Der Preis der Unsterblichkeit

 

1

 

Okay, es wird gleich höllisch wehtun.

Ich holte tief Luft und betrat das von Alkohol geschwängerte Zimmer. Als mich Dean bemerkte, richtete er sich zu seiner vollen Größe von 1,90 Meter auf und wunderte sich, dass ich seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte. Vielleicht hielt er mich für einen Freak, und das machte ihm Angst. Vielleicht fürchtete er sich auch vor sich selbst, davor, was er von mir wollte. Vermutlich schlug er meine Mutter deshalb meistens dann, wenn ich nicht da war.

Ich öffnete meine zu Fäusten geballten Hände und hoffte, die Spannung im Raum würde nachlassen, bevor sie sich blitzartig entlud.

»Du kommst aber früh zurück.« Er musterte mich mit schweren Lidern, konnte mir aber nicht in die Augen sehen.

Ich war groß und unscheinbar, dünn und kurvenlos, aber das spielte keine Rolle. Als er mir mit seinen blassblauen Augen durch den Raum folgte, bekam ich eine Gänsehaut. Wenn wir beide allein in der Wohnung waren, ging ich ihm aus dem Weg, aber manchmal schaffte er es, mir in unserem düsteren Flur aufzulauern. Krank auf eine Art, die ich nicht heilen konnte, bedrängte er mich dann mit seinem riesenhaften Körper und lachte, wenn ich vor ihm zurückwich.

Das Komische war, dass Dean genau wie die Erwachsenenversion eines charmanten, harmlosen Jungen aussah, in den sich alle Mädchen auf der Highschool verknallten. Er hatte leicht gelocktes, blondes Haar und ein freundliches, offenes Gesicht, das jeden, der ihn nicht kannte, sofort für ihn einnahm. Möglicherweise hatte sich Anna ja deshalb gleich zu ihm hingezogen gefühlt.

»Vielleicht ruf ich beim nächsten Mal vorher an«, überlegte ich laut. »Dann kannst du schauen, dass du Mom bis fünf nach neun verprügelt hast, ich kann um zehn nach neun den Notarzt rufen und um Mitternacht können wir dann alle ins Bett gehen.«

Ich sagte das ganz ohne Sarkasmus, nur mit bitterer Resignation. Dean ballte die Hände zu Fäusten, die sich wie Stahl anfühlen konnten. Ich hatte meine Mutter beschützen wollen und war zu lange geblieben, aber Anna liebte Dean über alles. Mehr als mich. Und Dean liebte die Schecks mit den Unterhaltszahlungen meines Vaters, die es ihm ermöglichten, sich eine Flasche Tequila nach der anderen reinzuziehen.

Er kam auf mich zu. »Willst du mich aufhalten, Prinzessin?«

Auf mein gleichgültiges Verhalten fiel er nie herein. Nachdem ich meine Mutter bewusstlos am Boden liegen sah, hätte ich ihn am liebsten umgebracht. Ich fürchtete mich vor dem bevorstehenden Gewaltausbruch und dem Moment, wenn ich Anna berühren würde. Ohne den Blick von ihm zu lösen, bewegte ich mich seitwärts, um das abgenutzte Sofa und den verschrammten Couchtisch zwischen uns zu bekommen. Anna stöhnte auf und Dean warf ihr einen verächtlichen Blick zu.

»Hältst du dich für einen echten Kerl, weil du Frauen zusammenschlägst?«, spottete ich, um ihn abzulenken.

Bei seinem Lächeln lief mir ein Schauer über den Rücken. Es war ein warnendes Lächeln – ein Lächeln, nach dem sich das Wetter vorhersagen ließ, denn auf seinen Empfänger ging garantiert die Hölle nieder. »Du hältst dich für was Besseres, meine Kleine, aber du wirst mich gefälligst respektieren!« Er riss den Gürtel aus den Schlaufen seiner schmutzigen Jeans. Als er sich das schwarze Leder um die Fäuste wickelte, glitzerte die Schnalle im Licht – eine blanke, glänzende Waffe.

Hass ergriff mich und lähmende Angst. Ich mache ihn besser wütend, entschied ich. Dann war das Ganze vielleicht schneller vorüber. Während ich mich auf Anna zubewegte, grinste ich voller Hohn.

»Dich respektieren? Du bist doch nichts weiter als ein mieser Feigling! Du willst mich schlagen, oder, Dean? Nur zu!«

Ich hatte mich noch nie über ihn lustig gemacht, und nur noch einen knappen Meter von Anna entfernt, bekam ich kalte Füße. Blöd. Zu blöd. Er wird uns beide umbringen. Aber zumindest hätte das makabre Wartespiel dann ein Ende. Inzwischen war er mir so nahe, dass er mich berühren konnte. »Wag es ja nicht«, zischte ich.

Er holte aus, und ich stellte mich vor meine Mutter. Er versetzte mir einen Schlag in die Magengrube und ich stolperte über sie. Mit einem dumpfen Geräusch krachte ich mit dem Kopf gegen die Wand. Dean packte mich am Hals und hielt mich so auf den Füßen. Ich atmete die schale Mischung aus Schweiß- und Tabakgeruch ein. Er schnitt mir die Luft ab, drückte lächelnd immer weiter zu, bis mir vor Schmerz die Knie nachgaben.

Anna bewegte sich plötzlich und kreischte: »Nein!« Dann sprang sie auf und grub Dean die roten Fingernägel in den Unterarm. In meinem verzweifelten Kampf um Luft packte ich mit einer Hand Deans Arm und umklammerte mit der anderen meine Mutter.

Ich kniff die Augen zusammen. Ich sterbe, dachte ich. Meine Kräfte verließen mich. Die mentale Mauer, die meine Fähigkeiten in Schranken hielt, stürzte ein, und ohne ihren Schutz donnerten Annas Schmerzen durch mich hindurch und erlaubten mir Einblicke in ihren Körper. Ich bemerkte zwei gebrochene Rippen, eine Gehirnerschütterung, ein blutendes Auge und Prellungen am ganzen Körper. Wie bei einem großartigen Feuerwerk knallten Farbtupfer an meine geschlossenen Augenlider. Meine Lungen zogen sich zusammen und ich machte mir Annas Verletzungen zu eigen, heilte sie und übertrug ihre Schmerzen auf mich.

Annas Angriff hatte Dean aus dem Gleichgewicht gebracht. Er riss sie an den Haaren, damit sie von ihm abließ, und sein Griff um meinen Hals lockerte sich. Sie schluchzte, und der Sturm in mir verdoppelte und verdreifachte sich. Ich hatte meine Mutter nicht beschützen können. Wutentbrannt stellte ich mir vor, wie Dean von meinen Schmerzen niedergestreckt wurde, wie von einem feurigen Blitzschlag.

Grellrotes Licht sprang knisternd von meiner Hand auf seinen Arm über. Sein Gesicht erstarrte in Entsetzen, dann zuckte er zusammen und wand sich. Ein lautes Krachen zerriss die Luft – entweder brachen seine Rippen oder meine – und ich verlor die Besinnung.

 

Ich wachte davon auf, dass mir jemand sanft das Haar aus dem Gesicht strich und mir der Duft von Moschus in die Nase stieg. Anna. Angst drang durch die dunstigen Kanten meines Schlafs und ich setzte mich zu hastig auf. Ohne mich um meine schmerzenden Bauchmuskeln zu kümmern, sah ich mich nach Dean um, doch meine Mutter war allein da. Schwaches Sonnenlicht schien durch das einzige Fenster. Die kratzigen Bettlaken und der Geruch nach Desinfektionsmitteln schrien nach Krankenhaus.

Ich war also doch nicht gestorben.

Meine Kehle brannte und ich kämpfte gegen meine Tränen an. Anna beobachtete mich, und ich machte mich an eine Bestandsaufnahme ihrer Verletzungen. Als mich Dean im Würgegriff hatte, war nicht genügend Zeit geblieben, um meine Mutter vollständig zu heilen, und vor den Ärzten hatte sie ihre Verletzungen garantiert verheimlicht. Trotz ihrer Gegenwehr ergriff ich ihren Arm und registrierte ein paar ältere Wunden, die sie mir verschwiegen hatte. Ich machte mir Vorwürfe, und dann empfand ich nichts mehr, als ich bereit war, ihre Verletzungen zu absorbieren.

Anna zuckte zusammen, aber das ignorierte ich und sah zu, dass ihre tieferen Blutergüsse ausheilten. Um ihre gebrochenen Rippen hatte ich mich ja schon gekümmert, doch ihre Gehirnerschütterung bekam ich nicht in den Griff. Kopfverletzungen hatten die schlimmsten Auswirkungen auf mich und waren am schwersten zu heilen. Meine Mutter würde bohrende Kopfschmerzen bekommen, aber das würde sie schon überstehen, um dann doch irgendwann wieder zusammengeschlagen zu werden. Ich seufzte erleichtert auf, als ich fertig war, ließ sie los, und die vertrauten blauen Funken sprangen von meinen Fingerspitzen auf ihren Arm über.

Sie schreckte zurück und fing an zu weinen. Die energiebedingte Hitze, eine Begleiterscheinung der Heilung, hatte sich in Eiseskälte umgewandelt und ich zitterte. Meine Mutter wusste genau, wozu ich imstande war. Wie auch nicht, nach den vielen Malen, die ich sie geheilt hatte, nachdem ich mit zwölf meine Fähigkeiten entdeckt hatte. Sie hasste es und tat so, als gäbe es sie nicht, selbst dann, wenn auf meiner Haut genaue Abbilder der Blutergüsse sprossen, die auf ihrer verschwanden.

»Wo ist Dean?« Das Krächzen in meiner Stimme, wohl eine Folge der Strangulation, erschreckte mich und ich fragte mich, ob ich mich damit nun womöglich dauerhaft herumschlagen müsste.

»Der ist auch hier. Er … er hat sich beim … Sturz verletzt. Seine Rippen sind gebrochen. Die Ärzte sagen, das wird wieder.«

Ihrem Ton nach zu urteilen, hatte sie sich bereits eingeredet, das Unmögliche sei nie geschehen. Sie berührte meine Hand, was selten geschah. »Hör mal, Kleines. Die Bullen … die stellen einen Haufen Fragen, wollen wissen, was vorgefallen ist. Ich habe ihnen gesagt, das Ganze sei ein Missverständnis gewesen.«

Das erklärte, wieso sie bei mir saß anstatt bei Dean. Sie wollte sicherstellen, dass ich für sie log. Ich drehte mich weg, damit ich sie nicht mehr ansehen musste, und sie fuhr mir vorsichtig durchs Haar. Sie würde mir sagen, dass ich Dean nicht wütend machen solle. Wenn ich mich doch einfach benähme … immer wieder dieselbe alte Leier. Nie war es Deans Schuld, wenn er ihren Kopf mit den Fäusten traktierte. Es war ihre, denn sie hatte ihm das Bier nicht schnell genug gebracht. Es konnte nicht seine Schuld sein, wenn er seine angezündete Zigarette in meinen Arm bohrte. Ich hätte ihm meinen Gehaltsscheck vom Videostore aushändigen sollen.

Und tatsächlich, sie fing davon an, dass bei unserer Heimkehr alles anders würde. Wir müssten uns mehr anstrengen, eine Familie zu sein. Bei ihren Worten wurde mir übel. Ich hielt mir die Ohren zu und schrie in meinem Kopf: Halt bloß die Klappe!

Nachdem sie gegangen war, musste ich eingeschlafen sein, denn inzwischen war es dunkel im Zimmer und mein Vater war gekommen.

Den Großteil meines Lebens war Ben O’Malley einfach nicht vorhanden gewesen. Vor Jahren hatte ich ihn einmal angerufen und gedacht, er käme wie der Ritter in der glänzenden Rüstung und würde mich retten. Seine Sekretärin hatte mir erklärt, er sei zu beschäftigt, um ans Telefon zu kommen, und mir versprochen, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Er hatte nie zurückgerufen. Danach hatte ich mich geweigert, mit ihm zu sprechen.

Ben merkte, dass ich aufgewacht war und kam zu mir ans Bett. »Remy? Wie fühlst du dich?«

Mein Blick wanderte über seine hochgewachsene Gestalt und ich musterte ihn zum ersten Mal seit Jahren. Dass ich seine Tochter war, war nicht zu übersehen. Ich war beinahe so groß wie er und hatte ebenso welliges, fast schon krauses dichtes Haar, wenngleich seines grau meliert war, meines dagegen schmutzig blond.

»Remy?«

Mein Vater nahm einen rosa Krug vom Beistelltisch und goss Wasser in eine Tasse. Er steckte einen Strohhalm hinein und hielt sie mir hin. Am liebsten hätte ich abgelehnt, aber mein Hals war völlig ausgedörrt. Nach ein paar Schlucken lehnte ich mich zurück und mir fiel auf, dass meine Verletzungen inzwischen eigentlich verheilt hätten sein müssen. Was auch immer mit Dean geschehen war, meine Selbstheilungskräfte hatten darunter gelitten, obwohl ich Anna problemlos hatte behandeln können.

Die Stimme meines Vaters riss mich aus meinen Gedanken.

»Die Polizei hat angerufen und mir mitgeteilt, dass meine Tochter ins Krankenhaus eingeliefert worden sei«, sagte Ben. »Sie äußerten den Verdacht, der Mann ihrer Mutter hätte sie so zugerichtet, obwohl Anna das bestritten hat.«

Die Bullen hatten ihr ihre Lügen nicht abgenommen.

»Und?«, krächzte ich.

Ben zog die schwarzen Brauen über ebenso marineblauen Augen wie meinen zusammen. »Was, und?«

»Und, was machst du hier?«

»Habe ich dir doch gesagt. Es hieß, du seist verletzt«, wiederholte er verwirrt.

Mein raues Lachen klang wie eine alte Maschine, kurz bevor sie ihren Geist aufgibt. »Und wo warst du die letzten acht Male?«

Seine Erschütterung traf mich deshalb so hart, weil er sich bisher nicht darum gekümmert hatte, was mit mir passierte. Ben holte tief Luft, sein gebräuntes Gesicht wurde aschfahl und seine Stimme klang vor Wut gepresst: »Warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich hätte dir geholfen. Remy, ich hätte …«

Ich lachte wieder und schüttelte den Kopf. Er gab mir die Schuld! »Genau. Du hättest. Wieso gehst du nicht zurück zu deiner Frau und deiner perfekten Familie? Da kannst du dir dann wieder einreden, was für ein guter Vater du bist, wenn du den nächsten Unterhaltsscheck unterschreibst.«

Ich blendete ihn aus, indem ich die Augen schloss, so wie ich es bei Anna auch getan hatte. Es war einfach zu viel. Das Auftauchen meines Vaters, meine Mutter und Dean, meine unberechenbaren Fähigkeiten … und die nagende Angst davor, wie Dean sich rächen würde.

Dann sagte mein Vater: »Ich nehme dich mit. Ab sofort wohnst du bei mir.«

Zwei Tage darauf blies ein schneidend kalter Märzwind durch meinen dünnen Mantel und löste mir das Haar aus dem Haargummi, als ich mich aus dem Haus meines Vaters schlich. Ich machte mich zu dem verlassenen Strand in der Nähe des Bootshafens am Ende der Straße auf. Geschmolzener Schnee vermischte sich mit dem Sand und Schmutz, sodass Pfützen aus wässrigem Matsch entstanden. Steine und zerbrochene Muschelschalen lagen über den Strand verstreut, und ich bahnte mir meinen Weg hin zu einem verwitterten Felsblock, auf den ich mich setzte und ein einzelnes Segelboot dabei beobachtete, wie es über die Wellen flog. 

Beim Anblick des Waldes mit seinen nackten Baumdamen, die ohne ihre Herbstkleider schlotterten, des blauen Wassers im Hafen und des riesigen Morgenhimmels verrauchte mein Zorn. Bei meinem Vater hatte sich das Gewissen gemeldet. Anna hatte geweint, als ihr Ben sagte, er würde mich mitnehmen, zum Teufel mit der Sorgerechtsvereinbarung. Mich hatte er nicht gefragt, sondern den großen Macker markiert, bis ich mich unvermittelt in einem Flugzeug nach sonst wo in Maine wiederfand.

Was ich wollte, kümmerte niemanden. Meine Gedanken kreisten schon so lange einzig und allein darum, wie ich Dean überlebte, dass ich mir nicht sicher war, wie meine Antwort ausgefallen wäre. Es gab drei Möglichkeiten: Ich konnte aufgeben und Dean gewinnen lassen; ihn davon überzeugen, dass ich nichts wert war. Oder ich konnte wegrennen und auf eigene Faust versuchen durchzukommen. Mit meinen Ersparnissen würde ich es schaffen, in einem billigen Hotel eine Woche Freiheit zu genießen, aber das war’s dann auch schon. Die letzte Möglichkeit bestand darin, die Hilfe meines Vaters anzunehmen. Vielleicht unterschrieb mir Ben ja eine Volljährigkeitserklärung.

Sollte ich hierbleiben, musste ich aufpassen, dass niemand von meinen freakigen Fähigkeiten erfuhr. Ich musste meine Wunden also in Ruhe lassen, schließlich würde es den anderen auffallen, wenn meine Blutergüsse mir nichts, dir nichts verschwanden. Dennoch musste ich wissen, ob meine Selbstheilungskräfte wieder funktionierten. Menschenmengen konnten tödlich sein, wenn Fremde neben mir an etwas litten, das ich nicht heilen konnte. Mitunter übermannten mich ihre Schmerzen, sosehr ich mich auch darauf konzentrierte, sie abzublocken.

Damit mein Geheimnis nicht aufflog, probierte ich es an einer Verletzung, die man nicht sah: an einer meiner gebrochenen Rippen. Wie schon viele Male zuvor, stellte ich mir die gebrochene Rippe vor und malte mir aus, wie sie heilte. Als der Knochen zusammenwuchs, spürte ich seitlich ein scharfes Stechen und ich schnappte nach Luft. Doch dann ließ der Schmerz nach und ich konnte wieder freier atmen. Erleichtert streckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen.

Ein Kameraauslöser klickte.

Einige Meter entfernt stand ein Typ ungefähr in meinem Alter und hielt eine dieser mit allen Schikanen ausgestatteten Profikameras in der Hand. Als ich ihn mir genauer betrachtete, setzte mein Herz aus.

Umwerfend. Hätte ich ihn mit einem Wort beschreiben müssen, ich hätte dieses gewählt. Er war groß und schlank, schien sich in seiner Haut wohlzufühlen und wirkte selbstsicher. Er war größer als ich, worüber ich mich merkwürdigerweise freute. Dunkles schokoladenbraunes Haar umspielte in langen Wellen seinen Nacken. Scharfe Kanten kennzeichneten sein gebräuntes Gesicht. Volle sinnliche Lippen und ein markantes, von Bartstoppeln beschattetes Kinn vervollständigten das Bild, das durch eine ungefähr fünf Zentimeter lange weiße Narbe entstellt wurde, die mitten durch eine Augenbraue führte und sich bis zum oberen Teil eines Wangenknochens hinzog.

Und seine Augen. Ich hielt die Luft an. Selbst von Weitem erinnerte mich ihre dunkelgrüne Farbe an die Wälder um den Bootshafen. Ihr konzentrierter Ausdruck zeigte einen Anflug von Überraschung, als hätte er am Strand keine Gesellschaft erwartet. Eine mir nur zu bekannte schicksalsergebene Einsamkeit umgab ihn und weckte in mir unvermittelt das Gefühl von Seelenverwandtschaft.

Er zog eine seiner dichten Brauen hoch, und ich merkte, dass ich seinen Blick schon geraume Zeit erwidert hatte.

In tödlicher Verlegenheit schaute ich wieder in Richtung Hafen. Doofe Remy. Vermutlich hat er die Landschaft fotografiert. Ich fragte mich, ob er mich ansprechen würde. Vielleicht würde er sagen: »Kennen wir uns nicht?« Es würde aber keiner dieser dummen Anmachesprüche sein. So schlaksig und jungenhaft dünn, wie ich war, war ich nicht der Typ von Mädchen, auf den Jungs standen. Ich war das Mädchen, das zwei Jahre lang auf eine Highschool ging, ohne auch nur eine einzige Eroberung gemacht zu haben.

Es war sowieso egal. Er ging mit langen Schritten aufs Wasser zu. Als er es erreicht hatte, drehte er sich von der Bucht weg, als überlege er, als Nächstes den Wald hinter mir mit dem Himmel als Hintergrund zu fotografieren.

Ich linste zu ihm hinüber, sah aber schnell wieder weg, als ich merkte, dass er zurückstarrte. Mein Herz kam ins Stolpern, bis mir die Bedeutung jener hochgezogenen Braue klar wurde. Es liegt an den Blutergüssen! An diesem Morgen hatte mir der Badezimmerspiegel ein blaues Auge und eine schauerliche Kette aus gesprenkelten Lila- und Blautönen um meinen Hals gezeigt, die den Abdruck von fünf Fingern verrieten. Mein zerschundenes Gesicht war es, das die Neugierde des Fremden geweckt hatte. Ich kam mir dämlich vor und erwiderte trotzig seinen Blick. 

Er tat nicht einmal so, als würde er etwas anderes beobachten als mich. Er nahm seine Kamera in beide Hände und sein Blick wanderte über mein Gesicht und mein zerzaustes Haar, woraufhin ich so tat, als wäre ich ganz in die Aussicht vertieft.

Bald erwachte die kleine Stadt zum Leben, man hörte Autos, das Treiben der Menschen, und die seltsame Intimität des abseits liegenden Strandes ließ nach. Am Bootshafen musste ein Restaurant aufgemacht haben. Bei dem Geruch von Kaffee und fettigem Diner-Essen klappte ich beinahe zusammen. Ich hatte gestern im Flugzeug das letzte Mal etwas gegessen – ein Päckchen Erdnüsse. Ich erhob mich. Meine Gelenke hatten sich in der kühlen Luft versteift und das Stehen tat weh. Zeit zurückzugehen.

Der Auslöser klickte zum zweiten Mal, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass der Typ die Kamera auf mich gerichtet hielt. Er fotografierte in rascher Folge – ich war sein Objekt. Keine Person, nein, ein Objekt, das man studierte und auf Film festhielt. Vielleicht dachte er, ich würde mich geschmeichelt fühlen. Dabei fühlte ich mich, als würde man mir Gewalt antun.

Spontan marschierte ich auf den Jungen zu, während er weitere Fotos schoss. Er mochte größer und kräftiger sein als ich, doch meine Wut auf ihn machte das wieder wett. Als ich nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war, griff ich nach der Kamera. Mit einem überraschten Lachen wich er aus.

Wütend versuchte ich wieder, nach der Kamera zu schnappen, und bemühte mich, ihn dabei nicht zu berühren. Als er erneut auswich, rutschte ich auf den Steinen aus und fiel rückwärts in den Schneematsch. Der Aufprall verursachte höllische Schmerzen und ich rang nach Atem.

Ich erwartete, er würde wieder lachen, doch er kniete sich neben mich hin. »Alles okay mit dir?«

Meine Wut ging in Verlegenheit über, als er sich zu mir beugte und mich sorgenvoll ansah. Meine Gedanken gerieten auf Abwege. Ich hatte Unrecht gehabt, was die Narbe anging. Sie entstellte ihn kein bisschen. Jeder seiner Gesichtszüge war mit der Sorgfalt eines Meisters gewählt worden.

»Ich wollte nicht, dass du hinfällst. Ich habe nur auf meine Kamera aufgepasst.«

Er hielt mir eine Hand hin, und ich drehte mich panikartig weg und landete schließlich auf Händen und Knien. Die noch nicht geheilte Rippe protestierte und ich atmete keuchend. Ich schlang einen Arm um meine Mitte und sah in das erschrockene Gesicht des Jungen auf, der die Hand noch immer ausgestreckt hielt. Er hatte mir aufhelfen wollen, ohne zu wissen, dass jegliche Krankheit, an der er litt, mich umhauen konnte.

Er wurde aus meinem Verhalten nicht schlau, und das konnte ich ihm nicht verübeln, ich benahm mich ja völlig irre. Wie ich da mit einem Arm um den Brustkorb und schlammverkrusteter Jeans im Schneematsch kniete, musste ich plötzlich lachen. Die Lippen des Jungen zuckten. Als ich mir das Haar zurückstreichen wollte, merkte ich, dass es ebenfalls voller Schlamm war, und ich prustete wieder los.

Mein angehobener Arm lenkte seinen Blick auf meinen Hals und mir verging das Lachen, als er mit verengten Augen die Blutergüsse betrachtete, die nicht von meiner Bluse bedeckt wurden. Ich zwang mich zu einem höflichen Lächeln und stand ohne seine Hilfe auf. Er erhob sich ebenfalls und die geschmeidige Bewegung deutete auf eine Kraft hin, die im Zaum gehalten wurde. Es war nicht das erste Mal, dass mich ein Fremder nach einer von Deans Attacken musterte, und ich hasste es, bemitleidet zu werden. Ich hielt ihm eine schmutzige Hand entgegen und meinte: »Darf ich bitten?« Auf seinen verwirrten Blick hin setzte ich hinzu: »Den Film.«

»Und wieso?«

Meine Entrüstung brach sofort wieder durch. »Du hättest fragen müssen, bevor du mich fotografierst!«

Einer seiner Mundwinkel verzog sich zum Anflug eines Lächelns. »Aber das ist ein öffentlicher Strand.«

Ich wurde aus seinem Akzent nicht ganz schlau, aber vielleicht war er ja ein Tourist. Seine raue Stimme besaß die knappe Präzision der Briten, andererseits klang der Ton ein wenig kontrastlos, also eher amerikanisch. Vielleicht hielt er mich für eine Einheimische.

»Du hättest trotzdem fragen müssen!«

Er zuckte elegant mit den Schultern.

Er wollte den Film nicht herausrücken. Diese Fotos könnten schließlich im Internet landen. Für jedermann zugänglich. Jemand wie er hatte ja keine Ahnung, wie es war, auf ein wehrloses Tier reduziert zu werden.

Schluss damit, sinnlos Energien zu verschwenden, Remy! Ohne ein weiteres Wort stapfte ich davon.

Seine tiefe Stimme folgte mir. »Das war’s? So schnell gibst du auf?«

»Ja!«, rief ich zurück.

»Und du willst gar nicht wissen, wieso ich dich fotografiert habe?«

So gern ich es getan hätte, die Genugtuung gönnte ich ihm nicht. Stattdessen rief ich: »Nein!«

Plötzlich lief er neben mir, ohne dass ich ihn kommen gehört hatte, trotz der knirschenden Muscheln und Steine unter unseren Füßen. Erschrocken stolperte ich über ein Stück Treibholz. Er streckte mir helfend eine Hand entgegen, doch ich sprang schnell beiseite.

»Ich tu dir doch nichts!«

»Hab ich auch gar nicht erwartet.«

»Dann hör endlich auf, überzureagieren.« Als würde er einem Kind gut zureden, nahm seine Stimme einen sanften Tonfall an.

»Scher dich zum Teufel!«

Wir funkelten einander an, bis der Wind an meiner Bluse zerrte. Ich widerstand dem Reflex, die Blutergüsse wieder unter dem Stoff zu verbergen.

»Wer hat dir das angetan?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf meinen Hals.

Nach jahrelangem Zusammenleben mit Dean war ich inzwischen eine Meisterin darin, irgendeine Ausrede parat zu haben, weil mir die Wahrheit sowieso keiner abnahm. Die meisten fragten allerdings erst gar nicht und wenn doch, gaben sie sich mit der erstbesten Erklärung zufrieden, um nur ja nicht in irgendetwas hineingezogen zu werden.

»Ich bin in eine Tür gelaufen.« Nicht gerade die beste Lüge, aber was machte das schon?

»Wann bist du in diese … Tür gelaufen?«

Ich seufzte. »Vor drei Tagen. Bist du immer so neugierig?«

Eine Brise zerzauste sein Haar und in seinen Augen erschien ein abwägendes Glitzern.

Ich fragte mich, ob er ahnte, wozu ich imstande war. Wer ich war. Ein Freak. Eigentlich unwahrscheinlich, ich beschleunigte trotzdem meinen Schritt. Keine Ahnung, was geschehen würde, wenn die Wahrheit über mich ans Licht kam, aber ich rechnete mit dem Schlimmsten.

Der dunkle Geist des Palio
titlepage.xhtml
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_000.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_001.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_002.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_003.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_004.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_005.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_006.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_007.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_008.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_009.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_010.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_011.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_012.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_013.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_014.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_015.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_016.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_017.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_018.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_019.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_020.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_021.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_022.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_023.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_024.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_025.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_026.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_027.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_028.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_029.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_030.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_031.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_032.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_033.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_034.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_035.html
CR!AVNCZ4NV353VQ03FHCBHC2DWEYZ3_split_036.html