauen hoch, genauso, wie es sein Vater manchmal tat. Die Rolle der scheltenden Vaterfigur stand ihm blendend. »Hilft euch das vielleicht weiter?« Er schaltete das Licht ein, das in jeden Winkel des kleinen Schuppens drang. Dann sah er seinen Vater missbilligend an. »In einem Geräteschuppen? «

»Trevor!« Errötend eilte Jessica zur Rückwand, da sie wusste, dass dort die größeren Werkzeuge aufbewahrt wurden. Als sie nach der Axt griff, fiel das große Brecheisen um. Murrend hob sie es auf und wollte es wieder an seinen Platz stellen. Dabei fielen ihr der getrocknete Lehm und die Tannennadeln auf, die daran klebten. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Brecheisen.

Trevor nahm die Axt. »Kommt schon, alle warten auf euch. Jessie, hör auf zu schmachten, das ist peinlich. Wenigstens hattest du genug Verstand, auf meinen Dad reinzufallen. «

»Euch macht das nichts aus?«, fragte Dillon und sah seinem Sohn sehr ernst ins Gesicht.

»Wen würden wir denn als Ersatz für Jessie haben wollen? «, entgegnete Trevor. »Sie ist unsere Familie.Wir wollen doch nicht, dass ein anderer sie uns wegnimmt.«

»Als ob das passieren könnte.« Jessica beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen. »Kommt schon, wir sollten uns beeilen, bevor sich die anderen auf die Suche nach uns machen.« Sie ging voraus.

Die kleine Gruppe erwartete sie im Schutz der Bäume. Es war schon so spät am Tag, dass ihnen keine Zeit für etwas anderes als die Suche nach dem Weihnachtsbaum blieb, dem sie solche Wichtigkeit beimaßen.Tara und Trevor setzten sich sofort in Bewegung, weil sie wussten, wo sie den richtigen Baum finden würden. Paul hielt mit den beiden Schritt, lachte mit ihnen, knuffte Trevor gutmütig und zerzauste gelegentlich Taras Haar. Brenda und Robert liefen weitaus gemessener nebeneinander her, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Brian und Don stritten sich laut darüber, wie man den Regenwald und die Ozonschicht am besten retten konnte und ob das Fällen eines einzigen kleinen Weihnachtsbaums globale Auswirkungen haben würde.

Dillon hielt Jessica fest an der Hand, als er auf dem Weg ausschritt. Sein Leben hatte sich drastisch verändert. Alle, die ihm wichtig waren, waren bei ihm und wohnten unter seinem Dach. Er sah auf die Frau hinunter, die so dicht neben ihm herlief. Irgendwie war es Jessica gelungen, im Handumdrehen seine ganze Welt zu verändern. Seine Kinder waren bei ihm und langsam, aber sicher, entwickelte sich zwischen ihnen allen ein Vertrauensverhältnis. Er konnte ein enormes Potenzial erkennen und war plötzlich für all die Möglichkeiten, die das Leben bot, aufgeschlossen. Das war erfrischend, aber auch beängstigend.

Dillon wusste, dass seine Selbstachtung immer eng mit seiner Musik verbunden gewesen war, aber auch mit der Fähigkeit, enorme Verantwortung zu übernehmen. Seine Kindheit war schwierig gewesen, ein hartes Ringen, um das Gefühl, auch selbst zu zählen. Was konnte er ihnen allen jetzt bieten, wenn er nicht mehr in der Lage war, die Musik, die er ständig in seinem Kopf hörte, zu spielen?

Der feine Dunst in der Luft begann sich in Nieselregen zu verwandeln, während sie über den Pfad liefen. Die Bandmitglieder machten sie auf einen Baum nach dem anderen aufmerksam, alles große Tannen mit dichten Zweigen. Die Zwillinge jedoch schüttelten heftig die Köpfe und erhofften sich Beistand von Jessica. Sie stimmte ihnen zu und folgte ihnen zu dem schmächtigen kleinen Bäumchen mit Lücken zwischen den Zweigen, das sie am Vorabend ausgesucht hatten. Der Baum wuchs am Rand einer Klippe über einem kleineren Hügel schief im Schatten zweier größerer Bäume. Der Regen ließ den Boden glitschig werden.

»Komm bloß nicht in die Nähe des Randes, Tara«, befahl Dillon und lief mit finsterer Miene um das erbärmliche Bäumchen herum. »Das ist euer perfekter Weihnachtsbaum? «

Trevor und Tara grinsten einander an. »Genau der ist es. Er möchte mit uns nach Hause kommen. Wir haben ihn gefragt«, sagte Tara feierlich.

»Für diesen kümmerlichen Strauch bin ich bei strömendem Regen durch den Wald gelaufen?«, entrüstete sich Brenda. »Gütiger Himmel, seht euch doch um, hier stehen überall die fantastischsten Bäume.«

»Mir gefällt er«, sagte Don und klopfte den Zwillingen auf die Schultern. »Hier hat er keine Überlebenschance – ich finde, den sollten wir mitnehmen und ihm zeigen, wie man feiert, damit er auch mal seinen Spaß hat.«

Jessica nickte. »Mir erscheint er perfekt.« Sie lief um den erbärmlichen kleinen Baum herum und berührte einen der längeren Zweige, der sich in Richtung Meer streckte. »Das ist genau der Richtige.«

Dillon zog eine Augenbraue hoch und sah Robert an, der hilflos die Achseln zuckte. »Wenn es sie glücklich macht.«

Brian trat vor, um Dillon die Axt aus der Hand zu nehmen. »Mir gefällt das verflixte Ding – es braucht ein Zuhause und ein bisschen Aufmunterung.« Er zielte mit der Axt auf den schmalen Stamm. Brian war kräftig, und bereits der erste Hieb hinterließ eine tiefe Kerbe.

Tara drückte ihren Bruder mit leuchtenden Augen an sich. »Genauso habe ich es mir ausgemalt, Dad.« Sie schlang den anderen Arm um ihren Vater.

Dillon stand ganz still da, als ihn die liebevolle Geste seiner Tochter mit rasender Freude erfüllte.

Paul lachte und machte seine Jacke auf. »Hast du dir den Regen auch vorgestellt, Tara? Wir wären auch ohne ihn ausgekommen.«

Der graue Nieselregen wurde dichter. Beim nächsten Hieb versenkte Brian das Blatt der Axt vollständig im Stamm. In einem gleichmäßigen Rhythmus, der zum Rauschen des Regens passte, holte er immer wieder aus und schlug zu. Robert legte einen Arm um seine Frau, weil er ihr Schutz gegen den aufkommenden Wind bieten wollte. Der Baum bebte und begann, sich zur Seite zu neigen.

»He!« Paul schlüpfte jetzt ganz aus seiner Jacke und reichte sie, über Jessica hinweg,Tara. »Zieh dir das über.«

Tara strahlte ihn durch den grauen Dunst freudig an. »Danke, Paul.« In dem Moment, in dem sich ihre Finger um den Stoff schlossen, war ein bedrohliches Knacken zu hören.

Die Zweige zitterten und kamen dann auf sie zu. Paul schrie eine Warnung und sprang zurück, um nicht getroffen zu werden. Sein Ellbogen stieß gegen Jessicas Schulter, und sie flog nach hinten, als Pauls Füße auf dem schlammigen Untergrund ausrutschten.

Dillon schubste Tara in Trevors Arme, während er selbst durch den Schlamm zu Jessica sprang. Zu seinem Entsetzen knallte sie auf die Erde und rutschte bedrohlich nah an den Rand der Klippe. Er sah, wie sie nach den wankenden Zweigen des Baums zu greifen versuchte, aber Pauls größere Gestalt prallte in einem wüsten Durcheinander von Armen und Beinen gegen sie. Beide schlitterten über den Rand der bröckeligen Klippe. Pauls Finger hinterließen auf der Suche nach Halt breite Spuren in der glitschigen Erde.

Dillon warf sich zu Boden, blieb flach liegen und packte Jessicas Knöchel, als sie über den Rand der Klippe stürzte. Er merkte, dass er heiser aufschrie, von lähmendem Entsetzen durchdrungen. Der Weihnachtsbaum lag neben ihm, wenige Zentimeter weiter links. Don warf sich quer über Dillons Beine, um zu verhindern, dass er hinter Jessica herrutschte, und Robert sprang mit einem Satz zu Paul und packte seine Handgelenke, als er sich an die Felsen klammerte. Einen Moment lang herrschte Stille, die nur von dem ächzenden Wind, dem stampfenden Meer, dem Geräusch des Regens und dem schweren Atmen durchbrochen wurde.

»Daddy?« Taras Stimme klang dünn und verängstigt.

Trevor ließ sich neben seinem Vater auf den Boden fallen und schaute über den Rand der Klippe auf Jessica hinunter. Sie hing mit dem Kopf nach unten und strengte sich an, ihn so weit zu drehen, dass sie zu ihnen aufblicken konnte. Mit Ausnahme ihres Kopfes hielt sie vollkommen still, da ihr bewusst war, dass nur Dillons Finger, die ihren Knöchel gepackt hielten, sie vor dem Absturz bewahrten. Trevor streckte beide Hände aus und packte ihre Wade. Gemeinsam begannen sie, Jessica hochzuziehen.

»Es ist alles in Ordnung, Schätzchen«, beschwichtigte Dillon seine Tochter. »Jess fehlt nichts, richtig, Kleines?« Er konnte so tun, als zitterten seine Hände nicht und als sei sein Verstand nicht vor Entsetzen betäubt. »Robert, kannst du Paul halten?«

»Ich habe ihn.« Robert mühte sich mit dem Gewicht ab. Brenda und Tara packten seinen Gürtel und zogen mit aller Kraft daran. Brian griff an ihnen vorbei und mit vereinten Kräften zogen er und Robert Paul nach oben. Als Paul in Sicherheit war, half Brian Trevor und Dillon mit Jessica.

Sie alle saßen im Schlamm. Dillon,Tara und Trevor hatten ihre Arme um Jessica geschlungen. Der Regen nahm zu. Jessica konnte das Herz in ihrer Brust heftig schlagen hören. Dillon hatte sein Gesicht an ihrer schmerzenden Schulter begraben. Tara und Trevor klammerten sich an sie und hielten sie so fest, dass sie glaubte, sie würden sie in der Mitte entzweireißen. Sie sah die anderen an. Paul wirkte vollkommen niedergeschmettert, sein Gesicht starr vor Schreck. Brendas Gesicht war weiß. Robert, Don und Brian wirkten erschrocken.

Der nächste Unfall. Diesmal war vor allem Jessica in ihn verwickelt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas anderes als ein Unglück gewesen war. Waren all die anderen Unfälle, die sich in der letzten Zeit ereignet hatten, wirklich nichts weiter als ein zufälliges Zusammentreffen ungünstiger Umstände? War sie seit dem Tod ihrer Mutter paranoid? Nach Trevors Unfall hatte sie sich die nähere Umgebung sorgsam angesehen und doch kein Anzeichen entdeckt, dass hinter dem Erdrutsch etwas anderes als eine natürliche Bodenbewegung nach einem Unwetter gesteckt hatte. Aber was war mit der vermummten Gestalt, die Trevor und Tara gestern gesehen hatten und die sie selbst in der Nacht ihrer Ankunft auf der Insel gesehen hatte? Wer konnte das sein? Vielleicht war es der Hausmeister. Vielleicht sah er so schlecht, dass er nichts und niemanden um sich herum wahrnahm. Das war eine unbefriedigende Erklärung, aber wenn sich nicht jemand auf der Insel versteckt hielt, fiel ihr nichts anderes ein.

»Ich habe deine Jacke gerettet, Paul«, sagte Tara zaghaft und hielt den kostbaren Gegenstand hoch, damit ihn jeder sehen konnte.

Alle brachen in erleichtertes Gelächter aus, mit Ausnahme von Paul. Er schüttelte den Kopf, und in seiner Miene spiegelte sich nach wie vor ungläubige Bestürzung. Jessica war sicher, dass in ihrem Gesicht dasselbe zu lesen war.

»Lasst uns zum Haus zurückgehen«, schlug Dillon vor. »Falls es keinem von euch aufgefallen ist – hier draußen regnet es. Ist alles in Ordnung mit dir, Paul?«

Paul antwortete nicht, sondern zitterte von Kopf bis Fuß, aber er ließ sich von Brian und Dillon auf die Füße helfen.

Jessica spielte mit dem Gedanken, sie könnte sich geirrt haben, was die Unfälle anging, sogar die Bremsen im Wagen ihrer Mutter. Vielleicht hatte sich ja doch niemand daran zu schaffen gemacht. Und auch an ihrem eigenen Wagen nicht. Bei all den anderen banalen Kleinigkeiten könnte es sich um etwas ganz anderes handeln. Sie fuhr sich mit einer zitternden Hand durchs Haar. Sie wusste es wirklich nicht.