Über die Kraft hinaus die Macht.

Motto des Turms (torre)

 

 

16

 

Mittwoch, 15. August, ein Tag vor dem Palio

 

Was hatte Antonia eigentlich so spät noch im Palazzo Morelli zu suchen gehabt?

Die ganze Nacht über hatte Maria diese eine Frage in ihrem Kopf gedreht und gewendet. Konnte es sein, dass Antonia auf Angelo gewartet hatte? Aber woher sollte sie wissen, dass er kommen würde? Oder hatten ihre Pflichten als Haushälterin sie tatsächlich so lange hier aufgehalten?

Mit ein paar Stunden Abstand war Maria sich nicht mehr sicher, ob sie sich richtig verhalten hatte. Gewiss, Angelo hatte geflirtet, aber normalerweise hätte sie das nicht so aus der Ruhe gebracht. Sie wusste doch, dass er sie liebte und sie sich auf seine Treue hundertprozentig verlassen konnte. Nein, es war wohl dieser ganze Spuk, der an ihren Nerven zerrte und sie Gespenster sehen ließ, wo keine waren.

Hätte Angelo jetzt vor ihr gestanden, sie hätte sich sofort bei ihm entschuldigt. Sie hatte ihn ja derartig angefaucht, dass ihm gar keine andere Wahl geblieben war, als zurückzufauchen. Maria wusste, dass sie die Sache unter anderen Umständen mit einer spitzen Bemerkung auf sich hätte beruhen lassen. Doch jetzt war es dafür zu spät. Und solange Angelos Handy kaputt war, konnte sie ihm noch nicht einmal eine SMS schicken, um ihm zu sagen, wie leid es ihr tat.

Leise fluchend schlug sie ihre Bettdecke zurück und stand auf, um sich anzuziehen.

 

Als Maria kurze Zeit später die Küche im Erdgeschoss des Hauses betrat, saß ihr Vater, wie jeden Morgen, bereits am großen Holztisch in der Mitte des Raumes, den Kopf hinter der Tageszeitung La Repubblica versteckt und eine Tasse dampfenden schwarzen Espresso vor sich.

»Buen giorno, Papa«, begrüßte Maria ihn und küsste ihn auf die Stirn, während sie sich ebenfalls eine Tasse Kaffee.

Ihr Vater grunzte nur zur Antwort.

Maria runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?«, fragte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

Mit einem Seufzer ließ ihr Vater die Zeitung sinken. »Nein, leider nicht. Leider ist alles ganz und gar in Unordnung.«

Maria horchte auf. Die Stimme ihres Vaters versetzte sie in Alarmbereitschaft. »Was ist denn los?«

»Mich hat das Telefon heute in aller Frühe aus dem Schlaf gerissen«, antwortete Filippo orakelhaft.

Maria nippte an ihrem heißen Kaffee und übte sich in Geduld.

»Heute Nacht ist in die sala delle vittorie eingebrochen worden.«

Maria zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch, aber ihr Vater war verstummt. Ein Einbruch in das Museum der Contrade, in dem unter anderem die gewonnenen palii, die Seidenbanner, in der Halle der Siege aufbewahrt und ausgestellt wurden, war sicherlich ungewöhnlich. Aber so ganz verstand Maria nicht, warum diese Neuigkeit ihren Vater derart aus der Fassung brachte. Als er immer noch schwieg, forderte sie ihn schließlich zum Weitersprechen auf: »Und? Was genau ist passiert?«

Signore Morelli ließ die geballte Faust auf den Tisch niederfahren. »Irgend so ein Idiot hat einen der Palii besudelt und dumme Sprüche auf die Wände des Museums geschmiert.«

Maria verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. »Aber …«

»Genaueres weiß ich auch noch nicht«, unterbrach Filippo seine Tochter. »Ich wollte gleich mal rüberfahren und es mir anschauen!« Erneut schlug er auf den Tisch. Diesmal mit der flachen Hand. »Als hätte ich jetzt, sechsunddreißig Stunden vor dem Palio, nichts anderes zu tun!«

»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Maria, »würde ich dich gern begleiten.« Sie hatte ein ungutes Gefühl bei dieser Sache und vielleicht war es ganz interessant, sich mit eigenen Augen ein Bild zu machen.

Signore Morelli zuckte die Schultern. »Meinetwegen«, sagte er, »wenn du dir diesen schönen Tag unbedingt versauen möchtest, mir soll’s recht sein.«

 

Maria hielt sich die Hand vor den Mund, während sie stumm die Bescherung betrachtete, die sich ihren Augen offenbarte: Blut, Blut und nochmals Blut. Jedenfalls sah es so aus wie Blut, was da die Wände, den Boden und das Banner rot färbte.

Die roten Lettern an der Wand, mit einem dicken Pinsel aufgetragen, erinnerten Maria auf unangenehme Weise an ein erst kurze Zeit zurückliegendes Ereignis in ihrem eigenen Zimmer. Mit dem Unterschied, dass sich hier tatsächlich jemand die Mühe gemacht hatte, etwas literarischen Anspruch in seine plakative Aussage zu bringen:

 

ECCO LO SPIRITO OSCURO DEL PALIO:

AMAZZA E NON I PORTA ALTRO

CHE SANGUE E DISTRUZIONE!

 

SEHT DEN DUNKLEN GEIST DES PALIO:

ER TÖTET UND BRINGT NICHTS ALS BLUT UND VERDERBEN!

 

Als hinter ihr plötzlich ein Licht aufflammte, drehte sie sich erschrocken um. Aber es war nur ein Reporter der Tageszeitung La Nazione, wie ein Aufkleber auf seiner schwarzen Umhängetasche verriet, der gerade ein Foto vom Tatort geschossen hatte.

»Buon giorno, Signorina«, grüßte der junge Mann und zückte sofort einen Bleistift und ein kleines Notizbuch. »Können Sie mir vielleicht etwas hierüber …« – er machte eine ausladende Geste mit dem rechten Arm, die den ganzen Raum umfasste – »… sagen?«

Bevor Maria antworten konnte, tauchte ihr Vater an ihrer Seite auf, legte einen Arm um ihre Schulter und wandte sich an den Journalisten: »Ich kann gern versuchen, Ihre Fragen zu beantworten, solange diese nicht die Ermittlungsarbeit der Polizei betreffen.«

»Danke, Signore Morelli, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich werde auch versuchen, Sie nicht allzu lange aufzuhalten. Sie sind der capitano dell’ aquila, nicht wahr?«

Signore Morelli nickte.

»Und darf ich Ihre Aussagen in der Zeitung zitieren?«

»Sie dürfen gern schreiben, dass Sie Ihre Informationen von mir haben. Ja.«

»Prima, ich danke Ihnen. Also, was ist Ihrer Meinung nach hier geschehen?«

»Ich glaube, dass wir es hier mit einer besonders abscheulichen Aktion der Tierschützer zu tun haben, die seit Jahren versuchen, den Palio auf jede erdenkliche Weise zu boykottieren. Dabei scheuen sie anscheinend nicht einmal davor zurück, ein derart kostbares Seidenbanner wie dieses aus dem Jahr 1880 unwiderbringlich zu zerstören!«

»Es handelt sich also um den Palio von 1880«, wiederholte der Reporter und machte sich Notizen. »Angenommen, Ihre Vermutung ist richtig und es waren die Tierschützer: Glauben Sie, es handelt sich um einen Zufall oder könnte Ihrer Meinung nach Berechnung dahinterstecken, dass ausgerechnet ein so alter und damit kostbarer Palio beschädigt wurde?«

Signore Morelli lachte laut auf. »Mehr als das«, antwortete er. »Sehen Sie, die contrada dell’ aquila hat seit Anfang des 17. Jahrhunderts insgesamt achtundzwanzig Palio-Siege errungen. Hier hängen einige Banner, die noch deutlich älter sind als das jetzt zerstörte. Dort drüben zum Beispiel …« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf eines der bunten Seidentücher, die an langen Stangen ausgestellt waren. »… hängt das Banner aus dem Jahr 1753. Der damalige fantino war Luchino, der capitano Michele Rustichini. Wäre es den Tierschützern darum gegangen, einen aufgrund seines Alters möglichst kostbaren Palio zu beschädigen, dann hätten sie auch diesen wählen können. Haben sie aber nicht.«

»Und was könnte Ihrer Meinung nach der Grund dafür sein?«

»Mit diesem cencio, der jetzt auf so respektlose Weise beschmutzt wurde, hat es eine besondere Bewandtnis. Es handelt sich um das Banner, das den Grund für die Feindschaft zwischen Panther und Adler darstellt. Vor dem Palio von 1880 waren Panther und Adler Verbündete. Damals war mein Vorfahr Andrea Morelli der capitano dell’ aquila, und seine Tochter Eva Maria war mit dem fantino della pantera verlobt.« Er warf Maria einen besorgten Blick zu, bevor er weitersprach: »Leider war Andrea Morelli der Sieg beim Palio mehr wert als das Glück seiner Tochter. Bis heute weiß man nicht, was damals tatsächlich geschehen ist, doch glaubte man zu jener Zeit offenbar, Morelli habe den Sieg seiner Contrade durch unlautere Methoden erzwungen. Der Verlobte Eva Marias nahm seinem zukünftigen Schwiegervater dessen Verhalten so übel, dass er die Verlobung aufkündigte und einen Tag nach dem Palio spurlos verschwand. Nur wenige Tage später nahm sich Eva Maria, die Tochter des capitano, das Leben.«

Der junge Mann starrte Signore Morelli mit offenem Mund an. »Aber … das würde ja bedeuten …«

»Richtig, junger Mann, das bedeutet, dass hier jemand ganz genau wusste, welches Banner er aussuchen musste, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. ›Seht den dunklen Geist des Palio: Er tötet und bringt nichts als Blut und Verderben!‹ Diese Aussage bezieht sich auf das, was damals geschah. Es muss jemand geschrieben haben, der sich mit der Geschichte der Familie Morelli bestens auskennt.«

Maria sah ihren Vater aufmerksam von der Seite an. Sie konnte in seinem Gesicht lesen, was er dachte. An wen er dachte. Und beinahe hoffte sie sogar, dass er mit seiner Vermutung recht hatte. Denn wenn nicht, wer war dann für all das verantwortlich? Und hatte es dann wirklich nur mit den Vorkommnissen des Jahres 1880 zu tun? Oder bezog es sich vielleicht auch auf die Gegenwart?

Und auf das, was noch geschehen würde …

 

Marias nervöse Stimmung hielt sich bis zum Abend. Sie wurde das Gefühl, alles, was um sie herum geschah, habe mit ihr und Angelo zu tun, einfach nicht los.

Sie hatte ihren Vater gefragt, ob er wirklich glaube, Alessandro wäre für den Einbruch und die Sachbeschädigung im Museum des Adlers, nur zweihundert Meter von der Piazza del Campo entfernt, verantwortlich. Und ob er beabsichtige, seinen Verdacht der Polizei mitzuteilen.

Signore Morelli hatte nur gestöhnt und den Kopf geschüttelt. »Ich denke nicht«, antwortete er schließlich. »Vorerst hoffe ich, die polizia macht ihren Job so gut, dass ich mich nicht dazu gezwungen sehe, ein Mitglied meiner Familie zu denunzieren.« Er legte eine kurze Pause ein und presste dann zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor: »Auch wenn dieser Kindskopf es wahrhaftig verdient hätte. Vielleicht käme er dann endlich mal zur Vernunft und würde was Anständiges aus seinem Leben machen!«

Obwohl Maria wusste, dass Angelos Handy kaputt war, schickte sie ihm etwa stündlich eine SMS – mal mit einem kurzen Bericht über die Geschehnisse im Museum und der Vermutung ihres Vaters, ihr Cousin habe damit zu tun; mal mit einer Entschuldigung für ihr eigenes Verhalten am gestrigen Abend; mal mit einer Liebeserklärung; mal mit der dringenden Bitte, sich bei ihr zu melden … Schließlich begann sie sich zu fragen, ob sie womöglich sogar froh über das defekte Handy war, weil sie auf diese Weise die Möglichkeit hatte, regelmäßig Dampf abzulassen.

Als sie merkte, dass sie in Versuchung geriet, Angelo eine SMS mit einer Frage zu ihrer Kleiderwahl für das Festbankett am Abend zu schicken, beschloss sie, dass endlich Schluss sein musste. Schließlich war die Mailbox ihres Verlobten kein Mädchentagebuch. Aber war Angelo überhaupt noch ihr Verlobter? Vielleicht hatte er sich schon längst dafür entschieden, noch eine Weile Junggeselle zu bleiben und nach Herzenslust mit wohlgeformten Blondinen zu flirten, ohne jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Sollte sie Angelo per SMS einfach danach fragen?

»Jetzt reicht es aber, Maria!«, schalt sie sich selbst und entschied sich für das knielange, schlichte schwarze Sommerkleid mit dem tiefen Dekolleté und den kleinen gelben Blumen am Saum. Das würde hervorragend zu ihrem fazzoletto mit dem Wappen des Adlers auf gelbem Grund passen, das zur Pflichtgarderobe für diesen Abend gehörte.

Trotz allem freute sie sich auf das Fest, auf dem sie nach langer Zeit auch ihre Freundin Claudia wiedersehen würde. Zwar hatten sie heute endlich miteinander telefoniert, um sich zu verabreden, aber sie hatte Claudia immer noch nichts von all dem erzählt, was sie zurzeit beschäftigte und bedrückte. Gewiss ergab sich am Abend eine Gelegenheit, darüber zu reden.

 

Claudia war noch genau so schön, wie Maria sie in Erinnerung hatte. Trotz ihrer Größe von fast einem Meter achtzig trug sie selbstbewusst Schuhe mit hohen Absätzen und Maria fühlte sich neben ihrer Freundin wie ein hässlicher Gartenzwerg. Ihr langes kupferrotes Haar floss in sanften Wellen über die Schultern und umrahmte das fein geschnittene Gesicht mit den grünen Katzenaugen, der zierlichen kleinen Nase, den vollen roten Lippen und den hohen Wangenknochen. Jeder, der sie sah, hielt sie für ein Topmodel. Dabei war Claudia zutiefst bodenständig und nahm ihre Schönheit als etwas Selbstverständliches hin. Eine Charaktereigenschaft, die Maria besonders an ihr gefiel. Vielleicht auch deshalb, weil sie selbst kein so entspanntes Verhältnis zu ihrem Äußeren hatte.

Als Claudia jetzt mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen durch die Reihen festlich geschmückter Tische auf Maria zukam, wandten sich alle Köpfe nach ihrer auffallenden Erscheinung um und die Gesänge verstummten für einen Augenblick, nur um in der nächsten Sekunde mit noch mehr Inbrunst fortgeführt zu werden.

Hunderte, vielleicht sogar mehr als tausend Menschen saßen nach der prova generale, der Generalprobe, unter freiem Himmel an langen Tischen. Die Gassen und Plätze waren festlich erleuchtet und erstrahlten in feierlichem Licht.

Und immer noch mehr Menschen strömten nun von der Piazza del Campo herbei, nachdem sie den berittenen carabiniere in ihren Kostümen zugeschaut hatten, die den Platz zweimal umrundeten und dabei allerlei Figuren vollführten, bevor sie mit gezogenem Schwert und in gestrecktem Galopp die Bahn unter Böllerschüssen verließen und den Platz freimachten für das nächste Proberennen der fantini und ihrer Pferde.

Immer und immer wieder stimmten die Feiernden an den langen Tischen die Hymne des Adlers an, hoben ihre Gläser und prosteten einander zu. Einem ungeschriebenen Gesetz gehorchend, saßen die jungen Mädchen an einem Tisch und die jungen Männer an einem anderen, genauso wie die alten Frauen und die alten Männer.

Maria und Claudia suchten sich zwei freie Plätze an dem langen Tisch der unverheirateten jungen Frauen, hier und da begrüßt von alten Klassenkameradinnen, Nachbarn und Freunden aus Kindestagen.

Leider gestaltete sich die Unterhaltung nicht so einfach, wie Maria gehofft hatte. Um sich zu verständigen, musste man brüllen. Dann aber lief man Gefahr, nicht nur von der Person verstanden zu werden, von der man verstanden werden wollte, sondern ebenso vom Rest der Einwohner des Stadtviertels. Das war unproblematisch, solange man sich nur über die letzte Shoppingtour austauschen wollte – und unmöglich, wenn es bei dem Gespräch um geisterhafte Erscheinungen und Liebeskummer ging. Deshalb ergab sich Maria vorläufig in ihr Schicksal und ihre Liebe zu aquila und sang aus voller Brust mit:

 

»Der Sieg des Adlers ist sicher,

weil er Flügel hat …

Unser Vogel ist der größte in der Welt.

Keiner kann sich mit ihm messen.

Er kämpft mit seinem Schnabel

und zwingt seine Gegner in den Staub.

Der Himmel über Aquila ist gelb und schwarz.«

 

Dabei stellte sie sich vor, wie Angelo jetzt in der Contrade des Drachen am Festbankett teilnahm. Er würde am Ehrentisch neben dem capitano sitzen. So wie Fernando, der Jockey des Adlers, jetzt ebenfalls neben Signore Morelli saß.

Marias Blick ruhte für einen Moment auf dem Gesicht ihres Vaters. Er sah angespannt und nervös aus. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass es morgen für ihn um alles oder nichts ging. Würde der Adler nach zwanzig langen Jahren ohne Sieg die Piazza del Campo endlich wieder einmal als Gewinner verlassen?

Maria sehnte sich nach Angelo. Nach seiner Berührung, nach seinem Geruch, nach seinen Liebesschwüren … Und die Gewissheit, dass sie sich noch viele, viele Stunden würde gedulden müssen, bis sie ihren Verlobten wiedersah, ihn in die Arme nehmen und sich mit ihm versöhnen konnte, besserte ihre Stimmung auch nicht gerade. Ob er in diesem Augenblick ebenso an sie dachte wie sie an ihn?

»Was habe ich gehört?«, schrie Claudia ihr ins Ohr. »Jemand ist ins Museum eingebrochen?«

Maria nickte. Überall konnte sie den einzelnen Wortfetzen entnehmen, dass der Einbruch und die Beschädigung des Banners von 1880 das Hauptgesprächsthema des Abends war. Die Spekulationen, wer für dieses Verbrechen verantwortlich sein könnte, trieben die wildesten Blüten. Besonders gern wurden natürlich die Rivalen aus der contrada della pantera beschuldigt. Aber es gab auch einige Stimmen, die sich gegen die Tierschützer erhoben.

Ungeachtet seiner Abneigung gegen den Palio saß Alessandro im Kreis der jungen Männer. Wenn es etwas zu feiern gab, war ihm der Grund dafür offensichtlich egal. Hauptsache, das Glas war immer randvoll.

Maria beobachtete ihren Cousin. War er in der vergangenen Nacht ins Museum eingestiegen? Tatsächlich sah er nicht unzufrieden aus. Auf seinen Lippen lag ein stetiges Lächeln. Als freue er sich insgeheim über irgendetwas. Vielleicht über seinen gelungenen Coup. Aber sie war sich nicht sicher, ob das wirklich der Grund für seine Freude war, denn sie bemerkte durchaus, dass Alessandro seine Augen kaum von Claudia abwenden konnte. Und auch ihre Freundin warf ihm mehrmals verstohlene Blicke zu.

Maria konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie stieß ihre Freundin in die Seite und flüsterte ihr hinter vorgehaltener Hand ins Ohr: »Ihr würdet ein hübsches Paar abgeben!«

Claudia versuchte zwar, verständnislos auszusehen, doch ihr Seitenblick zu Alessandro verriet, dass sie genau wusste, was Maria meinte.

Auch Signore Morelli musterte Alessandro auffallend häufig. In seinem Blick lag jedoch wesentlich weniger Wohlwollen. Maria konnte förmlich sehen, wie es hinter der Stirn ihres Vaters arbeitete.

Aber nicht nur sie betrachtete die Leute um sich herum. Plötzlich spürte sie ganz deutlich, dass sie ebenfalls beobachtet wurde. Und als sie sich umschaute, trafen sich ihre Augen mit denen von Antonia, die an der langen Tafel hinter ihr saß. Schuldbewusst senkte Antonia hastig den Blick.

Unwillig runzelte Maria die Stirn. Wieso getraute sich Antonia nicht, ihr in die Augen zu blicken? Hatte sie so ein schlechtes Gewissen? Wusste sie, dass sie die beiden, Antonia und Angelo, beobachtet hatte? Und wenn ja, woher? Hatte Angelo etwa mit ihr darüber gesprochen?

Bei diesem Gedanken fühlte Maria eine Welle der Scham und der Wut über sich hinwegschwappen. Scham darüber, eventuell entdeckt worden zu sein, und Wut darüber, dass Angelo dem Dienstmädchen ihre Gefühle verriet.

»Wenn ihr mich fragt, dann war es eine Nachricht aus dem Jenseits …«

Maria wandte sich ruckartig um. Ihr gegenüber saß Chiara, die sie noch aus der Grundschulzeit kannte. Chiara hatte in der scuola primaria sogar eine Weile neben ihr gesessen und war schon damals etwas sonderbar gewesen.

Normalerweise hätte Maria jetzt wie Claudia und die anderen Mädchen gelacht und einen Witz über Geister gemacht. Doch diesmal war ihr nicht nach Lachen zumute.

»Was gibt es denn da zu lachen?«, empörte sich nun auch Chiara. »Was wisst ihr denn, wie viele fantini im Laufe der Jahre beim Palio zu Tode kamen!«

»Ja klar!«, ereiferte sich Claudia. »Und einen davon treibt seine ruhelose Seele um.«

»Mitten hinein ins Museum«, ergänzte eine andere junge Frau.

Claudia stieß Maria um Zustimmung heischend in die Seite und lachte.

Nur mühsam rang Maria sich ein Lächeln ab; in ihrem Inneren betrachtete sie Chiara auf einmal mit ganz anderen Augen: Vielleicht war ihre alte Klassenkameradin gar nicht so verrückt, wie alle glaubten. Vielleicht hatte sie diesmal ausnahmsweise recht. Auch wenn es nicht der Geist eines Jockeys war, der in der sala delle vittorie sein Unwesen getrieben hatte, sondern der ruhelose Geist einer unglücklichen jungen Frau. Maria bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, wie nah Chiara mit ihrer Vermutung der Wahrheit vielleicht kam.

Erst als alle anderen um sie herum plötzlich verstummten und ihre Blicke auf die Ehrentafel richteten, merkte Maria, dass ihr Vater sich erhoben hatte, um seine Rede als capitano zu halten. Sie bemerkte, wie nervös er war, und bevor er zu reden begann, wischte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er war eben ein Organisator, einer, der im Hintergrund die Fäden in der Hand hielt und daran zog. Keiner, der gern öffentlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.

Signore Morelli räusperte sich, dann begann er: »Ich wünsche mir, dass unsere Kinder, die unsere Zukunft und unsere Kraft sind, ab morgen nicht mehr weinen müssen. Ich will euch glücklich machen, denn ihr habt den Willen, die Kraft, die Liebe und die Leidenschaft zu gewinnen.«

Frenetischer Applaus brandete auf und Maria sah, wie einige alte Frauen, darunter auch ihre nonna Giuletta, aber ebenso einige Männer sich verstohlen die Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln wischten.

Als der Beifall sich gelegt hatte und es wieder so still war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören, fuhr der capitano fort: »Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich mein Bestes gebe, damit wir Helden werden, und dass ich alles tue, um den Adler zu den höchsten Höhen zu bringen. Zum Sieg! Göttin Fortuna gab uns mit verbundenen Augen das Pferd Fabioncello. Seit Langem wünschen wir uns, ihn und keinen anderen in unserem Stall zu haben. Und Fortuna hat unsere Bitten erhört. Hoffen wir, dass sie uns auch weiterhin erhört.«

Zustimmendes Gemurmel aus Hunderten von Kehlen unterbrach die Rede für einen kurzen Moment. Dann endete Signore Morelli mit den Worten: »Morgen treffen wir uns hier wieder, um das Pferd, den Jockey und uns gegenseitig zu umarmen. Ich grüße euch mit Aquila vola! Der Adler fliege!«

»Aquila vola!«, ertönte der Schlachtruf. »Aquila vola!«

Die Menschen standen auf und prosteten einander zu. Dann setzten sie sich wieder, denn nun erhob sich Fernando, der fantino, um seine kurze Rede zu halten. Während er sprach, war es nicht ganz so still wie zuvor bei der Rede des capitano. Hier und da tuschelten die Menschen, während der Reiter beteuerte, alles zu geben, um dem Adler den Sieg zu bescheren. Jeder wusste, dass Fernando zwar ein sehr guter Jockey war, aber allzu gerne auch hin und wieder ein doppeltes Spiel spielte. Und so wurden seine Schwüre von manchen mit einem leisen, misstrauischen Grummeln quittiert.

»Jeder hier weiß, das ich mich dem Adler tief verbunden fühle, und morgen alles tun werde, um euch zum Sieg zu verhelfen. Der Adler fliege!«

Während Maria wie alle anderen »Aquila vola!« rief und ihr Glas erhob, war sie in Gedanken bei Angelo. Auch er würde vor den Mitgliedern seiner Contrade eine kurze Rede halten und den Menschen versprechen, für sie zu siegen.

Wer von den beiden sollte am Ende recht behalten?

Fernando oder Angelo?

Oder womöglich keiner der beiden?

Der dunkle Geist des Palio
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