Ich steche nur zur Verteidigung.
Motto des Stachelschweins (istrice)
7
Montag, 9. August 1880, eine Woche vor dem Palio
Lachen hallte über den muschelförmigen Platz, auf dem sich einige hundert Menschen in der Abenddämmerung versammelt hatten. Pferdekutschen standen über die Piazza del Campo verteilt, auf deren Ladeflächen sich Berge von feinstem ockerfarbenem Sand türmten. Männer hoben den Sand mit Schaufeln herunter und verteilten ihn auf dem Boden, während die Frauen ihn mit gerafften Röcken feststampften.
Diese Verrichtung war anstrengend. Und so liefen zwischen den Arbeitenden ältere Frauen umher und versorgten die Durstigen mit Getränken.
Mädchen kicherten, wenn junge Männer ihnen unanständige begehrliche Blicke zuwarfen. Die eine oder andere Liebe nahm hier ihren Anfang. Unter den strengen Augen der Mütter und Väter.
Eva Maria half natürlich auch mit, den Bodenbelag für das Rennen vorzubereiten. Doch immer wieder verharrte sie, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sie war kurzatmig und das Arbeiten fiel ihr schwerer als sonst. Das Schlimmste war jedoch, dass sie sich nichts anmerken lassen durfte.
Immer wieder glitt ihr Blick zu ihrem Verlobten Lorenzo hinüber, der schwungvoll eine Schaufel voll Sand nach der anderen vom Pferdefuhrwerk hob. Doch Lorenzo erwiderte ihren Blick nicht. Er war zu sehr in seine Arbeit vertieft, hob nur hin und wieder den Kopf und sah zu einer Gruppe junger Frauen hinüber, die ein Stück von Eva Maria entfernt ihrer Arbeit nachgingen.
Empört stellte Eva Maria fest, dass eine der Frauen Lorenzo schamlos schöne Augen machte. Und dass Lorenzo nicht einmal den Anstand besaß, wegzuschauen, als die dralle junge Frau mit den kupferroten Haaren ihn verheißungsvoll anlächelte.
Entschlossen stolzierte Eva Maria zu Lorenzo hinüber, stellte sich dicht neben ihn und legte vertraulich ihre rechte Hand, an der ihr neuer Verlobungsring glitzerte, auf seinen Unterarm. Dabei warf sie der Konkurrentin einen warnenden Blick zu. Eilig wandte die Fremde sich ab.
Missmutig runzelte Lorenzo die Stirn. »Du siehst blass aus«, stellte er dann jedoch anteilnehmend fest. »Geht es dir nicht gut?«
»Es geht schon«, antwortete Eva Maria und lächelte. »Es ist nur ein bisschen anstrengend für mich.«
Lorenzos Blick wanderte nach unten auf Eva Marias Bauch. »Gib auf dich acht«, sagte er, hob dabei aber bereits wieder die Schaufel, um die nächste Ladung Sand von der Kutsche herunterzuheben.
Eva Maria sah ihm noch eine Weile zu, doch als sie merkte, dass ihr Verlobter sie nicht länger beachtete, kehrte sie an ihre alte Position zurück. Kaum hatte sie Lorenzo den Rücken zugekehrt, schnalzte der junge Mann mit der Zunge, ließ das Kutschpferd seine schwere Last ein Stück weiterziehen, näher an die rothaarige Frau heran, und fuhr dort mit seiner Arbeit fort.
Aus der Ferne beobachtete Eva Maria, wie die junge Frau kurz darauf erneut begann, Lorenzo zuzulächeln. Ob ihr Verlobter das Lächeln erwiderte, konnte sie jedoch nicht sehen, denn er arbeitete mit dem Rücken zu ihr. Allerdings merkte sie durchaus, dass er auffallend häufig in seiner Bewegung verharrte.
Sie versuchte sich einzureden, dass ihr das nichts ausmachte, aber ganz gelang ihr das nicht. Stechende Eifersucht nagte an ihr. Schließlich erspähte sie ein gutes Stück von ihr entfernt ihren Vater, Signore Morelli, der augenscheinlich in ein sehr intensives Gespräch mit einem Mann verwickelt war, den Eva Maria nicht kannte. Sie sah ihren Vater wild gestikulieren und den Fremden zustimmend nicken.
Während sie die beiden Männer beobachtete, überlegte sie, ob sie es Lorenzo nicht mit gleicher Münze heimzahlen konnte, indem sie ihn eifersüchtig machte. Der Fremde, mit dem ihr Vater sprach, war ein junger und durchaus attraktiver Mann. Vielleicht war es für Lorenzo ganz lehrreich, wenn er merkte, dass sich noch jemand anderes für seine Verlobte interessierte. Er schien sich seiner Sache viel zu sicher zu sein – und Eva Maria gestand sich nur ungern ein, dass er dazu auch allen Grund hatte. Sie war auf ihn angewiesen. Aber er nicht auf sie!
Sie zupfte sich eine Haarsträhne, die sich bei der anstrengenden Arbeit aus ihrer Hochsteckfrisur gelockert hatte, aus dem Gesicht, strich ihr Kleid glatt und machte sich auf den Weg zu ihrem Vater und dem fremden Mann.
Zwar konnte sie es nicht wagen, sich einfach ungebeten zu den beiden Männern zu stellen, sie hoffte aber, dass ihr Vater sie hinzubitten und vorstellen würde, wenn er sie sah.
»… keine Missverständnisse … der fantino des Panthers …«
Satzfetzen drangen an ihr Ohr und ließen sie ihre Schritte verlangsamen.
»… verstanden, Signore Morelli … Lorenzo …«
»… niemand etwas merken …«
»… können sich auf mich verlassen …«
»… Schaden nicht sein.«
»Werden uns … einig.«
»… spennachiera runterschlagen …«
Der Fremde nickte.
»… nicht vor … nerbo zurückschrecken …«
»Dafür ist er ja da!« Der Fremde grinste gehässig und sah in diesem Augenblick gar nicht mehr so attraktiv aus.
Eva Maria war mittlerweile so nah herangekommen, dass es peinlich zu werden drohte, wenn ihr Vater sie weiter ignorierte, und einen Augenblick lang sah es tatsächlich so aus, als habe er genau dies vor. Doch dann wandte sich der Fremde zu ihr um, und ihr Vater räusperte sich.
»Ah, Eva, meine Liebe, darf ich dir Signore Bertolli vorstellen? Er wird den Palio für die contrada des Einhorns reiten. Signore Bertolli, das ist meine Tochter Eva Maria.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Eva Maria höflich und streckte dem fremden Mann ihre Hand entgegen, der sie ebenso formvollendet ergriff und eine leichte Verbeugung andeutete.
»Die Freude ist ganz meinerseits, Signorina.«
»Sie reiten also für leocorno?«
»Si, Signorina, es ist mir eine Ehre.«
»Mein Verlobter, Lorenzo del Pianta ist der fantino della pantera. Dann sind Sie und er ja Verbündete im Kampf um den Palio.«
Signore Bertolli warf Eva Marias Vater einen verunsicherten Blick zu.
»Gewiss, meine Liebe«, antwortete ihr Vater. »Sie werden sich während des Rennens gegenseitig unterstützen, nicht wahr, Signore Bertolli?« Der Fremde nickte hastig. »Genau darüber haben wir nämlich gerade gesprochen, als du kamst.«
»Ach, wie reizend«, sagte Eva Maria, »es kam mir auch schon so vor, als hätte ich Lorenzos Namen gehört.« Sie warf ihrem Vater einen zornigen Blick zu.
»Nun, Signore Bertolli«, wandte sich Eva Marias Vater wieder an den fantino. »Ich denke, wir haben alles besprochen.«
»Gewiss, Signore Morelli.«
»Dann werde ich jetzt weiter beim Verteilen des Sandes helfen«, verkündete Eva Marias Vater. »Der capitano darf sich auch vor dieser Arbeit nicht drücken. Sie entschuldigen mich?« Er umfasste den Unterarm seiner Tochter mit einem so festen Griff, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht aufzuschreien, und dabei lächelte er sie scheinbar freundlich an. »Und du begleitest mich gewiss, mein liebes Kind?« Es klang wie eine Frage, was es – das wusste Eva Maria genau – keineswegs war.
»Gerne, Vater«, antwortete sie mit säuerlichem Lächeln und nickte Signore Bertolli zum Abschied höflich zu.
Kaum waren sie aber außer Hörweite, entwand sie sich mit einem heftigen Ruck aus der Umklammerung und zischte ihrem Vater zu: »›Gegenseitig unterstützen‹, ja? Mit dem nerbo den spennachiera runterschlagen oder wie genau habt Ihr Euch diese Unterstützung vorgestellt?« Sie wusste natürlich, dass es ein Fehler war, ihren Vater in diesem Ton zur Rede zu stellen. Aber ihre Wut und – ja, auch ihre Angst – waren so groß, dass sie nicht anders konnte.
Das letzte Wort war noch nicht ganz verklungen, da spürte sie bereits den brennenden Schmerz auf ihrer linken Wange. Ihr Vater hatte sie auf offener Straße geohrfeigt! Gedemütigt und verletzt schossen Eva Maria die Tränen in die Augen, doch ihr Vater kannte kein Erbarmen: »Was habe ich nur verbrochen, dass ich mit einem so eigensinnigen und widerspenstigen Mädchen bestraft werde«, schimpfte er. »Es wird Zeit, dass du lernst, dich dem Manne unterzuordnen, und aufhörst, diese hetzerischen Schriften von dieser … dieser …«
»Anna Maria Mozzoni«, sagte Eva Maria leise.
»Wie?«
»Der Name der Frau ist Anna Maria Mozzoni.«
»Es ist mir egal, wie sie heißt und du hörst ein für alle Mal auf, dich in Dinge einzumischen, von denen du nichts verstehst, als Frau nichts verstehen kannst, und die dich auch nichts angehen!«
Eva Maria senkte den Blick und biss sich auf die Lippen. Nein, ein Frauenrechtler war ihr Vater nicht. Und wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass ihr Verlobter Lorenzo bei allen Diskrepanzen, die zwischen ihm und ihrem Vater herrschten, mit seinem zukünftigen Schwiegervater zumindest in diesem Punkt wohl einer Meinung war. Auch wenn sich Lorenzo am Beginn ihrer Beziehung anders geäußert hatte. Mit ein wenig Wehmut dachte sie an ihre Gespräche zurück, die sie mit Lorenzo über die Rolle der Frau in der Gesellschaft geführt hatte. Im Nachhinein musste sie einsehen, dass die von ihm geäußerte Zustimmung nur einem Zweck gedient hatte: ihr so gut zu gefallen, dass sie seinem Drängen nach Vereinigung nachgab.
Man sagt, der Mann sei stark, die Frau schwach, aber wir kennen äußerst schwache Männer und sehr starke Frauen; mehr als das, der Mann wird ja zu körperlicher Aktivität erzogen, die Frau zu körperlicher Untätigkeit. Man sagt, der Mann überrage die Frau an Intelligenz, die Frau den Mann an Gefühl. Aber es gibt doch zahlreiche Männer, die vielen Frauen an Gefühlskraft überlegen sind, und viele Frauen, die Männer in der Intelligenz überragen. Die Erziehung, die alles daransetzt, die männliche Intelligenz zu favorisieren und zu fördern, tut ihr Bestes, die Intelligenz der Frauen hintenanzustellen und verkümmern zu lassen.
Wie recht Anna Maria Mozzoni doch hatte.
Eva Maria hob den Blick wieder und sah ihrem Vater direkt ins Gesicht: »Warum tut Ihr das?«, fragte sie.
Ihr Vater sah sie verständnislos an.
»Warum zerstört Ihr mein Glück?«
»Dein Glück, mein Kind«, antwortete ihr Vater und seine Stimme war jetzt wieder ruhig. Gefährlich ruhig. »Dein Glück hast du in einem unachtsamen Moment ganz allein zerstört.«
Instinktiv legte Eva Maria eine Hand schützend auf ihren Bauch. Dann drehte sie sich um und rannte davon. Vorbei an Hunderten von Menschen, die fröhlich lachend auf der Piazza del Campo gemeinsam arbeiteten, bevor sie sich in wenigen Tagen an der gleichen Stelle gegenseitig bekämpfen würden. Vorbei an Lorenzo, der, auf seine Schaufel gelehnt, mit der jungen rothaarigen Frau scherzte, die bei seinen Worten aufreizend den Kopf nach hinten warf und lachte.
Doch Eva Maria bekam nichts davon mit. In ihren Augen schimmerten Tränen.