6
Jessica schloss beim Spielen die Augen und ließ die Musik durch ihren Körper strömen. Durch ihr Herz und ihre Seele. Es stimmte nicht, da fehlte etwas, etwas, das sie nicht richtig hinbekam. Sie war schon dicht dran, ganz dicht, aber sie bekam es noch nicht zu fassen. Sie schüttelte den Kopf und lauschte mit dem Herzen. »Es ist nicht ganz so, wie es sein sollte. Es ist schon nah dran, aber perfekt ist es nicht.«
Die Enttäuschung war ihr so deutlich anzuhören, dass Dillon sich zusammenriss, um sich nicht anmerken zu lassen, wie groß seine eigene Enttäuschung war. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass er tobte und sie anschrie. Was sie brauchte, war vollständige Harmonie zwischen ihnen. Im Gegensatz zu Don war Jessica klar, was er wollte, denn sie hörte einen ähnlichen Klang in ihrem Kopf, der aber nicht aus ihren Fingern herauskam. »Lass uns etwas anderes versuchen, Jess. Nimm den Klang zurück. Halte die Noten länger und lass die Musik atmen.«
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Auf ihrem Gesicht drückte sich enorme Konzentration aus, während ihre Finger liebevoll über die Saiten glitten. Sie horchte auf die melancholische Tonlage, den introspektiven Klang, die langsame Eröffnung und das Anschwellen von Leid und Schmerz, bis es ihr das Herz brach und Tränen in ihren Augen standen. Ihre Finger stellten abrupt jede Bewegung ein. »Es ist nicht die Gitarre, Dillon. Der Klang ist da, betörend, lebendig und gefühlvoll. Hör dir das an, hier ist der Punkt, genau hier.« Sie spielte die Töne noch einmal. »Wir können hier nicht einfach die Spuren übereinanderlegen, das wird niemals genügen.«
Er schnippte mit den Fingern und legte den Kopf mit geschlossenen Augen zur Seite, damit sie es noch einmal spielte. »Ein Saxophon? Etwas, das mit seinem weichen und melancholischen Klang genau hier einfällt? An exakt dieser Stelle, ein Instrument, das Einsamkeit ausdrückt? «
Jessica nickte und strahlte. »Genau das ist es. Hier muss das Saxophon einsetzen und für ein paar Takte die Führung übernehmen, während sich die Gitarre in den Hintergrund zurückzieht. Mit dieser Melodie sind Bass und Schlagzeug einfach überfordert. Wir verlieren das Gesamtbild aus den Augen. Beim Abmischen lässt sich einiges machen, aber ich würde gern hören, wie es klingt, wenn Robert uns auf dem Keyboard ein Orchester simuliert. Dieser Song sollte eine größere Tiefenstruktur haben. Die Stimme gibt die Tiefe, die wir brauchen.«
Dillon lief auf und ab und blieb dann vor ihr stehen. »Ich kann das Saxophon hören, ich weiß genau, wann es einsetzen muss.«
Sie nickte. »Das wird funktionieren, ich weiß es. Ich habe schon Ideen für das Abmischen. Don kann jetzt reinkommen und spielen.«
»Nein!« Er sah aus, als wollte er ihr den Kopf abreißen. Jessica hätte beinah gestöhnt. Sie wandte sich ab und wünschte, sie fände ihn nicht so attraktiv. Wenn es doch nur die Chemie gewesen wäre, die zwischen ihnen knisterte, und nicht noch viel mehr.
»Don wird niemals deine Leidenschaft haben, Jess. Das weiß er, er hat es selbst gesagt. Er hat gesagt, ich soll einen Ersatz für ihn finden.«
Mit größter Behutsamkeit lehnte sie die Gitarre an die Wand. »Ich werde nicht für ihn einspringen. Ich kann nicht so spielen, wie du es willst. Mir fehlt die nötige Erfahrung. Und selbst wenn ich es täte, das ist ein Männerverein. Die wenigsten Musiker wollen zugeben, dass eine Frau Gitarre spielen kann.«
»Du hast die Erfahrung. Ich helfe dir«, versprach er. »Und die Band will, dass es ein Erfolg wird. Sie würden alles tun, damit es weitergeht.«
Sie schüttelte den Kopf und wich vor ihm zurück.
Dillons Lächeln ließ sein Gesicht strahlend, jungenhaft, charmant und absolut unwiderstehlich wirken. »Machen wir einen Spaziergang?«
Es war schon spät, und draußen war es dunkel. Sie hatte seit einiger Zeit nicht mehr nach den Zwillingen gesehen, aber die Versuchung, noch mehr Zeit mit Dillon allein zu verbringen, war zu groß. Sie nickte.
»Dort drüben gibt es noch eine zweite Tür.« Er zog ihr seinen Pullover, den er vor Tagen achtlos zur Seite geworfen hatte, über den Kopf, schlüpfte in sein Jackett, öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. Er stieß einen leisen Pfiff aus, und der Schäferhund, der Jessica und die Zwillinge bei ihrer Ankunft so grob begrüßt hatte, kam angerannt.
Die Nacht war frisch, die Luft dunstig und salzig. Sie schlugen einen schmalen Wildpfad ein, der sich durch die Bäume wand, und da sie dicht nebeneinander herliefen, berührten sich ihre Hände gelegentlich. Als ihre Hand in seiner lag, hätte Jessica nicht sagen können, wie es dazu gekommen war.
Sie blickte zu ihm auf, und ihr stockte der Atem. Ihr Herz flatterte und schlug rasend schnell vor Glück. Aber es hieß jetzt oder nie. Wenn sie die Luft zwischen ihnen jetzt nicht bereinigte, würde er für sie verloren sein. »Wie bist du eigentlich an Vivian geraten? Sie schien nicht zu dir zu passen.«
Sie liefen schweigend weiter, bis sie schon glaubte, er würde ihr nicht antworten, doch dann atmete er langsam aus.
»Vivian.« Dillon fuhr sich mit der freien Hand durch sein schwarzes Haar und sah auf sie hinunter. »Warum ich Vivian geheiratet habe? Das ist eine gute Frage, Jess, und ich habe sie mir selbst schon hundertmal gestellt.«
Über ihnen spannte sich ein Baldachin von Bäumen. Eine sanfte Brise ließ das Laub rascheln. »Dillon, ich habe nie verstanden, warum du sie dir ausgesucht hast. Ihr beide wart so verschieden.«
»Ich habe Vivian mein Leben lang gekannt, wir sind in derselben ärmlichen Siedlung aufgewachsen. Wir hatten nichts, keiner von uns, weder Brian noch Robert oder Paul. Und Viv schon gar nicht.Wir hingen ständig miteinander rum, haben unsere Musik gespielt und große Träume gehabt. Sie hatten es beide schwer im Leben, sie und Brenda. Ihre Mutter war Alkoholikerin, die jede Woche einen neuen Mann hatte. Du kannst dir ja vorstellen, wie das Leben von zwei kleinen Mädchen aussah, die in dieser Umgebung schutzlos aufgewachsen sind.«
»Sie hat dir leidgetan.« Es war keine Frage.
Dillon zuckte zusammen. »Nein, dann stünde ich als edelmütig da, und das bin ich nicht, Jess, ganz gleich, wie gern du mich so sehen möchtest. Ich habe mir sehr viel aus ihr gemacht, ich dachte sogar, ich würde sie lieben. Verdammt, ich war achtzehn, als wir zusammengekommen sind. Ich wollte sie beschützen und für sie sorgen. Ich wusste, dass sie keine Kinder wollte. Ihr und Brenda hat es davor gegraut, ihre Figur zu verlieren und sitzengelassen zu werden. Ihre Mutter hat ihnen vorgehalten, es sei ihre Schuld, dass die Männer immer fortgingen, denn die Mädchen hätten ihre Figur ruiniert. Haben sich ihre Liebhaber an ihre Töchter rangemacht, hat sie den Mädchen sogar eingeredet, sie seien selbst daran schuld, denn es sei doch wohl klar, dass sie den Männern lieber waren. « Er fuhr sich wieder mit der Hand durchs Haar. »Das habe ich schon gehört, als wir noch Kinder waren. Ich habe Vivian sagen hören, sie würde nie ein Baby bekommen, aber vermutlich wollte ich nicht begreifen.«
Sie liefen schweigend weiter, bis Jessica merkte, dass sie in stummem, gegenseitigem Einvernehmen den Weg zu den Klippen eingeschlagen hatten. »So viele Geister aus der Vergangenheit«, stellte sie fest, »und keinem von uns ist es gelungen, sie zu begraben.«
Dillon hob ihre Hand und legte sie direkt über seinem Herzen auf seine warme Brust. »Du hast ganz anders gelebt als wir, Jess, du kannst das nicht verstehen. Vivian hatte nie eine Kindheit. Ich war alles, was sie hatte – ich und die Band und Brenda, wenn die nicht gerade mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hatte. Als Vivian herausfand, dass sie schwanger war, ist sie ausgeflippt, total ausgerastet. Sie konnte nicht damit umgehen und hat mich um Erlaubnis gebeten, abzutreiben, aber ich wollte eine Familie. Ich dachte, nach der Geburt würde sie ihre Meinung ändern. Ich habe sie geheiratet und ihr versprochen, wir würden ein Kindermädchen einstellen, das sich um die Babys kümmert, während wir mit der Band auf Tour gehen.«
Dillon ging voraus, als sie aus dem dichten Wald auf die blanken Klippen über dem Meer traten. Sofort peitschte ihm der Wind das Haar ins Gesicht. Instinktiv schützte er Jessicas Körper mit seinem. »Ich habe Rita eingestellt, damit sie sich um die Kinder kümmert, und wir sind losgezogen. Wir sind einfach fortgegangen.« Nachdenklich sah er sie an und führte ihre Hand an seine Lippen.
Jessica erschauerte und fühlte, wie tief in ihrem Unterleib geschmolzenes Feuer sprudelte. Sie konnte das Schuldbewusstsein und die Reue in seiner Stimme hören und zwang sich, beim Thema zu bleiben. »Die Band kam gerade ganz groß raus.«
»Nicht gleich, aber der Aufschwung hatte begonnen.« Er streckte eine Hand aus und, weil er es einfach nicht lassen konnte, griff er in ihr leuchtendes, rotgoldenes Haar. »Ich wollte es so sehr, Jess, das Geld, das gute Leben. Ich wollte mir nie Sorgen machen müssen, ob wir ein Dach über dem Kopf haben oder woher die nächste Mahlzeit kommt. Im Lauf der folgenden drei Jahre haben wir hart gearbeitet. Wenn wir nach Hause kamen, hat Vivian den Zwillingen ganze Säcke voller Geschenke mitgebracht, aber sie wollte sie nie anfassen oder mit ihnen reden.« Er ließ ihre seidigen Strähnen durch seine Finger gleiten. »Als die Zwillinge vier Jahre alt waren, hatte die Band rasenden Erfolg, aber wir waren alle total kaputt.« Abrupt ließ er sie los.
»Ich erinnere mich noch daran, wie sie mit Geschenken kam.« Jessica zitterte ein wenig, denn sie fühlte sich plötzlich ganz allein. »Vivian hat sich von uns und den Zwillingen ferngehalten. Sie kam nicht oft nach Hause.« Dillon war ohne sie zu Besuch gekommen, denn Vivian war die meiste Zeit lieber mit den anderen Bandmitgliedern in der Stadt geblieben.
Der Wind brachte vom Meer einen eigentümlichen Nebel mit, dicht und nahezu drückend. Der Hund blickte mit einem tiefen Knurren auf die stampfenden Wellen hinaus. Das Geräusch jagte Jessica einen Schauer über den Rücken, doch als Dillon mit den Fingern schnalzte, verstummte das Tier.
»Nein, nicht oft.« Dillon zog sein Jackett aus und half ihr hinein. »Sie war immer so zart, so anfällig für fanatisches Gedankengut. Ich wusste, dass sie trank. Himmel nochmal, wir haben doch alle getrunken. Damals waren Partys am laufenden Band eine Lebensform. Brian ist auf seltsame Praktiken abgefahren, zwar nicht gerade Teufelsanbetung, aber die Anrufung von Geistern und Göttern und Mutter Erde. Du weißt ja, wie er sein kann, er hat ständig diese blödsinnigen Sprüche drauf. Das Problem war, dass Vivian ihm alles aufs Wort geglaubt hat. Ich habe nicht weiter darauf geachtet, ich habe die beiden nur ausgelacht. Damals war mir nicht klar, dass sie ernsthaft krank ist. Später haben die Ärzte mir gesagt, sie sei bipolar, aber zu der Zeit dachte ich, das gehörte alles zu der Branche, in der wir waren. Das Trinken, sogar die Drogen – ich dachte, sie würde sich schon wieder beruhigen, wenn sie von dem Zeug runterkommt. Mir war nicht klar, dass sie sich ständig Pillen besorgt hat. Aber ich hätte es merken müssen, Jess, ich hätte die Anzeichen erkennen müssen, die Stimmungsschwankungen und die plötzliche Veränderung in ihrem Denken und Verhalten. Ich hätte es wissen müssen.«
Seine Hände legten sich plötzlich um ihr Gesicht. »Ich habe gelacht, Jess, und während ich über diese albernen Zeremonien gelacht habe, ging es mit ihr bergab, und sie ist geradewegs in den Wahnsinn abgestürzt. Die Drogen haben ihr den Rest gegeben, und sie hatte einen schizophrenen Zusammenbruch. Als ich begriffen habe, wie schlimm es wirklich um sie stand, war es zu spät, und sie hat versucht, dich zu verletzen.«
»Du hast sie in Rehakliniken gesteckt – wie hättest du wissen können, was bipolar überhaupt ist?« Sie erinnerte sich noch deutlich daran. »Niemand hat dir in diesem letzten Jahr, während ihr auf Welttournee wart, gesagt, wie schlimm es um sie stand. Du warst in Europa. Ich habe sie alle darüber diskutieren hören; die Entscheidung lautete, dir nichts davon zu sagen, weil du alles hingeworfen hättest. Die Band wusste Bescheid. Paul, Robert und vor allem Brian, er hat mehrfach angerufen, um mit ihr zu reden. Eddie Malone, dein Manager, hat ausdrücklich darauf bestanden, dass alle den Mund halten. Er hat dafür gesorgt, dass sie hier auf der Insel bleibt. Er dachte, mit all dem Sicherheitspersonal könne ihr nichts passieren.«
Dillon ließ sie wieder los, und seine blauen Augen richteten sich auf das Meer. »Ich habe es gewusst, Jess. Ich wusste, dass sie den Verstand verloren hatte, aber ich bin derart in der Tour aufgegangen, in der Musik, in mir selbst, dass ich mich nicht um sie gekümmert habe. Das habe ich Eddie überlassen. Wenn ich mit ihr telefoniert habe, war sie immer so hysterisch, so fordernd. Sie hat geschluchzt und mir gedroht. Ich war tausend Meilen weit entfernt und habe mich derart unter Druck gesetzt gefühlt, und ich hatte ihre Wutanfälle satt. Ich habe auf alle gehört, die mir gesagt haben, sie käme da schon wieder raus. Ich habe sie im Stich gelassen. Mein Gott, sie hat sich darauf verlassen, dass ich mich um sie kümmere, und ich habe sie im Stich gelassen.«
»Du warst gerade mal siebenundzwanzig, Dillon – geh nicht ganz so streng mit dir ins Gericht.«
Er lachte, ein leises, bitteres Lachen. »Du bestehst immer darauf, nur das Beste von mir zu denken. Glaubst du etwa, sie sei von Anfang an so gewesen wie am Schluss? Sie war viel zu zerbrechlich für das Leben, in das ich sie hineingezogen habe. Ich wollte alles. Die Familie. Den Erfolg. Meine Musik. Es hat sich alles nur darum gedreht, was ich wollte, und nicht darum, was sie brauchte.« Er schüttelte den Kopf. »Anfangs habe ich wirklich versucht, sie zu verstehen, aber sie war ungeheuer hilfsbedürftig und meine Zeit war ungeheuer knapp. Und dann auch noch die Kinder. Ich habe ihr vorgeworfen, dass sie nichts von ihnen wissen wollte.«
»Das ist doch nur natürlich, Dillon«, sagte Jessica leise. Sie legte ihre Hand in seine Armbeuge, um eine Verbindung zu ihm herzustellen, weil sie sich wünschte, der Schmerz und die Einsamkeit, die so tief in sein Gesicht gemeißelt waren, würden verschwinden.
Der Nebel wurde dichter, eine schwere Decke, die das Rascheln von Bewegungen, gedämpfte Laute und verschleierte Erinnerungen in sich trug. Es beunruhigte sie, dass der Hund den Nebel anstarrte, als sei ein Feind darin verborgen. Sie versuchte das gelegentliche Knurren des Tieres zu ignorieren. Dillon war so sehr in das Gespräch vertieft, dass er es nicht zu bemerken schien.
»Ist es das wirklich, Jess?« Er sah in ihre großen grünen Augen. »Du vergibst mir meine Fehler so bereitwillig. Ich habe die Kinder verlassen. Ich habe meiner Karriere, meinen eigenen Bedürfnissen und dem, was ich wollte, den Vorrang vor allem anderen eingeräumt. Warum war das bei mir okay, bei ihr aber unverzeihlich? Sie war krank. Sie wusste, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie hatte schreckliche Angst davor, den Kindern etwas anzutun. Sie brauchte keine Reha, sie brauchte Hilfe mit ihrer Geisteskrankheit.« Er rieb sich mit einer Hand das Gesicht, und sein Atem ging abgehackt und keuchend. »Ich bin deinetwegen in diesem letzten Jahr kaum zu Hause gewesen, Jessica. Weil ich Dinge für dich empfunden habe, die ich nicht hätte empfinden sollen. Rita wusste es. Ich habe mit ihr darüber geredet, und wir waren uns einig, es sei das Beste, wenn ich mich von dir fernhalte. Es war nicht Sex, Jess, das schwöre ich dir, es ging nie um Sex.«
Seine Stimme klang so gequält, dass es ihr das Herz brach. Sie blickte zu ihm auf und sah Tränen in seinen Augen schimmern. Sofort schlang sie ihm einen Arm um die Taille, schmiegte ihren Kopf an seine Brust und hielt ihn wortlos an sich gedrückt, weil sie ihn gern getröstet hätte. Er hatte sie nie angerührt und nie ein Wort zu ihr gesagt, das hätte unschicklich wirken können, und umgekehrt verhielt es sich genauso. Aber es entsprach der Wahrheit, dass beide die Nähe des anderen gesucht hatten, dass sie endlose Gespräche geführt hatten, dass beide die Nähe des anderen brauchten. Sie konnte fühlen, dass sein Körper bebte, weil sich Gefühle regten wie ein Vulkan, der lange Zeit untätig gewesen war und jetzt zum Leben erwachte.
Dillons Verantwortungsbewusstsein war schon immer enorm gewesen, und sie hatte es immer gewusst. Sein Scheitern fraß ihn von innen heraus auf. Jessica fühlte sich hilflos, weil sie nichts daran ändern konnte. Sie wich behutsam einen Schritt zurück, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »Wusstest du, dass sie Séancen abgehalten und Dämonen angerufen hat?«, fragte sie, weil sie es wissen musste, und wartete mit pochendem Herzen auf seine Antwort.
»Sie und Brian haben Kerzen für Geister angezündet, aber es hatte nicht das Geringste mit Teufelsanbetung, Opfern oder Okkultismus zu tun. Ich wusste nicht, dass sie sich mit einem Irren eingelassen hatte, der von Orgien, Drogen und dämonischen Göttern gepredigt hat. Ich hatte keine Ahnung, bis ich in dieses Zimmer kam und dich gesehen habe.« Er schloss die Augen und ballte eine Faust.
»Du hast mich dort rausgeholt, Dillon«, erinnerte sie ihn behutsam.
Er schmeckte sie wieder, die rasende Wut, die in jener Nacht in ihm aufgewogt war, eine Gewalttätigkeit, derer er sich nicht für fähig gehalten hatte. Er hatte sie alle zerstören wollen, jede einzelne Person in diesem Raum. Er hatte Vivians Liebhaber zu Brei geschlagen und Vivian jede Beschimpfung, die ihm eingefallen war, an den Kopf geworfen, ihr seinen Ekel gezeigt und ihr befohlen, sein Haus zu verlassen. Er hatte geschworen, sie würde die Kinder nie wiedersehen und nichts mehr in seinem Leben zu suchen haben. Vivian hatte dagestanden, nackt und schluchzend, und sich an ihn geklammert, in den Moschusgeruch anderer Männer eingehüllt, während sie ihn angefleht hatte, sie nicht fortzuschicken.
Dillon sah Jessica in die Augen. Beide erinnerten sich klar und deutlich an die Szene.Wie hätten ihnen die Einzelheiten auch entfallen können? Der dichte Nebel trug ein seltsam schimmerndes, farbiges Licht in sich und trieb phosphoreszierend von der Küste ins Inland.
Dillon wandte den Blick von der Unschuld auf Jessicas Gesicht ab und starrte auf die weißen Wellenkämme hinaus, während er sein Geständnis ablegte. »Ich wollte sie töten. Ich habe kein Mitleid empfunden, Jessica. Ich wollte ihr das Genick brechen. Und ihre Freunde wollte ich auch töten, jeden Einzelnen von ihnen.«
Seine Stimme klang ehrlich. Und wahrhaftig. Sie hörte das Echo der Wut, und die Erinnerungen spülten über sie hinweg und erschütterten sie. Er hatte erfahren, dass sich tief in seinem Inneren ein Dämon verbarg, und Jessica hatte es miterlebt.
»Aber du hast sie nicht getötet, Dillon«, sagte sie voll Überzeugung.
»Woher weißt du das, Jess? Wie kannst du dir so sicher sein, dass ich nicht noch einmal in diesen Raum gegangen bin, nachdem ich dich die Treppe hinaufgetragen hatte? Nachdem ich dich mit herausgerissenem Herzen auf dein Bett gelegt hatte? Nachdem ich wusste, dass sie einen lüsternen Perversen dazu angestachelt hatte, dich anzufassen und deinen gesamten Körper mit Symbolen des Bösen zu beschmieren? Als ich dich so gesehen habe, so verängstigt …« Seine Hand ballte sich zur Faust. »Sie wollten dich zerstören, weil du das Gute und die Unschuld verkörpert hast, genau das Gegenteil von dem, was sie waren.Weshalb solltest du glauben, ich sei nicht wieder hingegangen, hätte die beiden erschossen, sie alle in diesem Raum eingesperrt, das Haus angezündet und sei dann fortgegangen?«
»Weil ich dich kenne.Weil die Zwillinge, die Bandmitglieder, meine Mutter und auch ich in diesem Haus waren. «
»Jeder ist fähig zu morden, Jess, und glaube mir, ich wollte ihren Tod.« Er seufzte schwer. »Du musst die Wahrheit wissen. Ich bin in jener Nacht ins Haus zurückgegangen. «
Das Schweigen zog sich endlos in die Länge, während der Wind gespenstisch heulte und kreischte. Jessica stand auf den Klippen und starrte in die dunklen, schäumenden Wellen. So schön und doch so tödlich. Sie erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sich das Wasser über ihrem Kopf geschlossen hatte, als sie sich ins Meer gestürzt hatte, um Tara, die an der steilen Böschung hinuntergerollt war, herauszuziehen. Jetzt fühlte sie sich genauso wie damals, als sei sie in eiskaltes Wasser eingetaucht und würde auf den Meeresgrund hinabgezogen. Sie blickte zum Mond auf. Die schweren grauen Wolken zogen vor dem silbernen Himmelskörper vorüber. Der Nebel bildete Ranken, lange, dünne Arme, die sich gierig ausstreckten, während die Wellen in die Höhe sprangen und krachend gegen die Felsenküste schlugen.
»Jeder weiß, dass du zurückgegangen bist. Das Haus stand in Flammen, und du hast dich hineingestürzt.« Ihre Stimme war sehr leise. Ihr ging plötzlich etwas auf, eine Ahnung, die zur Gewissheit wurde.
Dillon nahm ihr Kinn, sah ihr in die Augen und zwang sie, seinem Blick standzuhalten und die Wahrheit zu sehen. »Nachdem ich dein Zimmer verlassen hatte, bin ich aus dem Haus gelaufen. Alle haben mich gesehen. Alle wussten, dass ich wütend auf Vivian war. Ich habe geweint, Jess, nachdem ich dich so gesehen hatte und wusste, was du durchgemacht hattest. Ich konnte nicht aufhören zu schimpfen und zu toben, und ich konnte auch meine Tränen nicht verbergen. Die Band glaubte, ich hätte Viv mit einem Liebhaber erwischt. Ich bin rausgerannt, habe mich im Wald verkrochen und bin ein paarmal um das Haus gelaufen. Aber dann habe ich mich auf die Suche nach deiner Mutter gemacht. Ich fand, sie sollte wissen, was Vivian, ihre Freunde und dieser Irre dir angetan hatten.«
»Sie hat nie auch nur ein Wort zu mir gesagt.«
»Ich habe ihr erzählt, was passiert ist. Und zwar alles. Wie ich dich vorgefunden hatte. Was sie getan hatten. Ich war total durchgedreht«, gab er zu. »Rita war der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte, und ich wusste, dass du ihr nichts davon erzählen würdest, denn du hast mich immer wieder angefleht, ihr nichts davon zu sagen. Du hast gesagt, der Gedanke, sie wüsste es, sei dir unerträglich. « Er fuhr sich aufgewühlt mit einer Hand durchs Haar, als die Erinnerungen ihm die Kehle zuschnürten. »Rita hat sich selbst die Schuld gegeben. Sie wusste schon seit einiger Zeit, was Vivian trieb. Als sie es zugegeben hat, habe ich sie angeschrien. Ich war so wütend und so unbeherrscht, und ich wollte Rache für das, was dir zugestoßen war. Im Rückblick sehe ich, dass alles meine Schuld war, aber in jener Nacht habe ich allen anderen die Schuld daran gegeben, dass dir diese Dinge zugestoßen sind, und ich habe sie gehasst und wollte ihren Tod, aber in Wirklichkeit war ich derjenige, der zugelassen hat, dass es dazu kommen konnte.«
Dillon musterte ihr Gesicht, als sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Ich bin ins Haus zurückgegangen, wütend und entschlossen, dich zu rächen. Rita wusste, dass ich zurückgegangen bin. Deine Mutter glaubte, ich hätte Vivian und ihren Liebhaber ermordet. Den Brand hielt sie für einen Unfall, hervorgerufen durch die Kerzen, die bei dem Kampf umgestoßen worden waren. Sie wusste, dass ich ins Haus zurückgegangen bin, und sie glaubte, ich hätte die beiden erschossen, aber sie hat es nie jemandem erzählt.«
Jessica schüttelte heftig den Kopf. »Sie hat nicht geglaubt, dass du sie getötet hast. Das hätte Mom nie von dir gedacht.«
»Sie wusste, in welcher Gemütsverfassung ich war. Ich hatte eine solche Wut in mir, dass ich mich selbst nicht mehr erkannt habe. Ich hatte vorher keine Ahnung, wie gewalttätig ich werden kann. Es hat mich verzehrt. Ich konnte nicht mehr klar denken.«
Jessica schüttelte den Kopf. »Das höre ich mir nicht an. Ich glaube es dir ja doch nicht.« Sie wandte sich von der tosenden Brandung, dem tiefen Schmerz und dem dichten, lockenden Nebel ab und richtete ihren Blick zurück auf die Sicherheit des Hauses.
Dillon packte ihre Arme und hielt sie fest. Seine blauen Augen blickten forschend in ihr Gesicht. »Du musst die Wahrheit wissen. Du musst wissen, warum ich mich in all den Jahren ferngehalten habe.Warum deine Mutter mich besucht hat.«
»Ganz egal, was du sagst, Dillon, ich werde es dir nicht glauben. Sieben Menschen sind bei diesem Brand gestorben. Sieben. Aufgrund dessen, was Vivian mir angetan hat, hätte meine Mutter vielleicht den Mund gehalten, um dich zu retten, aber sie hätte niemals geschwiegen, wenn sie geglaubt hätte, du hättest sieben Menschen getötet.«
»Aber wenn das Feuer ein Unfall war, wäre es kein Mord gewesen, und diese sieben Menschen, die gestorben sind, haben in meinem Haus eine Orgie gefeiert und ihrem Priester Ritas Tochter als ihr jungfräuliches Opfer vorgeworfen, damit er seine Freude an ihr hat.« Seine Worte waren grob, sein Gesicht eine Maske der Wut. »Glaub mir, Schätzchen, Hass und Wut waren ihr nicht fremd. Sie hat beides selbst empfunden.«
Jessica blickte lange Zeit zu ihm auf. »Dillon.« Sie legte ihre Hand auf seine Wange. »Du wirst mich niemals dazu bringen, dass ich glaube, du hättest Vivian erschossen. Niemals. Ich kenne deine Seele. Ich habe sie immer gekannt. Vor mir kannst du nicht verbergen, wer du bist. Es zeigt sich jedes Mal, wenn du einen Song schreibst.« Sie legte ihm die Arme um den Hals, und ihre Finger glitten in sein seidiges Haar. »Du warst anfangs so anders, dass ich den, der aus dir geworden ist, schon gefürchtet habe, aber du kannst dich nicht vor mir verstecken, wenn du komponierst.«
Dillon konnte nicht fassen, wie fest sie an ihn glaubte. Es war das reinste Wunder. Er zog sie eng an sich, begrub sein Gesicht in ihrem weichen Haar und raubte sich Momente des Vergnügens und des Trostes, die ihm nicht zustanden.
»Meine Mutter hat mich nie darauf angesprochen, Dillon, was mir in jener Nacht zugestoßen ist.Warum hat sie in all den Jahren nie mit mir darüber gesprochen? Die Alpträume. Ich habe mir jemanden gewünscht, mit dem ich reden kann.« Ihn hatte sie sich gewünscht.
»Sie hat mir erzählt, sie hätte darauf gewartet, dass du auf sie zukommst, aber das hast du nie getan.«
Jessica seufzte leise, als sie sich von Dillon löste. »Ich konnte mich nie dazu durchringen, ihr zu erzählen, was passiert war. Ich habe mich schuldig gefühlt. Ich frage mich heute noch, was ich hätte anders machen müssen, um die Situation zu vermeiden.« Ihre Hand streichelte seinen Arm, und sie fühlte die Wülste seiner Narben unter ihrer Handfläche, den Beweis für seine heroische Tat. Ein Liebesbeweis und ein Ehrenabzeichen, das er vor der Welt verbarg. »Wie könnte Mom dich für schuldig gehalten haben?«
»Ich habe ihr erzählt, was vorgefallen ist, und dabei die ganze Zeit Sachen zerbrochen, den beiden gedroht und geflucht wie ein Irrer. Sie saß schluchzend auf dem Küchenboden und hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen. Ich bin wieder nach oben gegangen. Ich wusste nicht, was ich tun würde. Ich glaube, ich hatte vor,Vivian und ihre Freunde gewaltsam aus dem Haus zu werfen, einen nach dem anderen, ins Meer. Deine Mutter hat mich nach oben gehen sehen. Auf der Treppe bin ich stehen geblieben, denn ich konnte Vivian weinen und die anderen anschreien hören, sie sollten verschwinden, und in dem Moment wusste ich, dass mir ihr Anblick unerträglich ist. Ich konnte sie einfach nicht mehr sehen. Ich bin wieder nach unten gegangen und habe das Haus durch die Hoftür verlassen. Ich wollte weder von deiner Mutter noch von der Band gesehen werden. Ich musste allein sein. Ich bin in den Wald gegangen und habe mich hingesetzt und geweint.«
Sie konnte wieder atmen, richtig atmen. Er würde also doch nicht den albernen Versuch unternehmen, sie davon zu überzeugen, dass er Vivian erschossen hatte. »Ich habe immer gewusst, dass du unschuldig bist, Dillon. Und ich glaube immer noch nicht, dass meine Mutter dachte, du hättest die beiden getötet.«
»Oh doch, Jessica, sie hat es geglaubt. Bei der Verhandlung hat sie den Mund gehalten, aber sie hat mir klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ich mich von dir und den Kindern fernhalten muss. Das war ich ihr schuldig. Dafür, was dir zugestoßen ist, wäre ich ihr mein Leben schuldig gewesen, wenn sie es verlangt hätte.«
Jessica fühlte sich, als hätte er ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. »Sie hat nie anders als gut über dich gesprochen, Dillon.«
»Sie wusste, dass ich dich wollte, Jess. Ich hätte es niemals geschafft, in deiner Nähe zu sein und mich nicht mit allen Mitteln um dich zu bemühen«, gestand er, ohne sie anzusehen.
Er sagte es so beiläufig, so sachlich, dass sie nicht sicher war, ob sie richtig gehört hatte. Er blickte aufs Meer hinaus und in den dichten Dunstschleier, doch sie sah er nicht an.
»Und ich wäre sofort darauf eingegangen«, gestand sie in demselben beiläufigen Tonfall und folgte seinem Beispiel, indem auch sie auf die tosende Brandung hinausblickte.
Sein Adamsapfel geriet in heftige Bewegung, und ein Muskel in seiner Kinnpartie zuckte, als er ihr ehrliches Eingeständnis hörte. Er wartete einen Herzschlag lang, dann noch einen, während er um die Kontrolle über seine Gefühle rang. »Jemand hat versucht, mich zu erpressen. Sie haben einen Drohbrief geschickt, in dem stand, sie wüssten, dass ich in jener Nacht ins Haus zurückgegangen bin, und wenn ich ihnen nicht jeden Monat zehntausend Dollar gäbe, gingen sie zur Polizei. Ich sollte das Geld monatlich an einem bestimmten Tag auf ein Schweizer Bankkonto überweisen. Die Worte waren aus einer Zeitung ausgeschnitten und auf ein Blatt Papier geklebt. Meines Wissens war Rita der einzige Mensch, der gesehen hat, dass ich ins Haus zurückgegangen bin, bevor die Schüsse fielen. Das war der Grund, weshalb ich sie gebeten habe herzukommen, um darüber zu reden.«
»Du hast geglaubt, meine Mutter erpresst dich?« Jessica war schockiert.
»Nein, natürlich nicht, aber ich dachte, sie könnte in jener Nacht eine andere Person gesehen haben, die beobachtet hat, dass ich ins Haus zurückgegangen bin.«
»Du meinst jemanden von den Sicherheitskräften?Vom Personal?Von den Gärtnern? Damals waren so viele Leute hier. Glaubst du, es war einer von ihnen?«
»Es musste jemand sein, der mit dem Inneren des Hauses vertraut ist, Jessie.«
Jessica blickte zum Haus zurück. »Dann muss es einer von ihnen gewesen sein. Ein Mitglied der Band. Sie haben zeitweise hier gewohnt. Alle haben den Brand überlebt. Robert? Er und Brenda brauchen das Geld, und ihr würde ich es zutrauen. Ich bezweifle, dass ihr eine Erpressung auch nur das Geringste ausmachen würde. «
Dillon musste lachen. »Das ist wahr – Brenda wäre der Meinung, das sei ihr gutes Recht.« Sein Lächeln verblasste, und seine blauen Augen verloren jeden Glanz. »Aber sie brauchen alle Geld, jeder Einzelne von ihnen.«
»Dann besteht die Möglichkeit, dass eines der Bandmitglieder meine Mutter umgebracht hat. Sie muss jemanden gesehen haben und hat denjenigen vielleicht darauf angesprochen.«
Dillon schüttelte den Kopf. »Das ist ganz ausgeschlossen. Ich habe mir so lange Gedanken darüber gemacht, dass ich dachte, ich verliere den Verstand — es ist einfach nicht möglich. Ich habe sie alle, mit Ausnahme von Don, mein Leben lang gekannt. Wir waren als kleine Kinder zusammen, wir sind zusammen zur Schule gegangen, wir haben schlechte Zeiten gemeinsam durchgestanden. Wir waren wie eine Familie, mehr als nur eine Familie.«
Sie legte sich eine Hand an den Hals, eine seltsam verletzliche Geste. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, den wir kennen, Mom getötet hat.«
»Vielleicht war es ja wirklich ein Unfall, Jessie«, sagte er behutsam.
Sie stand einfach nur da und sah ihn an, mit diesem Ausdruck äußerster Zerbrechlichkeit im Gesicht, der ihm in der Seele wehtat. Dillon konnte sich nicht zurückhalten. Er zog sie an sich und küsste sie. Jessica zu küssen erschien ihm so natürlich wie das Atmen. Sobald er sie berührte, war er verloren.
Dillon zog sie in seine Arme, und ihr weicher, anschmiegsamer Körper war wie für ihn geschaffen. Seine Zunge glitt behutsam über ihre Lippen und bat um Einlass. Als seine Zähne spielerisch an ihrer Unterlippe knabberten, keuchte sie, und er ergriff sofort Besitz von ihrem Mund und erkundete fordernd ihren Zauber. Wo sie sonst vorsichtig gewesen wäre, war sie bei ihm pure Leidenschaft, ein herrlicher Ausbruch von Begierde, die im Einklang mit seinem Beharren zunahm.
Ihr Mund machte süchtig, und er tat sich daran gütlich, während der Wind an ihrem Haar und an ihrer Kleidung zerrte. Die Seeluft kühlte die Glut ihrer Haut, während die Temperatur anstieg. Seine Erektion war beträchtlich und schmerzhaft. Sein Verlangen nach ihr tobte in seinem Körper, ein dunkles Begehren, das er nicht zu befriedigen wagte. Abrupt hob er den Kopf und stieß einen leisen Fluch aus.
»Du hast keinen Funken Selbsterhaltungstrieb«, fauchte er sie an, und in seinen blauen Augen loderte ein Gefühl, das sie nicht zu benennen wagte.
Jessica blickte in sein geliebtes Gesicht. »Und du hast zu viel davon.« Ihr Mund verzog sich zu einem verlockenden Lächeln.
Er fluchte wieder. Sie wirkte versonnen, ihr Blick war verschleiert und sinnlich, ihr Mund sexy und provozierend und zum Küssen da. Dillon schüttelte den Kopf, denn er war entschlossen, sich ihrem Zauber zu entziehen. In seinen Augen war sie so wunderschön und unschuldig, unfähig zu den verwerflichen Dingen, die Menschen einander antun konnten. »Niemals, Jess. Da mache ich nicht mit. Falls du mit dem verrückten Gedanken spielst, einen jämmerlichen Musiker zu retten, kannst du es glatt vergessen.« Seine Worte klangen aufgebracht, sogar zornig.
Jessica hob ihr Kinn. »Wirke ich etwa wie der Typ Frau, der einen Mann, der so viel hat, bemitleiden würde? Du brauchst kein Mitleid, Dillon, und du hast es nie gebraucht. Nicht ich bin vor dem Leben davongelaufen, sondern du. Du hattest die Wahl. Auch wenn meine Mutter noch so oft gesagt hat, du solltest dich von mir und den Kindern fernhalten, stand es dir doch frei, zu uns zurückzukommen.« Es gelang ihr nicht ganz, den verletzten Ton aus ihrer Stimme zu verbannen.
Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Die Wahl, die ich getroffen habe, hat uns alle an diesen Punkt gebracht, Jess. Meine Wünsche. Meine Bedürfnisse. Das wird nicht noch einmal passieren. Hast du vergessen, was sie dir angetan haben? Dann kann ich es dir in lebhaften Einzelheiten schildern. Ich erinnere mich an alles. Es ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Wenn ich nachts die Augen schließe, sehe ich dich hilflos und verängstigt daliegen. Verdammt nochmal, wir tun das nicht!« Abrupt kehrte er ihr den Rücken zu, wandte sich von der stürmischen See ab und lief steif zum Haus zurück.
Jessica sah hinter ihm her, und ihr Herz pochte im Rhythmus der schäumenden Wogen. Die Erinnerungen bedrängten sie so sehr, dass sie einen Moment lang wahnsinnig zu werden drohte. Der Nebel glitt zwischen sie und Dillon, dicht und bedrohlich, und nahm ihr die Sicht auf ihn. Neben ihr knurrte der Schäferhund und starrte mit gefletschten Zähnen die Dunstschwaden an.
»Jess!« Dillons ungeduldiger Tonfall durchdrang diese seltsame Illusion, die sich daraufhin sofort auflöste. »Beeil dich, ich lasse dich hier draußen nicht allein.«
Jessica stellte fest, dass sie lächelte. Sein Ruf klang zwar mürrisch, aber sie hörte die unbeabsichtigte Zärtlichkeit, die er ihr nicht zeigen wollte. Sie ging wortlos zu ihm, und der Hund raste neben ihr her. Ihnen blieb genug Zeit. Es war noch nicht Weihnachten, und Wunder geschahen immer an Weihnachten.