XXXVI.

 

Es dauerte keine acht Minuten, bis vier Polizeiwagen von beiden Seiten in die Straße einbogen. Sie hatten auf Sirenen verzichtet, doch das Blaulicht hatte mir ihre Ankunft schon von weitem angekündigt. Nahezu lautlos verließen die Cops ihre Wagen und tasteten sich, gegen die schäbigen Mauern des Gebäudes gepresst, an das Tor heran.

Das laute Quietschen der Scharniere verkündete ihre Ankunft auch Jim, der sich allerdings nicht auf dieses untrügliche Zeichen verlassen hatte. Als der fünfte und einzige schwarze Wagen das Tor passierte und David zusammen mit zwei weiteren Männern ausstieg, die über ihrer Zivilmontur lediglich schusssichere Westen trugen, stand Jim schon längst inmitten der großen Halle, im hellen Kegel des Spotlights, dessen Standpunkt er zuvor noch einmal so zur Seite hin korrigiert hatte, dass ihn das Licht nicht blendete.

Jim hielt Emily fest umschlossen vor sich, presste ihren Rücken gegen seinen schwammigen Oberkörper und hielt ihr die Pistole an die Schläfe. Ein Zustand, der mich fast verrückt werden ließ. Die Bilder, die mich aus Emilys Kopf erreichten, waren wackelig und verschwommen, teilweise auch abgehackt. Es schien mir so, als sei sie einer Ohnmacht nahe.

Seit dem Mittagessen hatte sie nichts mehr zu sich genommen, weder Nahrung, noch Flüssigkeit. In der Zwischenzeit war sie betäubt worden und stand nun unter einer absoluten Adrenalin-Überdosis. Ja, vermutlich war sie wirklich kurz davor, ihr ohnehin wackeliges Bewusstsein zu verlieren. Und ich, als ihr Beschützer, hätte Emilys Position längst als Startschuss nehmen müssen endlich in Aktion zu treten.

Umso verzweifelter wurde ich von Sekunde zu Sekunde – hatte ich doch immer noch nicht einmal die leiseste Ahnung, wie ich ihr helfen sollte. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich zu ihr gelangen könnte.

„Kein Hintereingang und keine Feuerleiter“, erklärte einer der Cops im Innenhof seinen Kollegen. Die Uniformierten hatten in der Zwischenzeit das Gebäude umzingelt, waren aber geschlossen zurückgekehrt, als sie keine weiteren Zugänge gefunden hatten. Nur an der Frontseite, hinter dem Metalltor, gab es ein großes Liefertor und direkt daneben die metallene Eingangstür. Nun standen sämtliche Cops schussbereit vor diesen Zugängen verteilt. Es sah so aus, als wollten sie die Halle stürmen. „Sie haben alles abmontiert. Wir kommen nicht aufs Dach“, erklärte der Späher.

Nun, für mich war das gut, aber für die gesamte Situation ...

So ein Mist! Wie lange hat dieser Kerl das geplant?“, zischte ein anderer. „Hoffen wir, dass der Heli bald eintrifft.“

Einer der Männer in Zivil hob die Hand, gebot den Männern zu schweigen und flüsterte David, der ebenfalls eine schusssichere Weste trug, noch etwas zu, das ich nicht verstand. Dann gab er einem der uniformierten Cops ein Zeichen und ließ sich von ihm die schwere Tür zur Halle öffnen.

Emilys Herzschlag beschleunigte sich, als sie das metallene Geräusch vernahm. Und als sie ihren Vater sah – nicht mehr als ein vager Umriss im hellen Schein des Spotlights –, sackten ihre Knie weg ... und mit ihr die Bilder.

Oh nein! Ist sie ohnmächtig geworden?

Vermutlich war sie plötzlich schwer in seinen Armen geworden, sodass Jim ihr einen Hieb versetzte. Zumindest dauerte es nur wenige Sekunden – nicht einmal so lange, bis die Männer ein einziges Wort miteinander gewechselt hatten, bis mich neue, flimmernde Bilder erreichten. Die Erkenntnis, dass dies nur möglich war, indem Emily quasi im Erwachen schon wieder gezielt an mich dachte, traf mich tief.

Ich bin so nutzlos, so ... unbrauchbar. Em hätte es nicht schlechter treffen können als mit mir.

„Noah! Ich weiß, dass es das ist, was dir dein Stiefvater über Jahre hinweg eingetrichtert hat, Junge. Aber du bist nichts von alledem. Du bist sehr wohl wichtig und wertvoll für Emily. Denn ohne dich wird sie die kommende Viertelstunde nicht überleben. Du hast es in dir, Noah. Du hast mich. Und nun handle!“

Michaels Worte und seine warme Stimme überschnitten sich mit Jims bizarrer Begrüßung für David: „Oh, der werte Herr Regisseur. Wie dankbar ich doch bin, dass Sie uns die Ehre erweisen. Sehen Sie, alles ist vorbereitet, der Rote Teppich schon ausgerollt.“

Ich spürte seinen feuchten Atem in Emilys Nacken und den Ekel, den sie dabei empfand. Inzwischen hatten sich ihre Augen wieder an die grelle Helligkeit des Scheinwerfers gewöhnt. Nun sah sie ihren Dad durch tränenbenetzte Augen.

David selbst sah aus, als würde er ebenfalls am liebsten losheulen. Sein Blick verschmolz mit dem seiner Tochter und bekannte nichts als Reue und tiefe Sorge. „Was willst du, Jim?“, fragte er mit angstgepresster Stimme.

„Dass du die Kamera nimmst, Dave. Lade sie dir auf die Schulter, los!“

David drehte den Kopf nur unwillig, blickte auf die Kamera neben ihm, die auf der Kiste bereitlag, und befolgte Jims Anweisung.

Schwer, nicht wahr?“, fragte der, als David leise ächzte. „Kannst du dir vorstellen, wie schwer dieses Teil wird, wenn du es sechzehn Jahre lang trägst? Sechzehn Jahre, in denen es für dich, Dave, immer weiter bergauf ging. Ich hingegen blieb unten, ganz unten. Als hätte mich das Gerät auf meiner Schulter herabgedrückt, an Ort und Stelle gehalten. Aber heute ... Heute machen wir es andersherum. Schalt sie an!“

David blickte Jim ungläubig an. Für einen Moment sah er so aus, als wollte er etwas erwidern. Doch dann fasste er sich, verkniff sich die Worte und schaltete die Kamera ein. Ein rotes Licht zeigte an, dass sie lief.

„Heute, lieber Kollege ...“, fuhr Jim theatralisch fort, „... bin ich dein Regisseur, und du, David Rossberg, ... du bist mein Kameramann, in Ordnung? Ein Drehbuch habe ich schon, weißt du? Ein sehr gutes sogar. Man behauptet doch, das Leben schreibe die besten Drehbücher, nicht wahr? Und jetzt frage ich dich, Dave – als meinen ewig treuen Freund –, wie gefällt dir diese Geschichte? Nehmen wir an, die Tochter eines berühmten Regisseurs wird auf der Weltpremiere des neuesten Films ihres Vaters entführt. Einfach so, aus dem prallgefüllten Kinosaal. Schnell trudeln Lösegeldforderungen ein, und alles sieht nach einer ganz gewöhnlichen Entführung aus. Mit dem altbekannten Motiv: das liebe Geld.“

In diesem Moment lachte er heiser auf und umfasste Emilys Mitte so fest, dass ihr speiübel wurde. Ich spürte den Lauf der Pistole, den Jim gegen ihre Schläfe presste, während er ... ja, in einem genießerischen Ton fortfuhr: „Doch dann, genau zum Zeitpunkt der Lösegeldübergabe, meldet sich einer der engsten Mitarbeiter bei dem verzweifelten Regisseur. Nein, eigentlich ist er mehr als nur ein Mitarbeiter. Streng genommen ist er ein gleichwertiger Kollege – zumindest, wenn man die gemeinsame Arbeit betrachtet. Außerdem ein treuer Ratgeber und vor allem, so sollte man zumindest meinen, ein Freund.“

Dieses letzte Wort betonte er so scharf, dass ich innerlich erbebte – ebenso wie Emily. Dann wurde seine Stimme wieder weicher; ich spürte sein heuchlerisches Lächeln in den Haaren meines Mädchens.

„An dieser Stelle zoomst du ran, in die Nahaufnahme“, ordnete er an; sein Wispern war laut genug, um von den kahlen Wänden widerzuhallen und David zu erreichen. Dessen Kinn zuckte, als er den entsprechenden Hebel an der Kamera betätigte.

„Gut! ... Sehr gut“, lobte Jim. „Ich sehe, du kannst es noch. Und diese Aufnahme steigert die Dramatik des Augenblicks, findest du nicht auch?“ Er zischte so leise, als würde er einen wertvollen Tipp preisgeben.

So, wo war ich stehengeblieben? Ach ja, der treue Mitarbeiter. Nun, allerdings hat dieser gute Mann nie eine öffentliche Wertschätzung für seine Arbeit und sein Engagement erfahren. Über all die Jahre hinweg nicht, kannst du dir das vorstellen, Dave? Und so blieb ihm leider überhaupt keine andere Wahl, als seinen Freund, den großen Regisseur, etwas drastisch daran zu erinnern, was eigentlich gute Sitte ist. Daran, dass man ehemalige Kollegen nicht einfach auf der Strecke lässt.

Wir haben beide als einfache Kameramänner begonnen, weißt du noch, Dave? Eine Zeit lang hatten wir beide kaum was zu fressen, aber dafür Träume und exzellente Ideen. Nur hattest du die besseren Kontakte. Wäre es da nicht fair gewesen, mir auch das eine oder andere Projekt zuzuspielen? Zumindest nach einigen Jahren, als du dich fest etabliert hattest? Nein?“

Jim atmet tief durch. „Nun, spätestens jetzt wird die Welt erfahren, dass ich stets der brillante Kopf hinter deinen Werken war. Denn auch wenn den treuen Assistenten niemand auf diesem scheiß Roten Teppich bemerkt hat, war er gestern Abend mit dabei, nicht wahr? Also konnte er unmöglich in diese dubiose Entführung verwickelt sein. Er saß unter all den anderen Gästen im Kinosaal und sah sich den Film an, dessen Dreharbeiten er selbst von der ersten bis zur letzten Sekunde betreut hatte. Ein weiteres Lebenswerk, für das ein anderer – wie immer der selbstsüchtige Regisseur – ausgezeichnet und gelobt werden würde.“

Emilys Dad hielt die Kamera mit bebenden Händen. Fassungslos spähte er hinter dem großen Gerät auf seinen Schultern hervor.

Jim schien das Entsetzen, das in Davids Augen stand, nur noch weiter anzuheizen. „Nun, Dave, das Filmgeschäft ist Trug und Schein, wie du vielleicht weißt“, sagte er schulterzuckend. „Nichts ist so, wie es wirkt, richtig? Und fairerweise gehen die begehrtesten Awards immer an den, der die Illusion am realistischsten gestaltet. Also war ich durchaus erfolgreich, oder nicht? Schließlich seid ihr meiner Inszenierung von A bis Z auf den Leim gegangen. Und du hältst den Showdown meines Meisterwerks gerade höchstpersönlich fest, als mein Kameramann.“ Er brach in schallendes Gelächter aus, das den Irrsinn, der seinen vorangegangenen Monolog beherrscht hatte, nur noch verdeutlichte.

Emily erschrak durch das laute Geräusch unmittelbar hinter ihrem Ohr und wandte in einer Art Reflex ihren Kopf ab. Sofort war die Pistole wieder an ihrer Schläfe und drückte ihn grob zurück in seine Ausgangsposition. Nur für die Länge eines Wimpernschlages hatte Emily über ihre und Jims Schulter nach hinten weggeblickt, auf die provisorische Wand aufeinandergestapelter Holzkisten.

Und in diesem winzigen Moment wünschte ich mir nichts mehr, als diese Wand selbst, mit eigenen Augen, fixieren zu können, um mich unbemerkt hinter sie beamen zu können.

Ein leiser Windzug, der Bruchteil einer Sekunde ... schon stand ich genau dort, wo ich mich hin gewünscht hatte: in einer Ecke der Halle, nur wenige Meter von dem liebenswertesten Schützling entfernt, den die Welt jemals gesehen hatte. Allerdings erschreckte mich diese unerwartete Wendung, die mein Erscheinen darstellte, selbst so sehr, dass ich mich unwillkürlich hinkauerte und meine Knie mit beiden Armen fest umschloss. Michael, wie ...?

„Was, Noah? Du konntest sicherstellen, dass dich niemand sieht, oder?“, triumphierte mein Erzengel. Sein sorgloser Ton stand im absoluten Gegensatz zu dem, was ich mit jeder Zelle meines Alibi-Körpers empfand: Anspannung, Schock, Emilys Panik ... und meine eigene.

Deine Flügel, wenn du so willst, funktionieren auch über die Augen deines Schützlings, ja“, erklärte Michael.

Nun, diese Information wäre auch früher schon durchaus brauchbar gewesen, aber ...

Später!!!

„Genau!“, stimmte er zu.

Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis ich den Schock verwunden hatte, mich endlich vorsichtig aufrichtete und leise an die Holzkistenwand heranschlich. Niemand konnte mich hier sehen, niemand ahnte, dass ich hier hinten steckte. Wie auch, wenn es nur den einen Eingang am entgegengesetzten Ende der Halle gab. Dort, wo Jim alles unter Kontrolle hatte. Es gab keine Hintertür, und die hochgelegenen Fenster waren viel zu klein, als dass man sie für einen Übergriff hätte nutzen können. Jims Leute hatten die Feuerleitern abmontiert, vermutlich um zu vermeiden, dass Schützen auf das Dach gelangten.

Nein, es bestand kein Zweifel: Jims Fokus war nach vorne ausgerichtet, von hinten drohte ihm keine Gefahr – davon war er überzeugt. Und er hatte dieses Ding schließlich akribisch geplant.

Die einzige Überraschung konnte ich ihm bescheren.

Nur ich.

Denn mich sah hier, hinter dieser provisorischen Wand, niemand. Weder er, noch die Cops. Ich fand eine schmale Spalte zwischen den Kisten, durch die ich die Situation weiter beobachten konnte. Es war gut, nicht mehr an Emilys Gedanken gebunden zu sein. So hilfreich die auch gewesen sein mochten, auf diese Art fühlte ich mich wesentlich freier. Besonders, weil sie es zurzeit nicht war. Ganz und gar nicht.

Jim unterbreitete seinem unfreiwilligen Publikum derweil weiter seine Inszenierung, die wie der Auszug eines skurrilen Märchens klang:

„Jedenfalls fragte sich der Assistent des großen Regisseurs eines Tages, wie er es schaffen könnte, endlich aus dessen Schatten zu treten. Einfach, um der Welt zu beweisen, dass mehr in ihm steckte. Und da kam ihm dieser eine Gedanke, wie eine Erleuchtung: Die größten Künstler sind doch immer die, die nicht mehr unter uns weilen, ist es nicht so? Also, David, pass gut auf und verwackle diese Aufnahme nicht. ... Vielleicht zoomst du auf meinen Mund.“

Das war kein simpler Vorschlag, sondern ein getarnter Befehl. Und so wartete Jim, bis Emilys Dad reagiert hatte. Die Cops, die links und rechts von David standen, warfen sich derweil einen schnellen aber sehr aufschlussreichen Blick zu, der mir nicht verborgen blieb. Sie hatten keine Macht gegen diesen Mann. Was er plante, zeichnete sich auch für sie immer deutlicher ab und brachte alle Pläne der angerückten Einheit zum Schwanken. Was konnten sie gegen die Logik eines Wahnsinnigen ausrichten?

„Alles gut?“, wisperte Jim. „Stimmt die Aufnahme? Los, Dave, komm schon, gib mir das Zeichen.“

Emilys Dad, der mit Sicherheit vor Angst kaum noch stehen konnte, dem in dieser Situation aber nichts anderes übrig blieb, als sich auf die Professionalität der hinter ihm stehenden Cops zu verlassen, hob in einer zittrigen Bewegung seinen Daumen.

Ich wählte den Moment, um in die Hocke zu gehen und – ohne bewusst darüber nachzudenken – eine am Boden liegende Eisenstange zu ergreifen. Erst, als ich sie völlig lautlos anhob und fest umklammerte, fiel mir wieder ein, sie bei meinem Erscheinen dort unten liegen gesehen zu haben.

„Noah, Noah!“, schrie Emily panisch in ihren Gedanken. Sie litt Todesängste, weinte nun wieder stärker, zitterte am ganzen Leib und schluchzte dabei so laut, wie es ihre schwindende Beherrschung einforderte. Die Anspannung, die in diesen Sekunden in der Halle herrschte, war zum Schneiden dick.

Unter Emilys Verzweiflung spürte ich den dumpfen Schmerz, als Jim ihr den Lauf seiner bereits entsicherten Pistole viel fester als zuvor gegen die Schläfe presste. Im selben Augenblick stellte ich mir vor, wie David ihn auf dem Display der Kamera nun vor sich sah: Nur seinen breiten Mund, der sich zu einem triumphalen Grinsen verzog.

„Ihr seid machtlos“, erklärte Jim nahezu genießerisch. „Nicht nur, dass mir das Leben deiner Kleinen egal ist, Dave. Mein eigenes ist es auch. Dies ist der letzte Auftritt meines Lebens und – traurig genug – der einzig entscheidende. Der, für den man mich in Erinnerung behalten wird. Meine eigene Premiere, mein Roter Teppich, mein Filmfestspiel, mein großer Abgang. Und dir, werter David, großer Regisseur ...“ Er dehnte diese Worte ins Unerträgliche, „... bleibt nichts anderes übrig als zu filmen, wie ich zuerst deine Tochter und dann mich selbst abknalle. Als Lohn und Dank für die gute Zusammenarbeit, wenn du es so willst.“

Im folgenden Augenblick geschahen drei Dinge auf einmal.

„Peng!“, machte Jim – vermutlich zur Steigerung der Dramatik, wie er Minuten zuvor noch erklärt hatte – und verzog den Lauf der Pistole, als würde er tatsächlich abdrücken, für einen winzigen Augenblick gen Decke.

„Neiiin!!!“, schrie David und ließ die riesige Kamera fallen. Der Knall des Aufpralls schallte durch die Weite der Halle.

Und ich? Ich erhielt einen eindeutigen, unverkennbaren Impuls, der mich endlich handeln ließ. Schlagartig wusste ich, was Michael damit gemeint hatte, dass ich bereit wäre, wenn es soweit war, denn es gab keinen Zweifel in mir: Das war der Moment. Der einzig richtige, der allesentscheidende!

In dem Augenblick, in dem Jim den Lauf seiner Waffe verzog, stieß ich mit meiner linken Hand gegen die aufgetürmten Holzkisten vor mir und schrie aus vollem Halse: „Em, duck dich!

Eine Anweisung, die sie – dem Himmel sei Dank – so prompt befolgte, dass sie wie ein Schweizer Taschenmesser über Jims Arm zusammenklappte. Im selben Moment schleuderte ich mit meiner Rechten und einer Kraft, von der ich bezweifelte, dass sie mir allein entstammte, die Eisenstange nach Jim.

Die nächsten Sekunden erlebte ich in meinem ganz eigenen Film – sie spielten sich tatsächlich wie in Zeitlupe vor mir ab.

Jim schaffte es kaum, mir sein Gesicht mit den schockgeweiteten Augen zuzuwenden, bis ihn die Stange punktgenau zwischen den Brauen traf und ihm eine große, klaffende Platzwunde verpasste. Er feuerte einen Schuss ab, der bröckligen Beton von der Decke regnen ließ, dann noch einen, der eine der kleinen Fensterscheiben durchschoss. Emily entglitt derweil seinem Halt und ging vor seinen Füßen zu Boden.

Schon hagelten etliche Schüsse auf Jim ein, die ihm seinen großen, von langer Hand geplanten Abgang gehörig versauten.

Blut spritzte. Jim fiel – steif wie ein Brett – nach hinten, nahm mit ausgestrecktem Arm die Waffe mit sich und sah mich an. Mich, der ich all seine Pläne in allerletzter Sekunde durchkreuzt und zerstört hatte. Hinter den Kisten, die nun kreuz und quer vor mir verteilt lagen, stand ich schutzlos da und beobachtete seinen Sturz, seinen Niedergang.

Nun, zumindest ließ es sich Jim in diesen letzten Sekunden seines Lebens nicht nehmen, den Pakt, den Michael mir vor so langer Zeit unterbreitet hatte – und den ich nie so wenig gewollt hatte wie in diesem Moment – zu besiegeln.

Er zog ab, ein letztes Mal. Planmäßig nahm ich die Position meines Schützlings ein ... und starb an Emilys Stelle.

Der Schuss löste sich und traf meine linke Seite, beinahe punktgenau.

Scharfer Schmerz durchfuhr mich, ich wurde kraftvoll nach hinten geschleudert und brach mit einem erstickten Stöhnen auf dem hölzernen Schlaflager von Jims Komplizen zusammen.

Mein Körper war schwer verwundet, ich konnte kaum noch atmen, aber meine Gedanken blieben klar – und waren so erleichtert, so dankerfüllt, wie nie zuvor.

Em lebt. Ich bin nicht gescheitert. Ich habe sie gerettet.

„Das hast du, Noah. Das hast du“, flüsterte Michael voller Stolz.

Ich starrte an das Loch in der unverputzten Decke, das Jim nur Sekunden zuvor dort hineingeschossen hatte. Noch immer rieselte feiner Beton daraus herab.

Für einen Augenblick war es vollkommen still. Dann ertönte ein schrecklicher, markerschütternder Schrei.

„Meine Hände! Schnell, schnell! ... Dad, meine Hände!“, rief Em. Ich bezweifelte, dass es tatsächlich David war, aber irgendjemand reagierte. Viel deutlicher als die Stimme des besorgt dreinblickenden Cops, der sich über mich beugte und nach meiner Halsschlagader tastete, oder die seines Kollegen, der per Funk den Notarzt verständigte, hörte ich – dort, wo nach wie vor mein Fokus lag – ein Schnappen, gefolgt von einem reißenden Geräusch. Jemand durchtrennte das Klebeband um Ems Handgelenke.

Sie ist frei. Sie lebt.

Nur wenige Sekunden später schob sich ihr tränenüberströmtes Gesicht vor das des Cops. Einige purpurrote Spritzer hatten ihre Haut besprenkelt und ließen meine seligen Gesichtszüge entgleisen – bevor ich begriff, dass es Jims Blut war, nicht ihr eigenes.

Ihr ist nichts geschehen.

„Nein, Noah! Du hast deine Aufgabe blendend erledigt. Du hast sie gerettet.“

Ich lächelte unter Michaels Worten und Ems Berührung.

Sie strich mir die Haare aus der Stirn und küsste meine plötzlich sehr trockenen Lippen. „Noah! Wo um alles in der Welt kommst du her?“, rief sie panisch und betastete mit zitternden Fingern meine verletzte Seite. Seltsamerweise verspürte ich keinen Schmerz mehr und fragte mich, ob es nicht eigentlich wehtun müsste. Der Horror, der sich in Emilys Augen widerspiegelte als sie an mir herabblickte, zeigte mir, dass es eigentlich hätte wehtun müssen.

Kein Schmerz ... kein gutes Zeichen, oder?

Michael enthielt sich einer Antwort.

Alles klar!

„Sieh mich an! Noah, bitte, sieh mich an!“, flehte Em und drückte mich in aller Vehemenz zurück, als ich Anstalten machte meinen bleischweren Kopf anzuheben und die Verletzung selbst zu begutachten.

Nein, definitiv kein gutes Zeichen.

Sie umschloss mein Gesicht mit ihren Händen, zitterte dabei so sehr. Sogar ihre Augen blickten wirr hin und her, die wunden Lippen vibrierten. Sie hatte noch längst nicht begriffen, geschweige denn verarbeitet, was hier gerade geschehen war.

Wie auch?

Ich lächelte noch immer – zumindest glaubte ich, es zu tun. Sicher war ich mir nicht. Ich wusste nur, dass Em nie schöner gewesen war als in diesem Moment. Trotz ihrer Tränen, ihres Schocks und des Kummers hatte ich sie nie mit ungetrübteren Gefühlen betrachtet. Sie lebte, die Gefahr war bewältigt und überstanden. Das Loch in der Decke, hoch über unseren Köpfen, war der Beweis, dass Jim sie verfehlt hatte. Dass ich zumindest ein Mal, ein entscheidendes Mal, gut für sie gewesen war.

Dann fiel mir wieder ein, dass es um mich nicht gar so rosig stand und ihr Anblick der vermutlich letzte war, den mir diese Welt zu bieten hatte.

Der Gedanke wischte das Lächeln – sollte es jemals erschienen sein – zuverlässig aus meinem Gesicht.

„Ich liebe dich“, ließ ich sie wissen und fuhr mit einem zittrigen Finger über ihre geschundenen Lippen. „Es tut mir so leid.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht, Noah! Bitte, geh nicht“, wisperte sie mit tränenerstickter Stimme.

Kaum waren diese Worte über ihren Mund geschlüpft, spürte ich etwas, das mich für Sekunden aus der Bahn warf und mich zutiefst verwirrte: Mein Herzschlag änderte sich. Das ewig gleichmäßige, starke Pochen in meiner Brust wurde langsamer ... und langsamer ... und langsamer ...

Müdigkeit packte mich, ließ mich immer öfter und länger blinzeln und entzog mir den Boden unter meinem schweren Körper. Schließlich kam ich nicht länger gegen den Sog an und ergab mich ihm, wenn auch widerwillig. Ems süßes Gesicht verschwamm vor meinen Augen, ihre sanften Worte und der unverwechselbare Duft ihrer Haut rückten weit in den Hintergrund. Und dann ... versank ich in tiefem Schwarz.

Ja, Schwarz.

Kein Dunkelbraun, kein Mokka, kein nächtlicher Sepia-Ton. Kein Licht, das mich empfing. Nichts.

Nur mächtiges, unergründliches Schwarz.