Je höher der Kopf, desto höher der Ruhm.

Motto der Giraffe (giraffa)

 

 

6

 

Donnerstag, 9. August, eine Woche vor dem Palio

 

Eines stand fest: Dies würde ein besonders aufregender Palio werden, denn es gab mehrere miteinander verfeindete Contraden, die daran teilnahmen. Da waren nicht nur die Wölfin und das Stachelschwein, sondern auch der Turm, der es gleich mit zwei Feinden aufnehmen musste: der Gans und der Welle. Und natürlich gab es den Adler und den Panther.

Wenn verfeindete Contraden aufeinandertrafen, bedeutete das immer ein besonders hartes Rennen. Es gab Menschen, die sich freuten, wenn die Zusammenstellung der Contraden so ausfiel, dass handfeste Auseinandersetzungen unter den Zuschauern vorprogrammiert waren. Sie ergötzten sich an der aufgeheizten Stimmung, genossen das Adrenalin, das reichlich durch die Adern floss, während sie zusahen, wie die Anhänger der einzelnen Contraden aufeinander losgingen. Signore Morelli gehörte definitv nicht zu dieser Art von Menschen. Im Gegenteil.

Der capitano zerbrach sich den Kopf darüber, bei welchem der fantini sich das Schmiergeld, das er zu zahlen bereit war, am meisten lohnen würde. Der Wald und der Drache würden während des Rennens weitestgehend unbehelligt bleiben, denn sie hatten keine Feinde. Ebenso wie das Einhorn, dessen Feind, die Eule, nicht mitreiten würde. Beim Drachen, seinem zukünftigen Schwiegersohn, biss Signore Morelli allerdings auf Granit. Er hatte es bereits versucht und Angelo hatte ihn zurückgewiesen. Natürlich würde er nichts unternehmen, was dem Adler ausdrücklich schadete, aber er war auch nicht bereit, Geld anzunehmen, um einen anderen Jockey am Start zu behindern oder während des Rennens mit dem Ochsenziemer zu traktieren. So dumm das auch war.

Die fantini von Turm, Gans, Welle, Stachelschwein und Wölfin würden genug damit zu tun haben, den Attacken der anderen zu entgehen. Die meisten Chancen rechnete sich Marias Vater deshalb beim Jockey des Waldes aus. Er hatte nicht mit besonders boshaften Angriffen zu rechnen und seine beiden Verbündeten, Schildkröte und Schnecke, ritten gar nicht erst mit, sodass er vielleicht bereit war, Fernando, dem Jockey des Adlers, ein wenig unter die Arme zu greifen, wenn er dafür anständig bezahlt wurde. Allerdings kamen die anderen capitani sicher auch auf diese Idee. Und wer garantierte ihm, dass sich der Jockey des Waldes nicht die Taschen mit dem Geld aller vollstopfte und sich dabei ins Fäustchen lachte?

Den ganzen Abend hatte Marias Vater über seinen Zetteln gebrütet, auf denen er die Namen der anderen Contraden geschrieben hatte, und sie hin und her geschoben, um sich eine Taktik zu überlegen. Wem würde er Schmiergeld anbieten? Wem nicht?

Jetzt stand er am Rand der Rennbahn vor den Toren der Stadt und beobachtete aufmerksam das Rennen. Denn einige der Pferde, die hier starteten, würden eventuell auch beim Palio laufen. Noch stand die endgültige Auswahl allerdings nicht fest.

Der capitano musterte die Pferde: Fabioncello war der Sieger des letzten Palio. Sollte das Los dieses Pferd für den Adler bestimmen, so kam das einem Sechser im Lotto gleich.

Fabioncello war ein hübscher Brauner, dessen Exterieur in jeder Hinsicht den Rassestandards des Salerners entsprach, einer der ältesten italienischen Pferderassen, die einer Kreuzung zwischen Andalusier und Neapolitaner entstammte. Er hatte ein Stockmaß von einem Meter sechzig, einen ausgeprägten Kopf, eine lange Schulter und eine kräftige, leicht abfallende Hinterhand. Insgesamt hatte er ein ausreichend stabiles Fundament, um sich gegen Kontrahenten durchzusetzen. Außerdem war er intelligent und reaktionsschnell.

Ja, sollte das Schicksal dem Adler Fabioncello zuweisen, dann würde Signore Morelli nicht nur vor Freude eine Luftsprung machen, er wäre sogar bereit, der Kirche Oratorio di San Giovanni Battista in seinem Stadtviertel eine anständige Spende zukommen zu lassen. Marias Vater verdrehte die Augen zum Himmel, als hoffte er, dass dort oben jemand seine Gedanken und sein Versprechen mitbekommen hatte und entsprechend handelte.

Denn sollte der Adler stattdessen ein Pferd wie jenes zugesprochen bekommen, das in diesem Augenblick am capitano vorbeigeführt wurde, dann … Aber daran wollte Morelli lieber gar nicht erst denken.

Amarosa gebärdete sich, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihr her. Sie wieherte, schlug aus und versuchte unentwegt zu steigen. Ihre Flanken zitterten und glänzten schweißnass und sie hatte bereits Schaum vor den Nüstern, obwohl das Rennen noch gar nicht gestartet worden war.

Signore Morelli schüttelte den Kopf. Nein, die heilige Mutter Gottes mochte verhindern, dass Amarosa für den Adler lief. Er verstand auch nicht, warum dieses Pferd zu jenen gehörte, die in die engere Wahl für den Palio gekommen waren. Gut, es hatte Temperament und konnte auch schnell sein, wenn es wollte. Nur wollte es eben meistens nicht. Amarosa hatte gewiss gute Anlagen und vielleicht würde aus ihr eines Tages ein brauchbares Rennpferd werden, wenn es jemand fertigbrachte, ihr Temperament zu zügeln und in die richtigen Bahnen zu lenken. Und wenn sie es schaffte, vor einem Rennen ein bisschen weniger nervös zu sein. Aber noch war sie in etwa so unberechenbar wie ein Sandsturm in der Wüste.

Über Manolo, der jetzt an ihm vorbeigeführt wurde, wusste Signore Morelli so gut wie nichts. Allerdings erschien ihm der Wallach etwas lahmarschig. Das, was Amarosa an Temperament zu viel hatte, hatte Manolo offensichtlich zu wenig.

Und das nächste Pferd, Ragazza, hatte seine besten Zeiten eindeutig hinter sich. Vor fünf oder sechs Jahren konnte es mehrere Rennen dominieren. Doch das war lange her. Der capitano hielt es deshalb für fraglich, ob Ragazza noch einmal ausgewählt werden würde.

Die Stute Fairway machte dagegen einen guten und austrainierten Eindruck. Signore Morelli nickte wohlwollend bei ihrem Anblick. Wenn sie zu den zehn gewählten Pferden gehörte, würde das ihr erster Palio sein. Aber bei anderen Rennen hatte der Schimmel bereits bewiesen, dass er etwas konnte. Und Morelli beschloss, seine Stimme für dieses Pferd herzugeben, wenn es in drei Tagen zur Abstimmung kam.

Wenn er sich allerdings ein Pferd aussuchen dürfte, so würde seine Wahl auf Fabioncello fallen. Aber natürlich suchte sich der capitano das Pferd nicht selbst aus, sondern war auf das Schicksal des Loses angewiesen. Anderenfalls hätten sich vermutlich zehn erwachsene Männer um das Recht geprügelt, Fabioncello in die eigene casa del cavallo zu führen.

»Ciao, Filipo!« Der kleine Mann mit einem für einen Süditaliener ungewöhnlich hellen Haarschopf streckte dem capitano die Hand entgegen.

»Ciao, Gabriel!« Signore Morelli drückte die ihm dargebotene Hand herzlich. Die Begegnung mit den Jockeys war der zweite Grund für seine Anwesenheit auf dieser Rennbahn. Neben der Begutachtung der Pferde war der Kontakt zu den fantini von erheblicher Bedeutung für das Gelingen eines Rennens. Wen konnte man für sich gewinnen? Wer lehnte eine Kooperation entschieden ab?

»Wie geht’s?«

»Könnte nicht besser sein.«

»Du reitest für den Wald, habe ich gehört?«

Der Jockey nickte und kratzte sich dabei im Nacken. Signore Morelli rieb sich innerlich bereits in Vorfreude die Hände. Was konnte es Besseres geben, als einen guten alten Bekannten zu treffen, mit dem man schon mehr als einen Abend lang getrunken und gelacht hatte, und ihn um einen klitzekleinen Gefallen zu bitten?

»Das freut mich«, fuhr er deshalb fort und klopfte seinem Gegenüber freundschaftlich auf die Schulter. »Der Wald kann sich glücklich schätzen, einen so erfahrenen, guten Jockey wie dich zu bekommen.«

Gabriel grinste und entblößte dabei eine wenig attraktive Zahnlücke, die er sich bei einem seiner Reitunfälle zugezogen hatte. »Ich habe gehört, der Adler hat Fernando an Land gezogen?«

»Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, also haben wir ihn gefragt.«

»Ich verstehe.«

»Hör mal, Gabriel.« Der Ton des capitano wurde vertraulicher. »Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen Danilo.«

»Er reitet wieder für den Panther, nicht wahr?«

»Genau. Und der Panther und der Adler … na, du weißt schon …«

Wie viele seiner Kollegen war Gabriel gebürtiger Sizilianer. Die Feinheiten der sienesischen Freundschaften und Feindschaften erschlossen sich ihm deshalb nicht automatisch. Trotzdem wusste jeder Jockey, der am Palio teilnahm, darüber Bescheid, wie die einzelnen Contraden zueinander standen.

»Danilo ist ein guter Jockey«, sagte Gabriel. »Aber für seinen Erfolg geht er auch über Leichen.«

»So ist es«, bestätigte Morelli. »Und deshalb mache ich mir Sorgen.«

Gabriel nickte stumm.

»Meinst du …« Der capitano zog einen Fünfhunderter aus seiner Hosentasche, fasste in einer freundschaftlichen Geste nach Gabriels Hand und drückte den Schein hinein, den Gabriel, ohne einen Blick darauf zu werfen, in seiner Jackentasche verschwinden ließ.

»Aber klar doch, Filipo«, sagte er. »Wir sollten mal wieder zusammen einen trinken gehen, was?«

»Auf jeden Fall, alter Freund. Und das geht auf meine Rechnung, verlass dich drauf.«

Gabriel lachte, winkte dem capitano noch einmal zu und verschwand im Gedränge.

Signore Morelli sah ihm zufrieden hinterher. Dieser Fünfhunderter war gut investiert. Da war er sich sicher. Und während er seinen Blick weiter über die Menge schweifen ließ, erblickte er Danilo, der in ein Gespräch mit dem fantino des Stachelschweins vertieft war. Als hätten sie gerade über ihn gesprochen, sahen beide gleichzeitig zu ihm hinüber. Müde hob Morelli eine Hand und winkte den beiden zu, die augenblicklich zurückwinkten. Selbst wenn man gerade die boshaftesten Gemeinheiten ausheckte, war es eine Frage des Anstands und der Ehre, einen dargebotenen Gruß zu erwidern. Doch trotz der demonstrierten Freundlichkeit nahm sich der capitano vor, nach einer passenden Gelegenheit zu suchen, um mit dem Jockey des Stachelschweins ein Wort zu wechseln. Natürlich würde ihm der Mann nur versichern, dass ihm nichts ferner läge, als sich in den Streit zwischen Panther und Adler einzumischen. Und Morelli wusste jetzt schon, dass das eine saftige Lüge sein würde. Aber was sollte er machen? Seufzend wandte er sich ab und entdeckte Marcello, den Jockey des Einhorns – auch er ein alter Bekannter. Und Signore Morelli hatte nicht die Absicht, auch nur eine einzige Chance ungenutzt zu lassen.

»Ciao, Marcello!«, rief er und der Jockey wandte sich sofort zu ihm um, als hätte er nur darauf gewartet, angesprochen zu werden.

»Ciao, Filipo! Was machst du denn hier?«

»Ach, du weißt doch, wie das ist«, erwiderte Morelli, »man sieht und hört sich um.«

Marcello nickte. »Natürlich. Ich verstehe. Und was machen deine Vorbereitungen für den Palio, capitano?«

»Sind in vollem Gange. Apropos Palio … hör mal, Marcello, du reitest dieses Jahr doch fürs Einhorn, oder?«

Marcello nickte stumm.

»Und der Panther hat ausgerechnet Danilo wieder verpflichtet.«

»Ein scharfer Hund.«

Jetzt war es Morelli, der nickte. »Meinst du …« Er tastete erneut nach einem Geldschein, als Marcello einen Ausfallschritt nach vorne machte und genau auf seinen Zehenspitzen landete. Der capitano trug weiche Slipper und musste einen Aufschrei unterdrücken, indem er die Augen zukniff. Als er sie wieder öffnete, blickte er genau in Danilos Gesicht, der ihn und Marcello unter zusammengezogenen Augenbrauen finster anstarrte, bevor er betont gelassen weiterschlenderte, als sei nichts gewesen.

Marcello stieß einen leisen Fluch aus. »Dieser figlio di puttana hat mich von hinten angerempelt.«

»Glaubst du, er hat unser Gespräch belauscht?«

Marcello zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon«, knurrte er. »Wenn der meint, er könnte mich ins Bockshorn jagen, dann hat er sich gewaltig geirrt.«

Signore Morelli grinste. Vermutlich war es besser, den Geldschein zu lassen, wo er war. Marcello hatte soeben ein viel überzeugenderes Argument erhalten, Danilo während des Rennens im Auge zu behalten.

 

Marias Absätze klapperten weiterhin auf dem Kopfsteinpflaster. Sie hatte Alessandro im Café zurückgelassen, dachte aber immer noch über ihr Gespräch nach. Gegen ihren Willen hatte er ihr eine Facette von Antonia gezeigt, die sie gar nicht sehen wollte. Es war so viel einfacher, nichts über das Dienstmädchen zu wissen. Vor allem nichts, was aus ihr einen netten Menschen machte.

Sie blieb an einem Schaufenster stehen und betrachtete eine Weile ein paar hübsche braune Sandalen mit Absatz, bis sie sich eingestand, dass sie bereits ein ähnliches Paar besaß. Entschlossen ging Maria weiter, doch schon nach wenigen Minuten beschlich sie ein seltsames Gefühl. Sie drehte sich um und musterte aufmerksam die Gesichter der anderen Passanten. Irgendwie fühlte sie sich unwohl. Als würde sie verfolgt. Da war dieses merkwürdige Gefühl im Rücken, als ob jemand sie beobachtete. Aber da war nichts, weshalb sie nervös werden sollte. Doch sosehr sie sich selbst schalt – das Gefühl, dass jemand hinter ihr herschlich, wurde sie einfach nicht los. Wer sollte mich schon verfolgen?, überlegte sie. Und warum?

Der Einzige, der ihr einfiel, war Gianluca. Hatte er sie hier, mitten in der Stadt, entdeckt und war dreist genug, ihr hinterherzuspionieren?

Maria seufzte. Wie oft hatte sie sich schon für ihren Fehler verteufelt. Sie hätte es wissen müssen. Niemals hätte sie ihn küssen dürfen. Und es war zu einfach, dem Alkohol allein dafür die Schuld zu geben. Sie hatte auf dem Schulball definitiv zu viel getrunken und Gianluca war den ganzen Abend, wie die Jahre zuvor, nicht von ihrer Seite gewichen, hatte sie mit Komplimenten überschüttet und sie mit seinen tiefschwarzen Augen angehimmelt. Und er sah ja auch nicht gerade schlecht aus. Trotzdem. Sie hatte gewusst, dass sie sich niemals in ihn verlieben würde. Die Chemie stimmte einfach nicht zwischen ihnen. Dennoch war sie am Ende des Ballabends schwach geworden und hatte seine Annäherungsversuche nicht länger abgeblockt. Mehr als ein einziger Kuss in einer der dunklen Ecke der Tanzfläche war es nicht gewesen. Und dieser eine Kuss hatte sie schlagartig nüchtern werden lassen. Doch bei Gianluca hatte er das genaue Gegenteil bewirkt, denn seit diesem Augenblick vor mehr als anderthalb Jahren klebte er wie ein Schatten an ihr. Bereits am nächsten Tag hatte er angerufen, liebestrunken, als wäre der eine verirrte Kuss das Versprechen auf ein gemeinsames Leben gewesen.

Maria hatte ihm geradeheraus gesagt, dass es ein Fehler gewesen sei und er sich keine Hoffnungen machen sollte. Doch er hatte sie gar nicht erst ausreden lassen.

Zuerst waren es nur Blumen gewesen, die er ihr jeden Tag schickte. Rote Rosen. Dann kamen Liebesbriefe, die sie ebenfalls ignoriert hatte. Als immer mehr Blumen kamen, ging sie dazu über, die Rosen zurückzuschicken. Aber auch das nutzte nichts. Morgens, mittags und abends stand der Blumenkurier vor dem Haus mit Sträußen, die so groß waren, dass sie kaum durch die Tür passten.

Da hatte Maria Gianluca angerufen und ihn höflich, aber bestimmt gebeten, sie endlich in Ruhe zu lassen.

Doch er hörte nicht auf sie. Und als sie sich keinen Rat mehr wusste, bat sie ihren Vater um Hilfe.

Signore Morelli sprach ein ernstes Wort mit Gianluca und danach herrschte eine Zeit lang Ruhe.

Maria glaubte schon, ihr Verehrer hätte endlich begriffen, bis er eines Abends, als sie nach Hause kam, vor ihrer Tür stand. Sie schickte ihn weg, aber am nächsten Abend war er wieder da. Und am übernächsten auch. Schließlich drohte ihm Signore Morelli mit der Polizei, wenn er nicht aufhörte, seine Tochter zu belästigen.

Aber selbst diese Drohung prallte an Gianluca ab, der anfing, ihr mitten in der Stadt aufzulauern, wenn sie nachts, nach einem Treffen mit ihren Freundinnen, nach Hause ging. Schließlich verlor sie die Nerven und schrie ihn bei einer dieser unfreiwilligen Begegnungen an und beschimpfte ihn wüst. Doch statt endlich aufzugeben, packte er sie hart am Arm und schüttelte sie. Er hörte nicht auf ihre erschreckten Schreie, spuckte sie sogar voller Hass an! Mitten ins Gesicht. Dann endlich rannte er davon.

Maria war zutiefst erschrocken. Zeigte ihr sein Verhalten doch, wozu Gianluca fähig war, wenn er sich abgewiesen und verletzt fühlte. Aber nach diesem Zwischenfall kehrte für einige Monate Ruhe ein. Bis sie ihn, gemeinsam mit Angelo, vor wenigen Tagen im Garten ihres Hauses entdeckt hatte.

Ob es jetzt auch wieder Gianluca war, der sie verfolgte? Sie hatte geglaubt, die Sache gehöre endlich der Vergangenheit an. In Maria stieg die Angst hoch. Was sollte sie tun, wenn tatsächlich er es war, der ihr erneut auflauerte?

Noch einmal drehte sie sich um und ließ ihren Blick über die Passanten gleiten. Konnte sie ihn irgendwo entdecken? Was sollte sie bloß tun, wenn es wieder zu einer Konfrontation kam? Ihr Herz raste bei diesem Gedanken. Dann stutzte sie, als sie ein Gesicht bemerkte, das ihr bekannt vorkam. Erleichtert atmete sie auf. Es war Antonia, die immer wieder für einen kurzen Moment in der Menschenmenge hinter ihr auftauchte und gleich darauf wieder verschwand. Das war es also! Vermutlich hatte sie das Gesicht der Haushälterin unbewusst wahrgenommen. Sie blieb stehen, um auf Antonia zu warten, schließlich wollte sie nicht unhöflich erscheinen. Sicher hatte die junge Frau sie auch längst entdeckt und bemerkt, dass Maria sich mehrmals nach ihr umdrehte. Was sollte sie denken, wenn sie jetzt einfach so tat, als hätte sie Antonia nicht gesehen?

Doch kurz bevor die Haushälterin zu Maria aufgeschlossen hätte, bog sie plötzlich scharf nach rechts ab und verschwand in einem Lebensmittelgeschäft.

Maria zuckte mit den Achseln. So war es ihr natürlich auch recht. Genau genommen war es ihr sogar lieber so. Was hätte sie schon mit Antonia zu bereden gehabt? Obwohl sie nun dank Alessandro ja sogar wusste, dass Antonia sich für Musik und Katzen interessierte.

Erleichtert wandte Maria sich ab und überquerte die Piazza del Campo. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, während sie darüber nachdachte, wie übertrieben ängstlich sie reagiert hatte. Gianluca hatte doch längst verstanden, dass sie nichts von ihm wissen wollte.

Am Rande des Platzes lagerten bereits riesige Sandhaufen für den Palio. Meterhohe Berge feinster, ockerfarbener Erde, die Terra di Siena, die eigens aus dem Hinterland angekarrt und mit Planierraupen festgewalzt wurde, damit die Pferde während des Rennens den nötigen Grip auf dem Untergrund fanden.

Maria musste über diesen ganzen Irrsinn beinahe lachen. Natürlich war sie stolz auf das, was ihre Stadt auf die Beine stellte und was sie auszeichnete. Beim Anblick des kostbaren Sandes fiel ihr aber auch Alessandro wieder ein, der seit Jahren erbittert das große Ereignis bekämpfte, um das die Stadt so viel Wirbel machte. Was für eine Aktion die Tierschützer wohl diesmal ausgeheckt hatten? Ein bisschen unwohl war ihr schon bei dem Gedanken – immerhin ritt auch Angelo mit und sie wollte nicht, dass ihm etwas zustieß. Früher, so überlegte Maria, war jeder Sienese für den Palio gewesen. Jeder, ohne Ausnahme. Gemeinsam hatten die Menschen, alte und junge, Männer und Frauen, den Sand auf dem Campo festgestampft, als es noch keine Planierraupen gab.

Das musste ein herrliches Fest gewesen sein.

Damals.

Der dunkle Geist des Palio
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