Kraft und Beharrlichkeit durch das Haus.

Motto der Schildkröte (tartuca)

 

 

15

 

Dienstag, 17. August 1880, einen Tag nach dem Palio

 

Was soll ich nur tun, Isabella?« Eva Maria lief in ihrem Schlafgemach unstet auf und ab, während ihr Dienstmädchen, das weit mehr als eine bloße Angestellte war, mit sorgenvoll gesenktem Haupt vor ihr stand und es kaum wagte, sie anzublicken.

Isabella war Eva Marias Vertraute und beinahe eine Freundin. Die beiden gleich alten Frauen waren mehr oder weniger zusammen aufgewachsen, da Isabellas Mutter Marta seit langer Zeit in den Diensten der Familie Morelli stand. Und seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr arbeitete Isabella für Eva Maria.

»Was soll ich nur tun? Ich kann ihn nirgends erreichen!«

Isabella schwieg. Sie wusste, was man sich in der Stadt erzählte, nachdem es gestern beim Palio zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Adlers und des Panthers gekommen war. Die ganze Stadt sprach über nichts anderes!

»Was hast du gehört? Los, sag es mir schon!«

»Ich habe Euch bereits alles gesagt, was ich weiß«, antwortete Isabella mit leiser Stimme.

»Dann sag es noch einmal!«, herrschte Eva Maria sie an.

Isabella zuckte zusammen.

»Verzeih mir«, bat Eva Maria um Entschuldigung und griff nach den Händen ihres Zimmermädchens. »Ich bin nur so schrecklich verzweifelt, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich tue.«

»Man erzählt sich, Lorenzo del Pianta habe Siena noch gestern Abend verlassen. Niemand weiß, wohin und wann er wiederkehren wird.« Isabella seufzte. Sie hatte das alles schon einmal berichtet, nachdem sie sich im Auftrag ihrer Herrin umgehört hatte. Denn natürlich schickte es sich für Signorina Morelli nicht, selbst herumzulaufen und Gerüchten nachzuspüren. »Genesio befindet sich noch in ärztlicher Behandlung«, fuhr Isabella widerstrebend fort. »Man hat ihn ganz schön zugerichtet, heißt es. Und immer noch liefern sich Anhänger von aquila und pantera auf den Straßen handfeste Auseinandersetzungen, wo immer sie einander begegnen. pantera behauptet, aquila habe ihr Pferd vergiftet und deswegen sei es bei dem Rennen zusammengebrochen …«

»Was für ein Hirngespinst!«, platzte Eva Maria hervor. »Wer sollte denn so etwas Grausames tun?«

Isabella schwieg. Sie hatte auch Gerüchte darüber gehört, wer für den Anschlag verantwortlich sein sollte. Aber das wollte sie ihrer Herrin nun wahrhaftig nicht weitergeben. Also sagte sie nur: »Aquila behauptet, das Pferd sei krank gewesen und hätte gar nicht geritten werden dürfen. Pantera hätte seine Teilnahme am Palio absagen müssen. Tatsache ist wohl, dass Luna bereits zwei Tage vor dem Palio an schweren Durchfällen litt.«

»Wusste Lorenzo davon?«

Isabella nickte. »Natürlich.«

Eva Maria erinnerte sich, wie Lorenzo am gestrigen Tage kurz vor dem Rennen mehrmals sorgenvoll den Hals seiner Stute gestreichelt hatte, und gab Isabella im Stillen recht: Ja, er hatte gewusst, dass Luna in keiner guten Verfassung war. Aber das Reglement sah nun einmal vor, dass selbst ein krankes Pferd nicht mehr ausgetauscht werden durfte, nachdem es einer Contrade zugeteilt worden war. Also hatte Lorenzo keine andere Wahl gehabt, wenn er das Rennen nicht absagen wollte.

»Jemand, der in der Nähe der casa del cavallo wohnt, will gesehen haben, wie der barbaresco von pantera in der Nacht von Freitag auf Samstag den Stall verließ, um seine Notdurft zu verrichten.«

Eva Maria zuckte mit den Schultern. »Ja und? Was ist daran so außergewöhnlich?«

»Nun ja«, fuhr Isabella widerstrebend fort, »er war wohl ziemlich häufig draußen. Jeweils zur vollen Stunde erzählt man sich.«

»Vielleicht fühlte er sich nicht wohl.«

Isabella nickte. »Genau das behauptet er auch. Er sagt, er habe sich nicht wohlgefühlt.«

»Aber man glaubt ihm nicht?«

Isabella gab keine Antwort.

Nachdenklich spielte Eva Maria an ihrem Verlobungsring und versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen: Lorenzo hatte die Stadt verlassen. Niemand wusste, wo er sich aufhielt und wann er wiederkommen würde. Pantera behauptete, aquila sei für den Tod des Pferdes verantwortlich, weil es von ihnen vergiftet worden sei. Und aquila wiederum beschuldigte Pantera, den Tod des Tieres verschuldet zu haben, weil es krank gewesen sei und nicht hätte geritten werden dürfen. Der fantino dell’ aquila, Genesio, war unmittelbar nach dem Rennen verprügelt worden. Er hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, seinen Sieg zu feiern. Und Lorenzo fürchtete vielleicht, ebenfalls verprügelt zu werden. Aus Rache für den Übergriff auf Genesio. Oder als Vergeltungsmaßnahme, weil er ein krankes Pferd geritten hatte.

War das der Grund für sein Verschwinden?

Oder hatte es vielmehr damit zu tun, dass Lorenzo ihrem Vater die Schuld für seinen verpassten Sieg gab?

Nur mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie Lorenzo sich nach dem Rennen wutentbrannt vor dem Balkon aufgebaut hatte, auf dem sie und ihre Familie versammelt gewesen waren. Und wie er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihren Vater gedeutet und geschrien hatte: »Das habt allein Ihr zu verantworten! Ihr seid ein Verräter und Verbrecher!« Dann hatte er sogar vor sich auf den Boden gespuckt, um seine Abscheu vor Signore Morelli, dem capitano dell’ aquila, zum Ausdruck zu bringen, und war verschwunden. Einfach verschwunden.

Und was sollte sie jetzt tun? In elf Tagen sollte ihre Hochzeit stattfinden. Doch ohne den Bräutigam war das schlichtweg unmöglich.

Isabella schien ihre Gedanken zu erraten. Tröstend legte sie ihr eine Hand auf den Unterarm. »Er wird schon wieder zur Besinnung kommen«, sagte sie. »Macht Euch keine Sorgen.«

Aber Eva Maria machte sich Sorgen. Sehr große Sorgen sogar.

Der dunkle Geist des Palio
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