Mein Name klingt nach Revolution.

Motto der Raupe (bruco)

 

 

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Montag, 16. Juli, einen Monat vor dem Palio

 

Eine dieser Maßnahmen zum Schutz der Pferde und der teilnehmenden Jockeys, über die Signore Morelli am Tag zuvor mit seinem Neffen Alessandro gestritten hatte, bestand darin, dass nicht alle Stadtviertel Sienas an dem Rennen teilnehmen durften. Und genau darüber dachte Filipo Morelli jetzt nach, während er sich auf den Weg zum Palazzo Pubblico an der Piazza del Campo machte, wo die Auslosung der letzten drei in diesem Jahr teilnehmenden Contraden stattfinden würde. Wie in jedem Jahr genau einen Monat vor der Austragung des Palio am 16. August.

Insgesamt verfügte Siena über siebzehn Stadtviertel, contradas genannt. Früher waren es einmal weitaus mehr Stadtviertel gewesen, aber einige waren verschwunden oder in anderen Contraden aufgegangen. Da die für den Palio zur Verfügung stehende Rennstrecke auf der Piazza del Campo, dem historischen Marktplatz Sienas, für siebzehn Pferde und Reiter zu eng war, hatte man sich ein ausgeklügeltes System überlegt, um die Teilnehmerzahl auf zehn zu beschränken: Teilnehmen durften immer die sieben Contraden, die vom letzten Palio ausgeschlossen gewesen waren, sowie drei weitere, die in einer festgelegten Zeremonie genau einen Monat vor dem Rennen unter Aufsicht des Bürgermeisters und der siebzehn capitani gelost wurden. Und zu genau dieser Auslosung war Signore Morelli jetzt unterwegs.

Der mehr als hundert Meter hohe Torre del Mangia, der Turm auf dem Rathausgebäude, überragte Siena auf majestätische Art und Weise und war nicht nur so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt, sondern er war auch von fast jeder Stelle in Siena aus sichtbar. Auch Signore Morelli hätte sich auf seinem Weg zum Zentrum der Stadt daran orientieren können, wenn er den Weg zur Piazza del Campo nicht ohnehin mit geschlossenen Augen gefunden hätte.

Im capitano brodelte eine gewisse Anspannung. In diesem Jahr war die Auslosung für seine contrada, den Adler, von besonderer Bedeutung. Der Turm, der Adler, die Welle, das Stachelschwein, der Wald, das Einhorn und die Wölfin standen als Teilnehmer bereits fest, denn sie hatten beim letzten Palio aussetzen müssen. Nun konnte Marias Vater nur beten, dass der Panther, der Erzfeind seiner contrada, nicht ausgelost werden würde. Denn natürlich würde der Panther alles daransetzen, einen Sieg des Adlers zu vereiteln.

Zwei Dinge waren beim Palio fast gleich wichtig: der eigene Sieg und die Niederlage des Erzfeindes. Auf beide Ziele wurde viel Aufwand und Mühe verwandt. Es würde für den Jockey des Adlers sehr viel leichter sein zu gewinnen, wenn er während des Rennens nicht vom Jockey des Panthers mit dem Ochsenziemer attackiert wurde.

Zugleich wünschte sich Signore Morelli, dass der Drache und die Eule – oder zumindest einer der beiden – gezogen werden würden, denn diese galten als Verbündete. Sie würden dem Jockey des Adlers eher zum Sieg verhelfen, als ihn zu behindern. Zumindest hatte er bei diesen beiden die größten Aussichten, mit Bestechungsgeldern etwas zu erreichen.

Signore Morelli erinnerte sich an Alessandros Bemerkung über das Zahlen von Bestechungsgeldern, die ihn gestern so aufgebracht hatte. Selbstverständlich wurden Bestechungsgelder gezahlt. Vor allem an die Jockeys der anderen Stadtviertel. Die Bestechlichkeit der fantini hatte sogar Eingang in die Sprache der Sienesen gefunden. Wenn man über jemanden sagte, »er ist wie ein fantino«, dann bedeutete das, diesem Menschen war nicht zu trauen. Aber darüber redete man doch bitte schön nicht! Etwas mehr Diskretion in diesen Dingen konnte man vom eigenen Neffen ja wohl erwarten! Auch wenn jeder wusste, dass die Jockeys untereinander geheime Absprachen trafen, manche sogar hinter dem Rücken ihres capitano.

Bei diesem Gedanken brach Signore Morelli kalter Schweiß aus, der sich auch beim Anblick der anderen capitani, die sich bereits vor dem Palazzo Pubblico versammelt hatten, nicht verflüchtigte. Doch er riss sich zusammen, schüttelte hier Hände, klopfte dort wohlwollend auf Schultern oder nickte kaum merklich mit dem Kopf – je nachdem in welchem Verhältnis der Adler zu jener Contrade stand, deren capitano er gerade begrüßte.

Aus den Fenstern des Palazzo Pubblico, des Rathauses, hingen bereits die Fahnen der Stadtviertel, deren Teilnahme am diesjährigen Palio schon feststand, und auf dem Campo hatten sich etliche Schaulustige versammelt, um als Erste zu erfahren, welche Fahnen neben die sieben anderen gehängt werden würden. Es waren natürlich in erster Linie Mitglieder der Contraden, die darauf hofften, gelost zu werden: Raupe, Drache, Gans, Widder, Muschel, Panther, Schnecke, Schildkröte, Giraffe und Eule. Aber Signore Morelli entdeckte auch eine kleine Gruppe von etwa einem Dutzend mutiger Männer, die schweigend Plakate hochhielten, auf denen zu lesen war, dass der Palio Tierquälerei sei und abgeschafft gehöre.

Schnell wandte er den Blick ab, da er fürchtete, Alessandro unter den Demonstranten zu entdecken. Und das hätte seinen Blutdruck enorm in die Höhe getrieben.

In einem feierlichen Zug verschwanden die siebzehn capitani im Rathaus, um dort gemeinsam mit dem Bürgermeister die Auslosung nach einem festen Ritual vorzunehmen: Zuerst würde der Bürgermeister aus einer ersten Urne, in der die Namen aller siebzehn Contraden enthalten waren, drei ziehen. Die capitani dieser drei waren danach berechtigt, aus einer zweiten Urne, die nur die Namen der sieben Contraden enthielt, die noch nicht am Palio teilnahmen, wiederum drei zu ziehen. Und genau diese drei durften dann am Palio teilnehmen.

 

Jubelschreie hallten über die Piazza del Campo, als ein Bediensteter des Rathauses zunächst die in Grüntönen gestaltete Flagge der Gans aus dem Fenster hängte, dann die in Rot und Violett gehaltene Fahne des Panthers und zum Schluss die farbenfrohe des Drachen.

Von Jubelschreien war Signore Morelli dagegen weit entfernt. Die Ziehung der Gans konnte er ja noch mit einem wohlwollenden Nicken quittieren. Anders als der capitano della torre, der im Augenblick der Nennung seines größten Feindes in wüste Beschimpfungen ausbrach und behauptete, die Ziehung ginge nicht mit rechten Dingen zu, und überhaupt müssten Linksradikale ohne Sinn für Recht und Ordnung und die wahren Werte Italiens vom Palio ausgeschlossen werden. Dass es sich bei dem capitano del’oca um einen Linksradikalen handeln sollte, war Signore Morelli neu. Allerdings wusste er durchaus, dass der capitano della torre in der Tat ein treuer Anhänger der konservativen Partei war. Aber lange hatte er auch keine Zeit, sich über diese Frage Gedanken zu machen, denn schon stand er inmitten eines wüsten Handgemenges, nachdem der capitano della torre auch noch behauptet hatte, sein Kollege von der Gans sei ihm soeben mit voller Absicht auf den Fuß getreten.

Die Ziehung musste für einen Augenblick unterbrochen werden, bis die beiden Streithähne, die mittlerweile mit Fäusten aufeinander losgingen, getrennt werden konnten. Und während sich die Herrschaften noch die Kragen gerade rückten und die Rockschöße glattstrichen, musste nun Signore Morelli an sich halten, als er hörte, dass der Panther ebenfalls mit von der Partie sein sollte. Allerdings begnügte er sich damit, seinem Feind einen finsteren Blick zuzuwerfen und ihn ansonsten zu ignorieren, sodass ohne weitere Verzögerung das dritte Stadtviertel gezogen werden konnte: der Drache.

Filipo Morelli war beinahe ebenso enttäuscht wie die capitani der Raupe, des Widders, der Muschel, der Schnecke, der Schildkröte, der Giraffe und der Eule, die am diesjährigen Palio nicht teilnehmen durften. Das Ergebnis der Auslosung war weit hinter seinen Hoffnungen zurückgeblieben, denn die Teilnahme des Panthers würde die Siegeschancen des Adlers deutlich verringern und das Rennen darüber hinaus für Reiter und Pferd noch gefährlicher machen. Sollte wie im letzten Jahr Danilo für den Panther antreten, dann würden die knapp hundert Sekunden auf der Piazza del Campo kein Zuckerschlecken für den Jockey des Adlers. Danilo galt als nicht gerade zimperlich beim Einsatz des Ochsenziemers, der als Reitgerte nicht nur benutzt wurde, um das eigene Pferd anzutreiben, sondern auch, um gezielte Schläge gegen die anderen fantini zu platzieren.

Zudem wurde Signore Morelli erst jetzt bewusst, dass mit der Auslosung des Drachen einer der besten Jockeys die Chancen des Adlers zusätzlich verringerte und dass er unter diesen Umständen auch tatsächlich keine Möglichkeit mehr hatte, Angelo für seine Contrade zu verpflichten. Zwar war der Drache immerhin ein Verbündeter des Adlers, aber wäre er nicht gezogen worden, so hätte Morelli seinen zukünftigen Schwiegersohn engagieren können und damit mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hätte einen ernst zu nehmenden Konkurrenten ausgeschaltet, die eigenen Siegeschancen durch das Engagement des zurzeit besten Jockeys erhöht und zugleich wäre er dem Dilemma entkommen, dass nun sozusagen ein zukünftiger Teil seiner eigenen Familie auf der falschen Seite stand.

Ach, war das alles kompliziert!

Angelo war ein echter Ausnahmejockey. Sowohl was seine reiterischen Fähigkeiten anging als auch seine Einstellung zu Loyalität und Ehre. Dass er zudem noch aus der Contrade stammte, für die er nun antrat, erhöhte natürlich seinen Ehrgeiz zu gewinnen. Alle anderen fantini, die am Palio teilnahmen, stammten aus anderen Regionen Italiens, hauptsächlich der Maremma und Sizilien, und verdingten sich nur des Geldes und des Ruhmes wegen beim Palio in Siena. Ein persönliches Interesse am Sieg hatten sie nicht.

Signore Morelli fluchte leise vor sich hin, während er an die Beziehung seiner Tochter zu Angelo dachte. Die Verlobung der beiden war ihm ein Dorn im Auge, und das nicht nur, weil Angelo den Ruf eines Schürzenjägers besaß. Maria dachte wohl, ihr Vater hätte nicht mitbekommen, dass Angelo vor ihr mit der Haushälterin Antonia zusammen gewesen war. Doch er wusste es und er konnte den jungen Mann sogar verstehen, denn Antonia war wirklich ein außergewöhnlich hübsches Mädchen.

Nein, das war es nicht, was ihn störte. Schlimmer war, dass er die beiden mit neunzehn und fünfundzwanzig Jahren für viel zu jung hielt, um in diesem Alter schon Pläne für ein ganzes gemeinsames Leben zu schmieden. Doch am schlimmsten wog, dass Angelo eben kein Adler war, sondern ein Drache. Mit Sorgen dachte Signore Morelli an eine Zukunft, in der er dabei zusehen musste, wie seine Enkelkinder zu kleinen Drachen erzogen wurden: wie sie beim Palio Symbole des Drachen trugen und die falschen Fahnen schwenkten.

Vielleicht war es so gesehen ein Glück, dass sein zukünftiger Schwiegersohn weniger traditionsbewusst war, als er sich das eigentlich gewünscht hätte. Angelo hatte bereits angedeutet, dass ihm nicht allzu viel daran lag, nach der Hochzeit mit Maria im Stadtviertel des Drachen zu leben. Zurzeit lebte er nicht einmal mehr in Siena, sondern in einem kleinen Ort in der Umgebung, der näher an dem Gestüt lag, in dem er als Trainingsjockey beschäftigt war.

Ob Maria nach der Heirat ebenfalls dorthin ziehen würde? Nein, sie musste ja erst ihre Ausbildung zur Krankenschwester in Siena beenden. Und danach wollte sie Medizin studieren und Kinderärztin werden.

Signore Morelli seufzte. Hoffentlich blieb sie bei ihren ehrgeizigen Plänen. Dann lächelte er in sich hinein, als ihn plötzlich eine Woge der Zuneigung für seine Tochter überschwemmte. Es nutzte ja ohnehin nichts, sich über all diese Dinge den Kopf zu zerbrechen. Maria machte sowieso, was sie wollte. Das war schon immer so gewesen. Außerdem wollte er sich auch nicht allzu sehr in ihr Leben einmischen. Zu gut erinnerte er sich daran, wie es bei ihm selbst gewesen war, als er sich in Marias Mutter verliebt hatte, die sechzehn Jahre jünger gewesen war als er selbst. Ihre Eltern waren lange Zeit gegen diese Verbindung gewesen, die die große Liebe – nein, die einzige Liebe seines Lebens gewesen war. Was Elena wohl von den Heiratsplänen ihrer Tochter gehalten hätte? Vermutlich hätte sie Filipo ermahnt, sich da rauszuhalten, weil ihn das nichts anginge. Wenn Maria ihren Angelo liebte, dann sollte sie ihn auch heiraten. Basta!

Trotzdem blieb sein ungutes Gefühl, sowohl was die bevorstehende Hochzeit anging als auch den Palio, der durch die Teilnahme von Panther und Drachen noch brisanter zu werden versprach. Sorgenvoll schüttelte er den Kopf. Es gab noch manches zu erledigen, bevor er sich bequem zurücklehnen konnte, um den Ausgang der Geschichte zu verfolgen.

In Gedanken versunken, bahnte sich der capitano einen Weg durch die Menschenmenge auf dem Campo, die die Ergebnisse der Auslosung zum Teil fröhlich feierte, zum Teil aber auch in handfeste Auseinandersetzungen verstrickt war, die die Polizei vergeblich zu schlichten versuchte.

So war das eben mit dem Palio. Er dauerte das ganze Jahr über. Il Palio si corre tutto l’anno.

Der dunkle Geist des Palio
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