Et Urbis et Senarum Signum et Decus.

Motto der Wölfin (lupa)

 

 

9

 

Sonntag, 12. August, vier Tage vor dem Palio

 

Hier und da konnte Signore Morelli ein verstohlenes Gähnen unter den Männern ringsum beobachten, die in kleinen Gruppen beieinanderstanden und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Auch er selbst fühlte sich an diesem Morgen, der gerade erst angebrochen war, noch nicht ganz wach. Gleichzeitig spürte er das Adrenalin durch seine Adern schießen, wenn er an den Grund für sein frühes Aufstehen und seine Anwesenheit auf dem Campo dachte: Es ging um die bevorstehende prova di notte, die Nachtprobe.

Bis jetzt war es auf der Piazza del Campo noch recht leer. An der Nachtprobe, bei der die zur Begutachtung stehenden Pferde von Reitern auf der Bahn vorgeführt wurden, nahmen in der Regel nur einige interessierte Männer aus den Contraden und natürlich die capitani teil, die die Auswahl treffen mussten. In diesem Jahr galt es, aus sechsundzwanzig Pferden die zehn besten auszusuchen.

Die Atmosphäre war ruhig, die Männer ernsthaft und nicht zu Streitigkeiten aufgelegt. Alle Augen waren auf die Pferde gerichtet, die in kleinen Gruppen zu viert oder fünft gegeneinander antraten.

Mehr oder weniger fachmännisch besprach man die Vorzüge und Schwachstellen der einzelnen Tiere. Noch ging es nicht ums Gewinnen oder Verlieren, sondern einzig und allein darum, zehn gute und einander möglichst ebenbürtige Pferde herauszufiltern. Deshalb fielen die Sprints eher sporadisch aus und der Wettkampf wurde nicht besonders ernsthaft geführt. Mit Kennerblick verfolgten die Männer die Tiere. Wie verhielten sie sich auf der Bahn? Fiel eins durch besondere Schnelligkeit oder Nervosität auf?

Signore Morelli blieb für sich und machte sich Notizen, auf die er morgen früh, wenn es um die endgültige Auswahl der Pferde gehen sollte, zurückgreifen konnte. Er lauschte den Gesprächen der anderen, um eventuell Informationen über die Pferde zu erhalten, die ihm neu waren. Hatte eins der Tiere vielleicht gesundheitliche Probleme, von denen die Konkurrenten wussten, er aber nicht? Jedes Detail, und wirkte es zunächst auch noch so unbedeutend, konnte später von Interesse sein.

Schließlich hatte Signore Morelli die Vor- und Rückseite seines Notizzettels mit teilweise unleserlichen Hieroglyphen vollgeschmiert und seine ganz persönliche Auswahl getroffen. Jetzt wusste er, für welches Pferd er morgen früh, wenn die endgültige Entscheidung anstand, stimmen würde. Und für welches nicht.

Da die Zuordnung der Tiere zu den einzelnen Contraden erst später erfolgte und zudem vom Los abhängig war, auf das die capitani keinen Einfluss nehmen konnten, war es von besonderer Bedeutung, die Chancen auf einen Sieg möglichst ausgewogen zu verteilen.

Natürlich wünschte sich jeder capitano für seine Contrade ein Pferd, das in der Lage war, alle anderen zu dominieren. Und in Signore Morellis Augen (und vermutlich nicht nur in seinen) war Fabioncello genau so ein Pferd. Doch trotz der eindeutigen Qualitäten des Hengstes war es nicht sicher, dass er zu den ausgewählten gehören würde. Überragende Tiere wurden oftmals ebenso aussortiert wie solche, die eindeutige Schwächen zeigten.

Die Stärken, auf die Signore Morelli geachtet und die er sich notiert hatte, bestanden vor allem in Schnelligkeit, Ausdauer, Reaktionsvermögen und Anpassungsfähigkeit an die schwierige Bahn. Denn gerade die rechtwinklige Kurve an der Stirnseite des Platzes neben dem Rathaus, die berühmt-berüchtigte San-Martino-Kurve, erforderte von Pferd und Reiter ein Höchstmaß an Geschicklichkeit. Ein Grund, warum zur Nervosität neigende Pferde selbst dann rigoros aussortiert wurden, wenn sie ansonsten hervorragende Sprinter waren und alle erforderlichen Fähigkeiten mitbrachten. Denn wer die San-Martino-Kurve nicht mit Ruhe und Weitblick anging, dessen Scheitern war vorprogrammiert. Und die Folgen waren oftmals katastrophal.

Signore Morelli vermochte nicht zu sagen, wie viele Pferde bisher an der San-Martino-Kurve schwer verletzt worden waren oder sogar ihr Leben gelassen hatten. Aber es waren gewiss einige. Anderen war die zweite gefährliche Kurve der Rennstrecke, dem casato, zum Verhängnis geworden. Und auch wenn er ein Verfechter des Palio war, so musste er seinem Neffen Alessandro doch insoweit recht geben, als dass das Risiko für die teilnehmenden Pferde und ihre Jockeys so gering wie möglich gehalten werden musste. Schließlich wollte der Adler nach zwanzig langen Jahren ohne Sieg endlich wieder den cencio für sich gewinnen! Und das ging nur, wenn Ross und Reiter San Martino und casato unbeschadet überwanden.

Der capitano faltete seinen Zettel sorgfältig zusammen, steckte ihn in die Hosentasche und machte sich auf den Heimweg. Nun wollte er sich erst einmal einen großen Espresso und ein gemütliches Frühstück gönnen! Und vielleicht hatte er ja Glück und Maria leistete ihm dabei Gesellschaft. Immerhin war heute Sonntag!

 

Maria lehnte den Kopf an Angelos Schulter und schloss die Augen. Jetzt saßen sie schon wie ein altes Ehepaar auf dieser Gartenbank und genossen die Abendsonne. Bei diesem Gedanken musste Maria lächeln.

»Morgen Abend um diese Zeit findet bereits das erste Proberennen statt«, unterbrach Angelo die einvernehmliche Stille.

Maria rückte ein wenig von ihm ab und schaute ihm ins Gesicht. Der bläuliche Schatten unter seinem Auge hatte sich zu einem blühenden Veilchen ausgewachsen und das Oberlid war immer noch leicht geschwollen. Dafür war die Schwellung der Lippe bereits wieder etwas zurückgegangen. Sacht strich sie mit einem Finger darüber.

»Tut es noch weh?«, wollte sie wissen.

Angelo grinste. »Wenn du nicht draufdrückst, nicht.«

»Entschuldige«, sagte Maria und zog erschrocken ihre Hand zurück. »Ich mache mir Sorgen, dass dein blaues Auge dich während der Rennen beeinträchtigen könnte.«

Angelo zuckte mit den Schultern. »Bis Donnerstag, bis zum Palio, wird die Schwellung hoffentlich abgeklungen sein.«

»Und bei den Proberennen?«

»Da geht es ja nicht ums Ganze. Ich werde halt noch ein bisschen vorsichtiger sein.«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich verstehe sowieso nicht, warum du bei den Proberennen unbedingt selbst reiten musst. Die anderen fantini machen das doch auch nicht!«

»Oh doch«, widersprach Angelo. »Die meisten reiten die Proberennen selbst. Es ist eine gute Gelegenheit, sein Pferd kennenzulernen. Wenn du weißt, wie es auf Hilfen reagiert und wie es mit der Bahn zurechtkommt, erhöht das die Sicherheit während des eigentlichen Rennens.«

»Ich finde trotzdem, dass es ein unnötiges Risiko ist – zumal du im Moment nicht hundertprozentig fit bist.«

Angelo lächelte und küsste sie zärtlich. »Du bist süß, wenn du dir Sorgen um mich machst. Aber das brauchst du wirklich nicht. Alle werden vorsichtig sein und sich und ihr Pferd schonen. Niemand will eine Verletzung riskieren.«

Maria erinnerte sich an das Gespräch, das sie heute Morgen während des Frühstücks mit ihrem Vater geführt hatte, nachdem der capitano von der Nachtprobe zurückgekehrt war. Er hatte sich sehr zufrieden über die Pferde geäußert, aber auch gesagt, dass diesmal sehr unterschiedlich leistungsstarke Pferde zur Auswahl stünden. Wenn Angelo nun ein schlechtes Pferd bekam, erhöhte das nicht nur die Siegeschancen für den Adler, es würde vielleicht sogar zu Angelos Sicherheit beitragen, da er erstens weniger stark von den anderen attackiert wurde und zweitens eventuell schnell den Anschluss an die Gruppe verlor, die sich weiter vorne ein heißes Gefecht liefern würde.

Maria hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie sich auch schon dafür schämte. Ihr Verlobter war mit Leib und Seele Jockey. Er riskierte Leben und Gesundheit für einen Sieg. Und sie, als seine zukünftige Ehefrau, musste ihn dabei unterstützen, wo sie nur konnte. Ob es ihr nun passte oder nicht.

»Weißt du was?«, fuhr Angelo fort. »Komm doch einfach mit und pass auf mich auf!«

Maria lächelte. »Natürlich werde ich mir die Proberennen anschauen«, erwiderte sie.

»Und wen feuerst du an? Fernando oder mich?«

Seufzend wandte Maria ihr Gesicht ab. Schon wieder so eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gab. Ihr Blick fiel auf den majestätischen Baum, dessen gewaltiger Wipfel ihnen Schatten bot, und plötzlich runzelte sie die Stirn. »Was ist das denn?«, sprach sie mehr zu sich selbst als zu Angelo, der auf der Bank sitzen blieb und ihr neugierig hinterhersah, während sie mit langsamen Schritten auf den uralten Baum zuging. Vor dem Stamm hockte sie sich hin und hob eins der zahlreichen Blätter auf, die braun und verschrumpelt auf dem Boden lagen. Mit dem Blatt in der Hand drehte sie sich zu ihrem Verlobten um.

»Was ist denn?«, wollte Angelo wissen. Er konnte zwar an Marias Gesichtsausdruck sehen, dass sie sich über irgendetwas Sorgen machte – er hatte aber keine Ahnung, worüber.

»Findest du das nicht merkwürdig?«, fragte Maria und hielt ihm das Blatt entgegen. »Es ist Mitte August und der Baum wirft all seine Blätter ab!«

Angelo zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe leider nicht die geringste Ahnung, was für so einen Baum normal ist und was nicht«, antwortete er.

Maria betrachtete nachdenklich das Blatt in ihrer Hand, drehte und wendete es von einer Seite zur anderen, als erwartete sie, dass es ihr Auskunft darüber geben könnte, warum es abgefallen war.

»Warum schaust du denn so sorgenvoll drein?«, erkundigte sich Angelo. Er stand auf und stellte sich neben Maria, den Blick nun ebenfalls auf das Blatt gerichtet. »Vielleicht fehlt dem Baum einfach irgendein Mineral. Zu wenig Kalk … oder zu viel … Was weiß ich. Ich denke, du solltest mal euren Gärtner …«

Als Maria den Kopf hob und ihn anblickte, verstummte Angelo schlagartig. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Sie sah aus, als wäre sie soeben dem Leibhaftigen persönlich begegnet.

»Mein Gott, Maria, was ist denn los?«

»Ja, weißt du denn nicht, was für ein Baum das ist?«

»Nein, ich habe wirklich keine Ahnung von Bäumen. Vielleicht ist es eine Kastanie? Oder eine …«

Maria schüttelte den Kopf. »Das meine ich doch nicht«, sagte sie entschieden. »Das ist der Baum, an dem sich Eva Maria erhängt hat!«

Angelos Unterkiefer klappte herunter und er blickte Maria schweigend an.

»Verstehst du jetzt endlich?«, fragte Maria weiter. Ihre Stimme klang hysterisch. »Der Baum verliert seine Blätter. Und es ist Mitte August!«

»Wann hat sich Eva Maria noch einmal daran erhängt?«

»Am 28. August 1880. Zwölf Tage nach dem Palio. An dem Tag, der eigentlich ihr Hochzeitstag hatte werden sollen!«

»Also in genau sechzehn Tagen.« Angelo schwieg nachdenklich, während er sich an Marias Worte zu erinnern versuchte. »Und nach Eva Marias Selbstmord verlor der Baum an jedem Todestag all seine Blätter.«

»So steht es zumindest in der Chronik meiner Familie.«

»Bis zum Tod von Eva Marias Vater. Erst danach fand der Spuk ein Ende.«

»Genau. Aber warum fängt der Spuk ausgerechnet jetzt wieder an?«

Sie sahen einander schweigend in die Augen. Und keiner von beiden wollte aussprechen, was er dachte.

Der dunkle Geist des Palio
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