Ich sehe in der Nacht.
Motto der Eule (civetta)
4
Montag, 26. Juli 1880, drei Wochen vor dem Palio
Eva, meine Liebe, sei doch bitte so gut und schaue einmal nach, wie weit Marta mit meinem Bettwärmer ist.«
Eva Maria runzelte die Stirn. Aber nur ganz leicht, damit ihr Vater es ja nicht sah. »Ich bin sicher, dass Marta den Bettwärmer bereits in Euer Schlafgemach gebracht hat, Vater. Ihr wisst doch, dass Marta in diesen Dingen äußerst zuverlässig ist.«
»Sieh doch bitte dennoch nach.«
Eva Maria kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er nur einen Grund suchte, sie aus dem Zimmer zu weisen. Und er wiederum kannte seine Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie ihn durchschaut hatte und sich nicht so einfach wegschicken ließ.
Sie sahen einander schweigend in die Augen, bis Lorenzo sich unwohl zu fühlen begann und sich räusperte.
»Also gut, Eva. Ich möchte mit Lorenzo etwas besprechen«, gab Signore Andrea Morelli endlich zu.
»Nur zu«, erwiderte sie. »Ich werde Euch nicht stören.«
Drohend hob ihr Vater eine Augenbraue und sie wusste, dass sie sich auf gefährliches Terrain vorwagte.
»Ich möchte dich nicht damit belasten, meine Liebe, es wäre nicht schicklich, wenn du dir darüber Gedanken machtest.«
»Ich verspreche Euch, Vater, ich werde mir keine unschicklichen Gedanken machen.«
Jetzt war Signore Morelli kurz davor, zu platzen. »Es handelt sich aber um Männergespräche, die nicht für die Ohren einer Frau bestimmt sind.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was mein Vater und mein Verlobter zu besprechen hätten, das nicht für meine Ohren bestimmt sein sollte«, wagte Eva Maria einen letzten Versuch. Wohl wissend, dass es da eine ganze Menge gab. Angefangen von der Mitgift, die Lorenzo nach der Hochzeit erhalten würde, bis hin zu weitaus brisanteren Themen wie zum Beispiel der Frage nach der Jungfräulichkeit der Braut.
Signore Morellis Faust landete so schwungvoll auf dem Tisch, dass sein Weinglas vibrierte. »Eva«, schrie er, »jetzt reicht es! Tu, was ich sage!«
Ihr Blick suchte den ihres Verlobten. Sie wünschte sich, dass Lorenzo ein Wort für sie einlegte. Aber er starrte nur vor sich hin und ignorierte sie. Fürchtete er sich so sehr vor ihrem Vater? Oder war es ihm am Ende egal?
Eva Maria kämpfte mit den Tränen. In letzter Zeit war sie erstaunlich nah am Wasser gebaut. So kannte sie sich gar nicht. Sie fühlte sich gedemütigt. Aber nachdem nicht einmal Lorenzo zu ihr stand und ihrem Vater die Stirn bot, gab sie nach. Sie erhob sich, ihre Röcke raffend, und versuchte, möglichst würdevoll den Raum zu verlassen. Im Flur jedoch blieb sie stehen und presste ihr Ohr ganz dicht an das Holz der Zimmertür.
»Nun, Lorenzo, in drei Wochen findet der Palio statt.«
Schweigen.
»Ihr wisst, dass ich Euch für Eure reiterischen Fähigkeiten zutiefst bewundere.«
»Das ist sehr freundlich von Euch, Signore Morelli.«
»Das Problem ist, Ihr reitet für die falsche contrada.«
»Bei allem Respekt, Signore Morelli, aber das sehe ich nicht so.«
»Ich denke doch! Immerhin wollt Ihr in einem Monat meine Tochter heiraten.«
Schweigen.
»Meint Ihr nicht, ein bisschen Entgegenkommen wäre in Anbetracht dieser Tatsache sinnvoll?« Das war wieder die Stimme ihres Vaters.
Schweigen.
»Überleg dir, Lorenzo, auf welcher Seite du stehst.« Nicht nur Vaters Ton wurde vertraulicher. Er wechselte auch von der förmlichen Anrede ins inoffizielle Du. Und Eva Maria ärgerte sich. Hatte sie doch gewusst, dass ihr Vater als capitano seiner contrada versuchen würde, Lorenzo in ein abgekartertes Spiel hineinzuziehen! Und sie wusste auch, dass Lorenzo sich niemals darauf einlassen würde. Deshalb wunderten sie seine nächsten Worte auch nicht.
»Ich bin ein Panther«, hörte sie Lorenzo sagen. »Und ich werde diesen Palio für meine Familie, für meine contrada reiten.«
»Aber welches ist deine Familie, wenn du meine Tochter heiratest?«
»Der Panther und der Adler sind Verbündete«, antwortete Lorenzo. »Dennoch reite ich für die contrada, in der ich geboren wurde.«
»Nun, das kannst du ja auch. Zumindest offiziell.«
Lorenzo schwieg erneut.
Signore Morelli seufzte laut, nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte. »Und zu welcher contrada werden meine Enkelkinder gehören?«
»Zum Panther natürlich«, erwiderte Lorenzo jetzt. »Meine Kinder werden selbstverständlich kleine Panther.«
Eva Maria schloss die Augen. Sie wollte gar nicht hören, was ihr Vater dazu zu sagen hatte. Aber nein, natürlich wollte sie es doch hören! Und sie hörte es auch.
»Das werden wir erst noch sehen«, entgegnete Morelli. Seine Stimme war schneidend. »Du weißt, dass ich der Verbindung zwischen dir und meiner Tochter nur aus einem einzigen Grund zugestimmt habe.«
»Und aus ebendiesem Grund werdet Ihr Eure Einwilligung auch nicht wieder zurückziehen«, erwiderte Lorenzo schlagfertig. Seine Stimme war vollkommen ruhig, als er fortfuhr: »Es ist mindestens ebenso sehr in Eurem Interesse wie in meinem, dass diese Hochzeit stattfindet. Und zwar möglichst bald.«
Hinter der Holztür bekam Eva Maria mit, wie ihr Vater über die Unverfrorenheit des jungen Mannes empört nach Luft schnappte. »Raus mit dir, bastardo! R a u s!« Den letzten Befehl schrie er.
Sie konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf zurückziehen, bevor die Tür aufgerissen wurde und Lorenzo mit zornesroten Wangen an ihr vorbeistürmte, ohne sie auch nur wahrzunehmen.
»Lorenzo!«, rief sie ihm nach. »Lorenzo, so warte doch!« Sie streckte die Hände nach ihrem Verlobten aus, um ihn aufzuhalten, um ihn in ihre Arme zu schließen und aus seinem Mund zu hören, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war. Dass der Streit mit ihrem Vater nichts mit seinen Gefühlen für sie zu tun hatte.
Doch Lorenzo schüttelte unwirsch ihre Hände ab, entwand sich ihrem Versuch, ihn zu umarmen, indem er sie an der Schulter fasste und von sich weghielt, während seine Augen sie böse anfunkelten. Schließlich wandte er sich ab und eilte durch die Eingangshalle des Palazzo Morelli zur Haustür. Mit einem lauten Knall fiel die schwere Eingangstür hinter ihm ins Schloss.
Eva Maria presste entsetzt die Hände fest auf ihren Mund und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr aufsteigen wollten. In seinem Blick hatte nicht der geringste Funke Liebe gesteckt. Nicht der geringste. Nur Wut und … ja … Hass …
Zutiefst verstört ließ sie die Arme sinken und strich sich unwillkürlich mit der rechten Hand über den flachen Bauch.