Glaube und Heilung von der Waffe,
die ich vorne trage.
Motto des Einhorns (leocorno)
8
9. August, eine Woche vor dem Palio
Maria steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Man musste die schwere alte Holztür ein wenig zu sich heranziehen, um sie öffnen zu können. Aber dies waren Dinge, die nach kurzer Zeit in Fleisch und Blut übergingen und über die man nicht mehr nachdachte. Maria stieß die Tür auf und genoss die kühle Luft, die ihr augenblicklich aus der großen und stets dunklen Eingangshalle des Palazzo entgegenströmte.
Im Inneren des alten italienischen Herrenhauses herrschte selbst bei gleißendem Sonnenlicht eine diffuse Dämmerstimmung. Denn die Fenster waren, wie bei Häusern im Süden üblich, recht klein, um die wärmende Wirkung der Sonne so wenig wie möglich ins Haus zu lassen. Nach einem Stadtbummel genoss Maria stets die erfrischende Kühle des Hauses. Sie warf ihren Schlüsselbund auf die kleine antike Anrichte im Flur und rief gleichzeitig nach ihrem Vater. Als sie keine Antwort bekam, fiel ihr wieder ein, dass Filipo heute Morgen gesagt hatte, er wolle zu einem Rennen etwas außerhalb der Stadt, um sich dort die Pferde anzusehen, die für den Palio in Betracht kamen.
Also stieg Maria die Treppe zu ihrem Zimmer im ersten Stock hinauf und war froh, ein wenig Zeit für sich zu haben. Die Papiertüte, in der die neue, sonnengelbe Bluse steckte, die sie soeben erworben hatte, raschelte an ihren Beinen. Maria lächelte vor sich hin. Vielleicht schaffte Angelo es, sich heute Nachmittag noch für ein paar Stunden freizumachen. Da war es gut, dass sie die Gelegenheit hatte, sich frisch zu machen. Beschwingt öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer – und blieb wie angewurzelt stehen. Die Tüte entglitt ihr und fiel leise auf den Boden.
Erschrocken hielt sich Maria die Hand vor den Mund, während sie mit weit aufgerissenen Augen die Szenerie vor sich zu erfassen versuchte. Überall in ihrem Zimmer waren rote Rosen verteilt. Auf dem Bett, auf ihrem Schreibtisch, dem Lesesessel vor dem Bücherregal und auf dem Boden. Das ganze Zimmer war regelrecht übersät mit roten Rosen, die einen beinahe schon unangenehm süßen Duft verbreiteten.
War das Angelos Werk? Wollte er ihr auf diese Weise seine Liebe zeigen?
Doch dann fiel ihr Blick auf die Wand über ihrem Bett. Ein leiser Aufschrei des Entsetzens kam über ihre Lippen, denn im ersten Moment dachte sie, es sei Blut. In großen, roten Lettern stand dort ihr Name:
M A R I A
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte unmöglich Angelo getan haben. Er würde niemals mit roter Farbe ihre Wände vollschmieren! Erst jetzt entdeckte sie, dass jemand auch ihre Schränke durchwühlt hatte. Die Schubladen ihres Schreibtischs standen ebenso offen wie die Fächer ihre Kommode, in der sie ihre Unterwäsche aufbewahrte, und über der normalerweise die Fotos von ihr und Angelo hingen, die jetzt allerdings mit zum Teil zerbrochenen Rahmen ebenfalls kreuz und quer im Zimmer verteilt waren, als hätte sie jemand wutenbrannt durch die Gegend geschleudert.
Dann fiel ihr Blick auf einen zarten türkisfarbenen Slip aus glänzender Seide, der zusammengeknüllt mitten auf dem Boden zu ihren Füßen lag. Unwillkürlich fingen ihre Hände an zu zittern, als sie nun die sorgfältig auf ihrem Bett drapierte Unterwäsche bemerkte, die nicht sie dort hingelegt hatte: Der BH aus rosa Spitze lag oben, säuberlich geschlossen, und etwas tiefer der dazugehörende, ebenfalls rosafarbene Slip.
Mit bebenden Fingern zog Maria das Handy aus ihrer Handtasche.
»Angelo, bitte, komm, ich brauche dich. Pronto!«
»Pezzo di merda«, fluchte Angelo und stolzierte wütend im Zimmer auf und ab, zertrat die auf dem Boden liegenden Rosen und trampelte auf Marias türkisfarbenem Seidenslip herum. Maria scherte sich nicht darum. Sie wusste, dass sie ihn ohnehin nie wieder tragen würde. Ebenso wenig wie ihre rosafarbene Lieblingsunterwäsche, die immer noch auf dem Bett lag. Denn wenn sie sie anzog, würde sie dabei nur an dieses grauenhafte Szenario denken müssen.
Maria saß auf dem Bettrand, hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte auf den Boden. Die Vorstellung, dass irgendein Fremder hier in ihrem Zimmer gewesen war, mit seinen gierigen Fingern in ihrer Unterwäsche gewühlt, ihre privaten Sachen betrachtet und vielleicht sogar auf ihrem Bett gelegen hatte, sorgte für ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Wer konnte das bloß getan haben? Ihr fiel eigentlich nur ein Mensch ein, den sie zu so etwas für fähig hielt. Natürlich konnte sie nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, dass es Gianluca gewesen war, der ihre Sachen durchstöbert hatte. Aber wer sollte es sonst gewesen sein?
Angelo schnaufte vor Wut. Eigentlich hatte Maria gehofft, die Anwesenheit ihres Verlobten würde ihr Trost spenden und sie beruhigen. Doch das Gegenteil war der Fall. Er schien noch aufgebrachter zu sein als sie selbst und so hatte Maria das Gefühl, sie müsse eigentlich ihn beruhigen.
»Coglione! Der kann was erleben!«
Maria, die Angelos Schimpftirade bisher wortlos hatte über sich ergehen lassen, horchte auf. »Was meinst du damit?«
»Ich werde diesem Arschloch gehörig den Marsch blasen!«, ereiferte sich Angelo. »Der wird es nicht noch einmal wagen, in deine Nähe zu kommen, wenn ich mit ihm fertig bin. Darauf kannst du dich verlassen!«
»Was hast du vor?« Maria erhob sich vom Bettrand und umfasste Angelos Oberarm. Sie konnte seine angespannten Muskeln fühlen und spürte Angst in sich aufsteigen.
Doch Angelo schüttelte sie ab. Im Augenblick konnte er ihre Nähe nicht ertragen.
»Angelo!«, rief Maria, als er zur Tür hinausstürzte. »So warte doch! Mach keinen Unsinn! Wir rufen die Polizei!«
Doch Angelo rannte bereits die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und ließ sich nicht einmal genügend Zeit, um die Haustür hinter sich zu schließen.
»Angelo!«, rief Maria noch einmal.
Aber es war bereits niemand mehr da, der sie hören konnte.
Signore Morelli nickte dem barbaresco, dem Pferdepfleger, zufrieden zu. Die casa del cavallo war in einem hervorragenden Zustand. Die jungen Männer hatten gute Arbeit geleistet und der Ankunft des Pferdes, vorzugsweise Fabioncello, der das Rennen am Vormittag erwartungsgemäß dominiert hatte, stand nichts mehr im Wege.
Der barbaresco Matteo bedankte sich für das Lob des capitano mit einem stolzen Lächeln, das noch breiter wurde, als Morelli ihm zum Abschied anerkennend auf die Schulter klopfte.
Wohin auch immer der Blick des capitano fiel, während er durch die Straßen und Gassen streifte und überall nach dem Rechten sah, wurde er hochachtungsvoll gegrüßt. Jeder, dem sich die Gelegenheit bot, schüttelte ihm freudestrahlend die Hand, wechselte ein paar Worte mit ihm, erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Signore Morelli war in diesen Tagen die wichtigste Person seiner Contrade. Vermutlich hätte selbst das Erscheinen des Papstes nicht mehr Freude auslösen können.
Morelli genoss diese Sympathiebekundungen. Das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde, ehrte ihn, und die Verantwortung, die er trug, machte ihm nicht etwa Angst, er hatte vielmehr das Gefühl, daran zu wachsen. Er war ohnehin ein Mensch, der es gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen. Und ihm lag so viel am Palio und an seiner Heimatstadt Siena, dass er jetzt bereits das dritte Jahr in Folge seinen Jahresurlaub dafür hergab, als capitano dell’ aquila den Palio zu organisieren, während sein Kompagnon die Geschäfte allein verwaltete.
Gerade unterhielt sich Morelli mit Signore Bertani, dem ältesten Einwohner seines Stadtviertels, der im nächsten Monat siebenundneunzig Jahre alt wurde, und der, obwohl er sich beim Gehen schwer auf seinen Stock stützen musste, noch erstaunlich fit war.
»Signore Morelli«, flehte Bertani mit brüchiger Stimme. »Ich habe nur noch einen letzten Wunsch, bevor ich abtrete.«
»Aber Signore Bertani«, erwiderte Morelli, »Sie werden doch mindestens hundert Jahre alt, wenn Sie uns nicht sowieso alle noch überleben!«
In die Augen des alten Mannes traten Tränen. »Ich wurde 1915 geboren. Am 26. September. Den ersten Sieg des Adlers, den ich miterleben durfte, gab es 1931. Es war der Juli-Palio, wissen Sie?«
Signore Morelli nickte und übte sich in Geduld. Dieses Gespräch gehörte ebenso zu seinen Pflichten wie die Organisation des Rennens. Er war in diesen Tagen Ansprechpartner für alle Sorgen und Nöte der Bürger seines Viertels.
»Damals war ich gerade einmal fünfzehn Jahre alt.« Der alte Mann lächelte bei der Erinnerung. »Madonna, was haben wir damals gefeiert!«
Marias Vater lachte mitfühlend. Auch er erinnerte sich noch gut an die ausschweifenden Feste, die er als junger Mann nach einem gewonnenen Palio gefeiert hatte.
»Seitdem habe ich insgesamt zehn Siege des Adlers miterleben dürfen. 1931 war der erste, dann 1939, 1956, 1959 …«, er zählte die Siege mit seinen knochigen alten Fingern mit, »… 1965, 1973, 1979, 1981, 1988 und der letzte Sieg 1992.«
Signore Morelli nickte und wunderte sich kein bisschen, dass der alte Mann jedes Datum exakt im Kopf hatte. Vermutlich musste er länger überlegen, wenn man ihn nach seinem Hochzeitstag oder den Geburtstagen seiner Kinder und Enkelkinder fragte. Aber mit dieser Art selektivem Gedächtnis war Bertani ganz gewiss nicht der Einzige in Siena.
»1992 … Das ist jetzt auch schon zwanzig Jahre her. Und ich habe nur noch den einen einzigen und letzten Wunsch, bevor ich sterben muss: Ich möchte einen weiteren Sieg des Adlers miterleben!« Nun war es um die Beherrschung des Alten ganz geschehen und eine Träne kullerte aus seinem müden, grauen Auge, die er sich unbeholfen wegwischte.
Morelli legte dem Alten tröstend den Arm um die Schulter. »Signore Bertani«, sagte er ernst, »ich verspreche Ihnen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dem Adler in diesem Jahr zu einem Sieg zu verhelfen.«
Bertanis Kopf wackelte und Morelli wusste nicht genau, ob der Alte nickte oder ob ihm einfach die nötige Kraft fehlte, um den Kopf gerade zu halten, als er aus dem Augenwinkel eine ihm vertraute Gestalt wahrnahm, die nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbeihastete. Er runzelte die Stirn, als er seinen zukünftigen Schwiegersohn Angelo erkannte, der es verdammt eilig zu haben schien. Ihm entging auch nicht der wutverzerrte Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes, auf den er sich keinen Reim machen konnte, der ihn aber sogleich in Alarmbereitschaft versetzte. War mit Maria alles in Ordnung? Hatten sich die beiden jungen Leute etwa gestritten? Augenblicklich wallten widersprüchliche Gefühle in ihm auf: Natürlich wünschte er seiner über alles geliebten Tochter das ganz große Glück, im Stillen bezweifelte er aber, dass sie es bei Angelo finden würde. Wie gern hätte er Angelo hinterhergerufen, er möge stehen bleiben und ihm erklären, was der Grund für seinen Zorn und das Ziel seiner eiligen Schritte war. Aber selbstverständlich konnte er Signore Bertani nicht einfach so stehen lassen. Also übte er sich in Geduld.
»Sie sind ein guter capitano«, sagte Bertani jetzt. »Ein sehr guter. Wir könnten uns keinen besseren wünschen. Ich bin sicher, dass Sie alles richtig machen. Und für den Rest …« Ein schelmischer Ausdruck schlich sich auf das Gesicht des alten Mannes, der ihn augenblicklich zehn Jahre jünger wirken ließ. »… für den Rest ist die heilige Jungfrau zuständig.«
»Heilige Jungfrau!«, dachte Maria, während sie sich die Bescherung in ihrem Zimmer ansah und dann den Kopf schüttelte, als sie endlich eine Entscheidung getroffen hatte: Nein, sie würde jetzt nicht ihr Zimmer aufräumen. Und sie würde auch nicht ihre Freundin anrufen, um ihr alles haarklein zu berichten. Die Vorstellung, Claudias Nachfragen nach den brisanten Details beantworten zu müssen, bereitete ihr Magenschmerzen. Erst einmal musste sie Abstand zu allem gewinnen und zur Ruhe kommen, sich darüber klar werden, was sie tun wollte. Sollte sie die Polizei anrufen? Immerhin war jemand in ihr Haus eingedrungen – was, wie sie wusste, bei dem alten Schloss und der dazugehörenden, ebenso alten Haustür nicht weiter schwer war, solange man das richtige Werkzeug besaß. Oder sollte sie lieber abwarten, bis Angelo zurückkam und ihr berichtete?
»Ach, Angelo …«
Maria machte sich Sorgen, dass ihr Verlobter den Kopf verlor. Er war so erzürnt gewesen. So kannte sie ihn gar nicht. Nein, es war besser zu warten, bis er zurückkehrte, bevor sie die Polizei einschaltete. Wer konnte schon wissen, was er mit Gianluca anstellen würde?
Maria zog – froh, nicht länger auf das Durcheinander schauen zu müssen – die Zimmertür hinter sich zu und begab sich auf den Weg in den Garten. Sie wusste genau, wo sie zur Ruhe kommen würde.
Die Bank wirkte wie immer sehr einladend. Sie stand etwas abgelegen im hinteren Teil des Gartens, umgeben von blühenden Rhododendronbüschen. Die majestätische Krone eines uralten großen Baumes spendete Schatten. Maria liebte diesen Ort. Sie setzte sich auf die Bank, schloss die Augen und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Das letzte Mal, als sie mit Angelo zusammen hier gesessen hatte, waren sie ebenfalls von Gianluca aufgeschreckt worden. Aber davor … Bei der Erinnerung daran, was sie vor Gianlucas Erscheinen getan hatten, spürte Maria ein warmes Kribbeln im Bauch.
Das Knacken eines Astes ließ sie zusammenfahren. Erschrocken riss sie die Augen auf. Was sollte sie tun, wenn es wieder Gianluca war, der sich hier herumtrieb, um ihr aufzulauern, während Angelo auf dem Weg zu ihm war und ihr nicht beistehen konnte? Eine Mischung aus Zorn und Furcht lähmte ihre Gedanken.
Doch schon eine Sekunde später lächelte sie erleichtert, als sie erkannte, wer da mit gesenktem Kopf, den Blick starr auf den Boden gerichtet in der Hoffnung, irgendeinen kostbaren Schatz zu finden – vielleicht einen außergewöhnlich geformten Stein oder ein toten Käfer – auf sie zukam.
Maria freute sich, den schmächtigen, kleinen Jungen zu sehen. Sie mochte den Sohn des Gärtners, der sie mit seiner kindlichen Sichtweise der Dinge oft zum Lachen brachte. Ein Gespräch mit Luigi war genau das, was sie jetzt brauchte, um auf andere Gedanken zu kommen.
»Ja, wen haben wir denn da?«, rief sie ihm entgegen.
»Na, wenn du mich nicht mal mehr erkennst, kann ich ja gleich wieder gehen«, entgegnete Luigi missmutig und klimperte mit seinen langen Wimpern, die dicht und geschwungen wie bei einem Mädchen waren.
»Nein, nein«, sagte Maria rasch und klopfte mit einer Hand auf die Bank neben sich. »Komm nur her, Luigi, ich freue mich, dich zu sehen!«
Luigi zögerte kurz, kam dann aber auf sie zu und setzte sich. Seine Beine zappelten in der Luft und er bohrte mit einem Stock Löcher in den Boden.
»Wie geht es dir? Was machst du so?«, erkundigte sich Maria, froh, ihren eigenen Sorgen für einen Moment entkommen zu können, indem sie sich Luigis anhörte.
Der Junge zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete: »Ich mache Exkremente.«
Maria legte die Stirn in Falten. »Was machst du? Exkremente?«
Luigi nickte ernst. »Ja, ich versuche, ein Mittel zu finden, mit dem Erdbeeren schneller wachsen, damit ich nicht immer so lange warten muss, bis sie reif sind und ich sie essen kann.«
»Ach so, du meinst Experimente«, sagte Maria.
»Hab ich doch gesagt, oder?« Luigi schaute sich suchend um. »Wo ist denn dein Angelo? Habt ihr euch gestritten?«, fragte er. Sein Ton klang hoffnungsvoll.
Maria seufzte, als ihr durch Luigis Frage wieder einfiel, warum Angelo nicht bei ihr war. »Er kommt hoffentlich gleich wieder.«
»Wenn er kommt, geh ich aber.«
»Warum?«
Luigi blickte ihr geradewegs ins Gesicht. »Weil ich deinen Angelo nicht mag«, sagte er beinahe trotzig.
»Das ist aber schade«, entgegnete Maria, »ich mag ihn nämlich sehr.«
»Eben, und deswegen finde ich ihn ja doof. Ich finde, du solltest lieber mich heiraten.«
Maria lachte. »Meinst du nicht, du bist ein bisschen zu jung für mich?« Sie überlegte kurz. »Nach dem Sommer kommst du in die Schule, oder?«
Luigi nickte. Dann verzog er das Gesicht. »Du könntest ja warten, bis ich größer bin.«
»Dann bin ich alt und runzlig und du magst mich nicht mehr«, antwortete Maria.
Luigi blickte sie nachdenklich an und musterte sie von oben bis unten. »Vielleicht«, gab er schließlich zu.
»Du musst nur ein bisschen Geduld haben, Luigi«, sagte Maria. »Du wirst schon die richtige Frau treffen, wenn du groß genug bist.«
»Du meinst, ich soll eine wildfremde Frau heiraten?« Luigi klang empört. »Das finde ich aber gar nicht gut.«
Maria musste wieder lachen. »Na, wenn du sie heiratest, ist sie ja nicht mehr wildfremd.«
Luigi stocherte schweigend mit dem Stock in der Erde herum. Er schien über Marias Worte nachzudenken. »Und Angelo? Ist der dir nicht auch fremd?«
»Jetzt nicht mehr«, antwortete Maria.
»Aber er ist doch noch nicht einmal ein Adler, oder?«
Maria zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das war doch mal wieder typisch. Dieser kleine Junge konnte zwar Exkremente nicht von Experimenten unterscheiden, aber den Unterschied zwischen einem Adler und einem Drachen hatte er bereits mit der Muttermilch eingesogen. Wie jeder Sienese. Nicht umsonst gab es in Siena die gruppi piccoli, die Kindergruppen, in denen die Kinder die Werte der Contrade wie Freundschaft und Zusammenhalt lernten.
Maria erinnerte sich, dass sie einmal mit ihrem Vater zu Besuch bei einer entfernten Verwandten gewesen war, die ein kleines Kind hatte. Sie hatten gemeinsam am Tisch gesessen und Maria hatte zugesehen, wie das knapp zweijährige Mädchen gefüttert wurde. »Einen für Mama«, hatte die Mutter gesagt und dem Mädchen den Löffel mit Brei vor die Nase gehalten. »Einen für Papa.« Der nächste Löffel schwebte in den geöffneten Mund des Kleinkinds. »Und einen für den Adler.« Maria hatte gelacht, doch nach dem folgenden Satz der Mutter war ihr das Lachen im Halse stecken geblieben, denn die junge Frau hielt ihrer Tochter den nächsten Löffel hin und sagte: »Und dieser hier ist für den Panther.« Als das Mädchen erwartungsvoll den Mund aufsperrte, zog die Mutter den Löffel jedoch wieder weg und fuhr fort: »Für den Panther gibt es nichts.« Das Kind begann zu weinen.
Und Maria erinnerte sich auch noch an das barberi-Spiel, das sie in der Kindergruppe früher selbst mitgespielt hatte. Dabei wurden Holzkugeln, die in den Farben der siebzehn Contraden bemalt waren, eine abschüssige Gasse hinuntergerollt und die Kugel, die als erste unten ankam, hatte gewonnen.
Wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie vorhin beim Stadtbummel selbst noch einen Umweg in Kauf genommen hatte, um nicht durch das benachbarte Viertel des Panthers gehen zu müssen. Das Jahr über war es kein Problem, fremde Contraden zu durchqueren. Aber in den Tagen des Palio, in denen sie so wie heute gern das fazzoletto trug, ein Seidentuch mit dem Symbol des Adlers, das sie sich um die Schultern gelegt hatte, mied sie die Begegnung mit der verfeindeten Contrade lieber.
»Also?«, hakte Luigi nach, dem Marias Schweigen offenbar zu lange dauerte. »Ist er nun ein Adler oder nicht?«
»Nein, er ist kein Adler«, gab Maria zu. »Er ist ein Drache.«
Luigi nickte, als wollte er sagen, hab ich’s doch gewusst, dass da was nicht stimmt. »Und wenn man heiratet, dann bekommt man doch auch Kinder, oder?«, fuhr er anschließend in seinen Gedanken fort.
»Irgendwann vielleicht schon, ja.«
»Und werden eure Kinder dann Adler oder Drachen?«
»Wir werden uns schon einigen«, antwortete Maria, die selbst nur ungern darüber nachdachte, wie sie dieses Problem der Zukunft handhaben würden.
Luigi nickte wissend. »Mit kleinen Kindern ist es ohnehin schwierig.«
»Ach ja? Und wieso?«
»Na ja, mein kleiner Bruder zum Beispiel. Der hat noch nicht mal einen Stecker, den man hin und wieder rausziehen kann, damit er mal Ruhe gibt. Der schreit und schreit und schreit, dass man gar nicht schlafen kann.«
»Ja, das ist wirklich schlimm«, stimmte Maria zu und unterdrückte ein Lächeln. »Dass die Kinder ohne Ein- und Ausschaltknopf ausgeliefert werden ist eine wahre Schande.«
Luigi musterte sie von der Seite, als wollte er herausfinden, ob sie ihn noch ernst nähme. Doch dann glitt sein Blick über sie hinweg und richtete sich auf irgendetwas hinter ihrem Rücken. An seinen zusammengezogenen Augenbrauen konnte Maria erkennen, dass er etwas gesehen hatte, was ihm nicht gefiel.
Sie wandte sich ebenfalls um und erkannte Angelo, der sich ihnen von hinten näherte. Noch ehe er sie erreicht hatte, macht Luigi seine Ankündigung wahr und verschwand ohne ein Wort des Abschieds im Gebüsch.
Angelo ließ sich ohne Zögern auf den frei gewordenen Platz neben Maria sinken. Seine Lippe war geschwollen und unter seinem linken Auge meinte sie einen bläulichen Schatten zu sehen.
»Warum verschwindet der Kleine so schnell? Hat er Angst vor mir?«, fragte Angelo.
»Nein, er mag dich nur nicht.«
Angelo legte die Stirn in Falten. »Er mag mich nicht? Er kennt mich doch gar nicht!«
»Aber er weiß, dass du mich heiraten wirst. Und das gefällt ihm nicht, weil er selbst mich doch heiraten möchte.«
»Noch so einer.« Angelo grinste. »Ich habe mit Gianluca geredet«, fuhr er nach einer kleine Pause fort. »Er hat alles zugegeben. Aber von nun an wird er dich in Ruhe lassen, verlass dich drauf.«
»›Geredet‹? Was hast du mit ihm gemacht? Sieht er auch so aus wie du?«
Angelo schwieg beharrlich.
Maria seufzte. Wenn Angelo nicht antwortete, dann konnte sie sich in ungefähr vorstellen, wie Gianluca aussah. Na, hoffentlich nahm er sich die Lehre, die Angelo ihm erteilt hatte, wenigstens zu Herzen und ließ sie fortan wirklich in Ruhe.