Mein Schwung schlägt jedes Hindernis.

Motto des Panthers (pantera)

 

 

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Montag, 16. August 1880, der Tag des Palio

 

Wie es sich geziemte, stand Eva Maria bei ihrer Familie und nahm alle guten Wünsche, die der bedeutenden Familie Morelli dargeboten wurden, huldvoll lächelnd entgegen. Links von ihr stand ihre Mutter, rechts ihr Vater, und ihre beiden Brüder standen hinter ihr auf dem Balkon des bedeutenden Würdenträgers der Stadt, der es sich nicht hatte nehmen lassen, sie einzuladen. Die Übelkeit und der Schwindel überfielen sie in immer kürzeren Abständen und eine bleierne Müdigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen, gegen die sie sich kaum zur Wehr zu setzen wusste. Mit ihren schmalen Händen umklammerte sie die Brüstung, als fürchtete sie, hinunterzufallen, wenn sie auch nur für einen Augenblick loslassen müsste.

Während der Segnung des Pferdes hatte sie sich noch ganz wohl gefühlt. In der Kirche war es angenehm kühl gewesen und sie konnte sitzen. Jetzt aber brannte die Sonne auf ihr Haupt, als wollte sie den letzten Rest Lebenskraft aus ihr heraussaugen.

Mit mäßigem Interesse verfolgte Eva Maria den corteo storico, den historischen Festzug, der vor ihren Augen auf die Piazza del Campo einzog. Der Streit mit ihrem Vater überschattete die Freude an diesem Ereignis. Sie wollte diesen Palio einfach nur schnell hinter sich bringen, um sich dann ganz den Hochzeitsvorbereitungen widmen zu können. In zwölf Tagen konnte sie den ungeliebten Namen Morelli ablegen. Dann würde sie endlich Eva Maria del Pianta sein!

Das unentwegte Läuten des sunto, der Glocke des Torre del Mangia, bereitete ihr Kopfschmerzen, doch sie würde das alles ertragen müssen, bis der Umzug beendet und alle vierzehn Gruppen auf dem Platz eingezogen waren. Die Stabträger, die Fahnenträger, Trommler, Trompeter, Armbrustschützen, die Repräsentanten und Würdenträger der Stadt und schließlich der von vier weißen Ochsen gezogene Triumphwagen mit dem Palio, der den Abschluss des Zuges bildete.

Eva Marias Herzschlag beschleunigte sich, als sie unter den Reitern Lorenzo auf seinem soprallasso, dem Paradepferd, entdeckte. Aber ihr Verlobter blickte nicht zu ihr hoch. Gewiss war er voll und ganz auf das bevorstehende Rennen konzentriert. Sie hörte ihren Vater neben sich missmutig brummen. Also hatte er ebenfalls bemerkt, dass sein zukünftiger Schwiegersohn ihm und seiner Tochter den ehrerbietigen Gruß verweigerte.

Zorn stieg in ihr auf, denn schließlich trug einzig und allein ihr Vater die Schuld daran, dass Lorenzo sich so abweisend verhielt. Wenn er ihm nur ein bisschen mehr Wohlwollen entgegengebracht hätte, dann wäre zwischen ihnen alles viel leichter gewesen.

Eva Maria betrachtete die Menschenmassen, die sich nach und nach auf dem Campo versammelten, und stutzte, als sie merkte, dass ein junger Mann, der ihr gänzlich unbekannt war, sie aufdringlich musterte. Selbstbewusst erwiderte sie seinen forschen Blick, bis ihr klar wurde, dass der Fremde nicht sie, sondern ihren Vater ansah, der dicht neben ihr stand.

Jetzt schien auch ihr Vater auf den Mann aufmerksam zu werden. Als sich die Blicke der beiden trafen, nickte der Fremde kaum merklich, dann wandte er sich eilig ab.

Nur zu gern hätte Eva Maria ihren Vater gefragt, wer der Mann war und warum er ihm zugenickt hatte. Doch sie wusste, dass sie keine andere Antwort als eine Zurechtweisung zu erwarten hatte, wenn sie es wagte, ihre Frage zu stellen.

Dieses Jahr kam ihr der Umzug schier endlos vor. Immer wieder musste sie ein Gähnen unterdrücken. Und als er schließlich vor der Tribüne am Palazzo Pubblico sein Finale fand, konnte sie einen erleichterten Seufzer nicht zurückhalten. Der Palio wurde vom Triumphwagen gehoben, auf das Podest für die Richter am Start- und Zielpunkt getragen und dort für alle gut sichtbar aufgehängt.

Dann krachte ein Böller und die Reiter kamen, jetzt auf ihren Rennpferden, aus dem Innenhof des Palazzo Pubblico. Eva Maria entdeckte Lorenzo im Kostüm des Panthers und hörte ihren Vater »Aquila vola!« rufen, als der fantino des Adlers sein Pferd an ihnen vorbei zum Startpunkt führte. Eva Marias Blick aber ruhte auf ihrem Verlobten, der einen hübschen Fuchs mit halbmondförmiger Blesse ritt. Das Tier machte einen sehr ruhigen Eindruck, so als würde es das ganze Drumherum nichts angehen. Lorenzo strich ihm wieder und wieder begütigend über den Hals. Machte er sich etwa Sorgen um das Pferd? Ihr Herz schwoll an vor Liebe zu diesem feinfühligen Mann, der sich sogar um das Wohlergehen eines Tieres kümmerte.

Während die fantini ihre Pferde im Kreis führten, verkündete der Startrichter die ausgeloste Aufstellung der Contraden, und Eva Maria musste sich alle Mühe geben, nicht in die Begeisterungsrufe der Panther-Anhänger einzufallen, als der mossiere der contrada ihres Verlobten die Innenbahn zuwies. Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass sie sich vor allem deswegen so sehr darüber freute, dass Lorenzo den besten Startplatz zugesprochen bekommen hatte, weil sie wusste, dass ihr Vater sich darüber ärgerte.

Mit jeder Contrade, die der mossiere nannte, verschlechterte sich Signore Morellis Stimmung und seine Missmutsäußerungen wurden stetig lauter. Aquila war immer noch nicht aufgerufen worden. Erst als der Startrichter auch die neunte Position durchgegeben hatte, für leocorno, entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. Der Adler würde in rincorsa starten! Das war zwar die zehnte und letzte Startposition, sie hatte jedoch den Vorteil, dass der Reiter den Startzeitpunkt bestimmte und damit einen bedeutenden Vorsprung gegenüber allen anderen genoss.

Die fantini lieferten sich bereits vor dem eigentlichen Rennen mehrere Duelle zwischen den beiden Startseilen, die den Bereich der mossa markierten. Jeder versuchte, für sich die beste Position zu ergattern und die Kontrahenten abzudrängen. Geduldig wartete der mossiere, bis ein wenig Ruhe eingekehrt war, bevor er den Start freigab.

»Vai! Vai!«, riefen die Menschen auf dem Campo voller Ungeduld. Lauft! Lauft!

Und dann ging es auf einmal Schlag auf Schlag.

Der fantino des Adlers, Genesio, stieß seinem Pferd Pilato die Fersen in die Flanken und der Hengst preschte davon. Das Startseil fiel, die Pferde galoppierten los und die Zuschauer begannen zu schreien.

Pilato kreuzte die Bahn und schaffte es, sich hinter Lorenzos Stute Luna an die zweite Position zu setzen.

Mit Freude sah Eva Maria, dass Lorenzo einen ausgezeichneten Start hingelegt hatte. Nun ritt er dem Feld voran, gefolgt vom fantino des Adlers, und mit einem Mal war ihre Übelkeit wie weggeblasen. Der Panther oder der Adler, einer von beiden würde dieses Rennen gewinnen und in beiden Fällen hätte Eva Maria einen Grund zur Freude: Entweder siegte ihr Verlobter oder ihre contrada. Was konnte es Besseres geben?

An der Kurve San Martino hielt sie die Luft an. Lorenzo wäre nicht der erste Reiter, der an dieser gefährlichen, nahezu rechtwinklingen und abschüssigen Stelle die Kontrolle über sein Pferd verlor. Aber er saß fest auf dem Rücken des Fuchses und schlug mit dem nerbo auf die Kruppe des Tieres ein, um es zu noch mehr Tempo zu bewegen.

Der fantino des Einhorns hingegen hatte weniger Glück. Er wurde zu weit nach außen getragen, sein Pferd prallte gegen die Begrenzung und schleuderte seinen Reiter in hohem Bogen von sich. Zwei nachfolgende Pferde konnten nicht mehr rechtzeitig ausweichen und stürzten ebenfalls!

Doch Lorenzo lag weiter in Führung. Dicht gefolgt von Genesio, dem Reiter des Adlers, nahm er die nächste gefährliche Kurve, den casato, so eng wie möglich und stieß Luna dabei die Fersen in die Flanken, damit sie noch schneller liefe.

Der Fuchs hatte bereits Schaum vor dem Maul, aber angetrieben von seinem Reiter wirbelten seine Hufe nur so über den Boden und er ließ seinen Verfolger nicht an sich herankommen.

Eva Maria hielt sich die Hand vor den Mund. Von ihrer erhobenen Position aus konnte sie die gesamte Rennstrecke, die es dreimal zu umrunden galt, überblicken. Jetzt näherte sich Lorenzo bereits zum zweiten Mal San Martino und seine Führungsposition schien kaum mehr in Gefahr zu sein. Drei Reiter waren bereits aus dem Rennen ausgeschieden und in diesem Moment stürzte der vierte. Konnte es noch jemanden auf dem Platz geben, der daran zweifelte, dass dieser Palio zwischen dem Adler und dem Panther entschieden werden würde?

Wie besessen schlug Genesio mit dem Ochsenziemer auf sein Pferd ein und rückte tatsächlich näher an seinen Kontrahenten heran.

Lorenzo warf einen eiligen Blick über die Schulter zurück und ließ anschließend seinerseits den nerbo mit voller Wucht auf die Kruppe seines Pferdes niederfahren. Doch dem starken Antreiben zum Trotz wurde der Fuchs nicht schneller. Im Gegenteil schien er sogar an Tempo zu verlieren! Was war da los? Als er nun zum zweiten Mal an der engsten Stelle der Rennstrecke, dem casato, vorbeikam, strauchelte das Tier sogar, und Eva Maria schrie auf, weil sie fürchtete, Lorenzo würde stürzen.

Pilato lag jetzt nur noch eine halbe Pferdelänge hinter dem Führenden und er gewann immer mehr an Boden. Schließlich waren beide Pferde gleichauf, als Genesio mit seinem Ochsenziemer ausholte und Lorenzo gezielt vor die Brust schlug. Eva Maria meinte, ihren Verlobten vor Schmerz aufschreien zu hören, was aber in Anbetracht des herrschenden Lärms ummöglich war und ihrer Fantasie entsprungen sein musste.

Zwar war es beim Palio gestattet, selbst die anderen Reiter mit dem nerbo zu attackieren – jedoch galten der Panther und der Adler als Verbündete und ein derart rücksichtsloses Vorgehen würde nicht jedem Panther-Anhänger gefallen, dessen war sich Eva Maria sicher. Ihr Vater hingegen schien an dem derben Gebaren seines fantino nichts Anstößiges zu finden. Aus voller Kehle feuerte er Genesio an.

Obwohl das gar nicht mehr nötig war. Die Ziellinie bereits vor Augen, begann Lorenzos Pferd plötzlich zu taumeln, als hätte es nicht mehr genug Kraft, sich fortzubewegen, geschweige denn einen Reiter auf seinem Rücken zu tragen. Die Vorderbeine knickten ein und Lorenzo rutschte über den Hals der Stute hinweg zu Boden, während Genesio auf Pilato an ihm vorbeizog und zum Endspurt ansetzte.

Eva Maria schrie auf. Doch Lorenzo stand bereits wieder und versuchte mit allen Mitteln, den Fuchs auf die Beine zu ziehen. Vergebens. Lunas Hinterbeine zuckten krampfartig. Das hübsche Tier hob den Kopf, hatte aber nicht mehr genügend Kraft, um sich zu erheben. Noch einmal ging ein Zucken durch den Pferdekörper, dann blieb er regungslos liegen.

Als könnte sie von dieser Seite Hilfe erwarten, wandte sich Eva Maria zu ihrem Vater um, aber auch in seinem Gesicht sah sie nur blankes Entsetzen. Mit starrer Miene schaute er unverwandt geradeaus, als suche er jemanden in der Zuschauermenge. Und als sie seinem Blick folgte, erkannte sie den jungen Mann, der ihrem Vater vor dem Rennen zugenickt hatte. Auch sein Gesicht war jetzt aschfahl und er schüttelte ungläubig den Kopf.

Der dunkle Geist des Palio
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