X.
Wie betäubt stieg ich die breite Treppe empor und ging über den Korridor – den Blick starr auf Noahs Zimmertür geheftet.
Er wollte sich umbringen, nicht mehr leben. ...
Ein Jahr nach Adrians Unfall. ... Eine kurze Kopfrechnung (das bekam selbst ich noch hin) löste die Frage nach Noahs damaligem Alter.
Dreizehn. Ein dreizehnjähriger Junge.
Wie konnte man in diesem Alter schon so verzweifelt sein?
Der lange Gang, über den ich in diesen Sekunden lief, erschien mir plötzlich sehr metaphorisch zu sein. Es war mir, als müsste ich eine Entscheidung treffen. Jetzt, hier.
Bog ich ab und holte unbemerkt meine Sachen aus Lucys Zimmer, bevor ich verschwand, oder ging ich bis zum Ende des Korridors und klopfte an seine Tür, um mich von Noah zu verabschieden.
Ehe ich es überhaupt bemerkte, stand ich vor seinem Zimmer.
Und als hätte er meine Anwesenheit gespürt, öffnete er genau in diesem Moment die Tür und stand unmittelbar vor mir. Im Gegensatz zu mir wirkte er nicht einmal erstaunt.
„Hi!“, krächzte ich und strich behutsam mit einem Finger über seinen Handrücken. Noah schreckte nicht zurück, nur seine Augen verengten sich unter der Berührung. „Was ist los? Du ... bist aufgebracht.“
Oh Gott, sah man mir das an?
„Ich, ähm ...“ Unwirsch strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und bündelte sie im Nacken zu einem Zopf. Er hielt meinen Blick, auch als ich ihm meine Finger entzog und sich seine Hände wie von selbst in seine Hosentaschen schoben. „Ich muss jetzt gehen“, flüsterte ich.
„Hm.“
„Also dann, wir sehen uns in der Schule.“
Er nickte. „Ja, bis dann.“
Warum, Noah? Warum wolltest du nicht mehr leben?
Das Bedürfnis, ihn zur Rede stellen zu wollen, war übermächtig, doch ich widerstand und wandte mich nach einem letzten Lächeln ab.
„Es ...“ Bei dem sanften Klang seiner Stimme wirbelte mein Kopf erneut herum. „... war schön mit dir.“
Ich glaubte zu lächeln. „Ja, ich fand es auch sehr schön mit dir. Das wird ein langer Tag.“
Seine Augenbrauen zogen sich ein wenig tiefer zusammen.
„Bis morgen, in der Schule“, verdeutlichte ich.
„Übermorgen“, korrigierte er.
Ich brauchte einen Moment, dann erinnerte ich mich. „Richtig, ich muss zuerst deine Suspendierung aus dem Weg räumen. Also, bis Dienstag.“ Gott, zwei Tage.
Er schmunzelte. „Dienstag.“
Und damit wandte ich mich endgültig ab, lief die Treppe hinunter und verabschiedete mich von Adrian, der gerade aus der Küche kam.
Er ließ es sich nicht nehmen, mich nach draußen zu begleiten, wo ich Kathy fragte, ob ich sie mitnehmen sollte. Sie verneinte, da Lucy ihr bereits angeboten hatte, sie später nach Hause zu fahren.
Also verabschiedete ich mich auch von den beiden.
Auf dem Weg zu meinem Auto spürte ich etwas, ... ein seltsames Kribbeln in meinem Nacken. Und als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass Noah auf dem Fenstersims in seinem Zimmer gesessen haben musste. Gerade nahm ich noch wahr, wie er sich erhob und mit einer ausladenden Handbewegung abwandte. Schade, dass er meinen Blick nicht bemerkt hatte; zu gerne hätte ich ihm noch einmal zugewinkt.
Gedankenverloren brachte ich die letzten Meter zu meinem einsamen Mini hinter mich. Erst als ich auf meinen Oberschenkel klopfte, wo sonst – in den Hosentaschen meiner Jeans – meine Autoschlüssel steckten, wurde mir wieder bewusst, dass ich noch immer Lucys Kleid trug.
Die Tüte mit meiner nassen Kleidung stand nach wie vor in ihrem Zimmer, neben meiner Handtasche, in der sich mein Autoschlüssel befand.
Adrian und die Mädchen waren in der Zwischenzeit in den hinteren Teil des Gartens gegangen. Da die Haustür noch angelehnt war, schlüpfte ich noch einmal schnell hinein und lief die Treppe empor.
Im oberen Korridor angekommen, blieb ich wie angewurzelt stehen. Noah.
Ich verstand nicht was er sagte, aber seine aufgebrachte Stimme drang gedämpft durch die verschlossene Tür seines Zimmers. Er tobte, offenbar außer sich vor Wut.
Moment, vor Wut? ... Was ...?
Auf Zehenspitzen schlich ich über den langen Gang. Noah schien zu telefonieren, denn seine Stimme blieb die einzige, die ich zu hören bekam, obwohl er eindeutig keinen Monolog führte. Aber die Fragen, die er stellte, blieben für meine Ohren unbeantwortet. Eigenartiges, blau-grünliches Licht fiel durch den Spalt unter der Tür auf den dunklen Parkettboden des Korridors, doch meine Gedanken waren zu sehr auf die gedämpften Geräusche konzentriert, als dass ich diesem seltsamen Schein größere Beachtung geschenkt hätte.
Eine Weile blieb es vollkommen still, dann hörte ich wieder einige Fetzen von dem, was Noah sagte ... und erstarrte in Fassungslosigkeit.
„Ich bitte dich, ausgerechnet Emily? ... Nein, das will ich nicht! ... Emily ist der letzte Mensch, dem ich so nah sein will. ...“
Das genügte. Das wilde Hämmern meines Herzens übertönte Noahs Stimme von der einen auf die andere Sekunde.
Dieser verdammte Heuchler!
Als hätte sich der Boden unter meinen Füßen aufgelöst, hing ich mit einem Mal über einem tiefen Loch – so fühlte es sich an.
Mit Tränen in den Augen wandte ich mich ab und stürmte in Lucys Zimmer, ergriff die Tüte mit meinen Anziehsachen sowie meine Handtasche und polterte die Treppe hinab. Ich riss die Haustür auf und hörte im selben Augenblick, dass auch im Obergeschoss eine Tür aufflog. Schon hallte Noahs Stimme durch die Villa: „Verdammt! Emily?“
Ich schmiss die schwere Tür hinter mir ins Schloss, rannte – so schnell mich meine zittrigen Beine und mein verletzter Knöchel trugen – zu meinem Auto, schloss es auf und startete den Wagen, ehe ich richtig saß. Sekunden später brauste ich die Einfahrt entlang und sah im Rückspiegel so gerade noch, wie Noah die Haustür aufriss, sich die ohnehin schon wirren Haare raufte und mir Dinge nachrief, die ich nicht mehr hörte.
Es war mir egal. Zumindest wollte ich, dass es mir egal war.
Seine jetzigen Worte mochte ich nicht verstehen, aber ich wusste genau, was ich zuvor gehört hatte. Und selbst wenn es eine Erklärung dafür gab, so wollte ich sie doch nicht hören. Nicht einmal Noah hätte einen Satz wie „Emily ist der letzte Mensch, dem ich so nah sein will“ entschärfen oder gar geraderücken können.
Aus stechenden Augen brachen meine Tränen los und rollten mir über die Wangen. Sie verschleierten meine Sicht, also versuchte ich, sie wegzuwischen, kam aber gegen den aufgestauten Strom nicht an. Schon zerfloss die Disneyland-Landschaft um mich herum zu bunten Flecken, die aussahen, als hätte ein Kleinkind mit Wasserfarben herumexperimentiert.
Vermutlich würde ich nie erfahren, ob der BMW-Fahrer den Unfall tatsächlich verschuldet hatte. Fakt war, dass vollkommen unvermittelt rot-verschwommene Lichter vor mir auftauchten, sich viel zu schnell näherten ... und einen lauten Knall mit sich brachten. Ich wurde ruckartig in meinen Anschnallgurt gepresst; ein harter Schlag traf mich.
Dunkelheit.
Für ein paar Sekunden (oder waren es Minuten?) gab ich mich der Überzeugung hin, gestorben zu sein. Die Annahme bewegte mich dazu, meine Augen weit aufzureißen, denn wenn ich schon starb, wollte ich wenigstens nichts davon verpassen.
Ja, das war der Himmel, ganz sicher.
Alles um mich herum war weiß und weich. Und es wurde immer weicher, weicher und weicher.
Dann öffnete sich eine Tür neben mir (Die Himmelspforte?), ein angenehm warmer Windstoß traf mich (Gut klimatisiert hier oben) und jemand riss unsanft an meinem Arm (Dass Petrus so ein Grobian war, hatten sie im Religionsunterricht mit keinem Wort erwähnt).
„Sind Sie in Ordnung? ... Miss? Geht es Ihnen gut? Sagen Sie doch etwas!“ Eine tiefe kratzige Stimme brüllte mir ins Ohr.
Endlich begann ich zu verstehen, wenn auch nur zögerlich. Das hier war nicht der Himmel, es war mein Airbag.
Oh nein, mein Mini!
Mein Gesicht lag bei dieser Erkenntnis noch immer in dem langsam erschlaffenden Weiß vergraben. Nur beiläufig nahm ich wahr, dass die aufgebrachte Stimme von zuvor in die Ferne rückte und durch eine andere, viel sanftere ersetzt wurde.
„Emily?“
Für einen Moment stellte ich meine Theorie erneut in Frage. Ein Engel? Er kannte schließlich meinen Namen. Und diese Stimme ...
War ich etwa doch im Himmel?
Eine Hand griff an meinem Rücken vorbei und löste geschickt den Anschnallgurt aus seiner Halterung. Dann, noch ehe ich mich rühren konnte, schob sich eine zweite Hand unter meinen Knien hindurch.
Nicht schon wieder!
Dieser Griff war mir seit gestern bestens bekannt. Zuvor hatte mich, zumindest seitdem ich das Kleinkind-Stadium hinter mir gelassen hatte, niemand mehr auf die Arme gehoben. Gestern direkt zweimal.
Das letzte Mal war es Noah gewesen, und ich fühlte mich noch nicht bereit, diese Erinnerung gegen eine neue auszutauschen. Ich wehrte mich dagegen, dass mich nun jemand anderes so tragen wollte.
„Nein, nein ...”, murmelte ich verzweifelt, doch es klang kraftlos – selbst in meinen eigenen Ohren.
„Schhhh, schon gut“, sagte die sanfte Stimme und ignorierte meinen Protest. Behutsam hob mich der Engel aus meinem Auto. Ob er wohl sehr zerquetscht aussah, mein armer kleiner Mini? Die Neugier trieb mich an, endlich meine Augen zu öffnen. Mühevoll blinzelte ich gegen grelles Hellblau an.
Also doch Himmel.
„Schon gut“, sagte die schöne Stimme erneut. Ich blinzelte heftiger, konnte ich es doch kaum erwarten, meinen ersten Engel zu sehen. Als sich seine Konturen gegen das gleißende Licht durchsetzten und zunehmend an Schärfe gewannen, traute ich meinen Augen kaum.
„Du bist ein Engel?“, fragte ich ungläubig.
Noahs Mundwinkel zuckten für einen kurzen Augenblick. Dann gewann die Sorge die Überhand und ließ ihn ernst auf mich herabblicken. „Ja, klar. Und du hast dir den Kopf viel stärker angeschlagen als ich dachte.“
Ich vergrub meine Nase in der Beuge zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Atmete tief seinen Duft ein. Er roch so gut. Alles andere rückte weit in den Hintergrund, wurde unwichtig.
Mein Mini, der Unfall, mein Knöchel, der plötzlich wieder schmerzte ... Das alles hatte Zeit. So viel Zeit.
Noah war hier und trug mich auf seinen Armen. Nur das zählte. „Emily, was mache ich nur mit dir?“, fragte er leise, dicht an meinem Ohr.
Ganz egal was, nur lass mich nicht los! Halt mich weiter, bitte!
Ich kuschelte mich schamlos an ihn, und Noah zögerte keine Sekunde, mich noch fester an seine starke Brust zu drücken. In diesem Moment löste sich jeglicher Zwiespalt auf. Ich war im Himmel, so oder so.
„Lass mich nicht los!”, japste ich.
„Werde ich nicht”, versprach Noah.
Irgendwo ließ er sich mit mir nieder und rieb mir über die Oberarme. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich am ganzen Leib zitterte. Aber, Moment mal, ... er zitterte auch. Ja, sicher!
Seine Beine – auf denen ich nun saß, denn er hatte mich in seinen Schoß gezogen – zitterten ebenso stark wie meine eigenen, und auch seine Finger vibrierten verräterisch auf meiner Haut. Was ...?
„Schon gut. Alles wird gut“, versicherte er mir immer wieder mit unglaublich schwacher Stimme. Je mehr ich zu mir kam, desto größer wurde meine Befürchtung, dass nicht ich, sondern Noah den Schock davongetragen hatte.
Ich hob den Kopf und sah ihn an. Seine Gesichtsfarbe hatte sich nicht verändert, auch wenn er eigentlich leichenblass hätte sein müssen, so geschockt, wie er aussah. Die Lippen trocken, die Augen umso glasiger, murmelte er die Worte wie ein Mantra. „Alles wird wieder gut ...“
„Noah, sieh mich an!“ Nichts.
„Noah, hörst du nicht? Sieh mich an! ... Mach schon!“ Nun, endlich, tat er es ... und schluckte hart.
„Mir geht es gut, okay? Es ist absolut nichts passiert”, versicherte ich ihm. Sein Blick wanderte zurück zu meinem armen Mini, dessen Front aussah wie die der Testautos, die man mit 200 Sachen frontal gegen Wände jagt. Hinter meinem winzigen Auto stand der Amarok. Gewaltig, unbeschädigt und in all seiner Pracht.
Schon ein schönes Auto, dachte ich, schüttelte den Gedanken jedoch sofort wieder aus meinem Kopf. Noahs geschockter Blick haftete weiterhin auf meinem halb zermalmten Zwerg. „Hm ... ja, gut”, lenkte ich ein. „Es ist etwas passiert. Aber das ist nur Blech. Mir ...“
Schnell suchte ich nach dem Fahrer des anderen Wagens, der wild gestikulierend vor seinem nur leicht beschädigten BMW stand und in sein Handy brüllte, „... und offensichtlich auch ihm, ist nichts passiert.“
Noah sah mich tief an. Er musterte mein Gesicht so eingehend, als würde er jeden Millimeter auf versteckte Blessuren hin abchecken. Abschließend traf sein Blick auf meine Augen. Als ich ihm störrisch standhielt, atmete er endlich tief durch. Wie in Zeitlupe streckte er seine Hand, die nun nicht mehr ganz so stark zitterte, nach mir aus und strich mit seinen Fingerspitzen sanft über eine der langen Haarsträhnen, die mir der Wind ins Gesicht geblasen hatte. Behutsam legte Noah sie hinter meine Schulter zurück, bevor er meinen Kopf zurück an seine Brust dirigierte. Mein Herz verhaspelte sich für einige Schläge und fand dann in einen schnelleren Rhythmus zurück.
„Ich dachte, dir wäre ...“
„Nein“, unterbrach ich ihn. „Alles ist gut.“ Ich spürte seinen Atem an meinem Kopf. Und dann, ich konnte es kaum fassen, fühlte ich seine Lippen zum ersten Mal, als er mir einen vorsichtigen Kuss auf die Haare drückte. „Dem Himmel sei Dank“, murmelte er.
Eine Weile blieb ich still sitzen, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Doch dann hielt ich es nicht länger aus. Ich wollte ihn anschauen und mich vergewissern, dass er wirklich hier war, dass er mich tatsächlich so in seinen Armen hielt. Und, als die Erinnerung an seine brüsken Worte zurückehrte, wollte ich ihn auch zur Rede stellen.
Noah erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln. „Was?“
„Wieso bist du eigentlich hier?“
Sofort wurde seine Miene ernst; er wandte seinen Blick ab. „Du hast mich gehört, nicht wahr?“
„Du antwortest mit einer Gegenfrage“, erwiderte ich.
„Das sind manchmal die besseren Antworten“, druckste er. „Hast du selbst gesagt.“
„So wird das nichts, Noah“, stellte ich kopfschüttelnd fest. „Warum bist du mir nachgefahren?“
„Weil nichts von dem, was du glaubst gehört zu haben, so ist, wie du es anscheinend aufgenommen hast. Du ... hast mir nicht die Chance gegeben, es dir zu erklären, also bin ich dir gefolgt.“
„Du hättest mich gehen lassen können“, erwiderte ich.
„Richtig, hätte ich.“ Noah hielt meinen kämpferischen Blick beinahe trotzig. Ich holte Luft, um ihn aufzufordern seine Erklärung jetzt sofort abzugeben, aber er raunte mir ein „Später!“ zu, ehe ich es tat.
Mit dem Kinn deutete er in Richtung des BMW-Fahrers, der sein Telefonat inzwischen beendet hatte und nun mit großen Schritten auf uns zukam. Im selben Moment löste Noah meine Umarmung und half mir mich aufzurichten. Steif setzte ich mich neben ihn und versuchte, das schmerzende Loch in meiner Brust zu ignorieren.
Vielleicht gibt es tatsächlich eine Erklärung, sagte ich mir.
„Ich erkläre es dir später“, wiederholte auch Noah, der meine Unruhe zu spüren schien.
„Sind Sie okay?“, fragte mich der BMW-Fahrer, der mittlerweile bei uns angekommen war. Seine Worte waren nur höflich, ernsthaft besorgt klang er nicht.
Ich nickte.
„Gut. Die Polizei wird gleich hier sein.“ Damit setzte er sich neben uns auf einen großen Felsbrocken am Straßenrand. Gemeinsam warteten wir in angespannter Stille, bis die Cops eintrafen. Erst dann wurde es unruhig, denn plötzlich erwachte der BMW–Fahrer zu neuem Leben, als er begann, mir die Schuld an dem Unfall zuzuschieben. Ich war so geschockt, dass ich zunächst gar nichts sagte. Dann fiel mein Blick auf den stämmigen Polizisten, der mit ausdrucksloser Miene aufschrieb, was mein Unfallgegner zu Protokoll gab. Seine zierliche Kollegin, die bereits unsere Papiere verlangt hatte, nahm derweil die Autos unter die Lupe und machte sich ihre eigenen Notizen.
Als der BMW-Fahrer seine Aussage beendet hatte, wandte sich der Polizist mir zu. „Geht es Ihnen gut, Miss? Sie sehen immer noch ziemlich blass aus.“
Ich musste lachen. „Das ist meine Hautfarbe, ich bin Britin.“
Er erwiderte mein Lachen und sah plötzlich gar nicht mehr so bullig und gefühlskalt aus. „Ach so? Na dann schießen Sie mal los, junge Dame. Waren Sie versehentlich auf Linksverkehr gepolt, oder was ist passiert?“
Tja, und da saß ich nun. Eine ehrliche Antwort hätte wohl in etwa so gelautet: „Ich bin gefahren, viel zu schnell übrigens, musste so stark heulen, dass ich absolut nichts mehr sehen konnte, und dann hat es plötzlich geknallt. Warum? Tja, keine Ahnung!“
Da ich diese Ehrlichkeit in meiner Situation für nicht unbedingt förderlich hielt, mir jedoch keine andere Antwort einfallen wollte, tat ich das Einzige, zu dem ich mich sonst noch in der Lage sah: Ich schwieg.
„Gar nichts?“, fragte der Polizist schließlich.
„Ich kann mich nicht richtig erinnern”, log ich.
Sein Blick wanderte zu seiner Kollegin, die gerade vor meinem Mini kniete. „Ja, Ihren Wagen hat es auch deutlich schwerer erwischt”, sagte er mit einem verständnisvollen Nicken.
„Wir sollten trotzdem eine Alkoholkontrolle vornehmen. Gehen Sie doch bitte zu meiner Kollegin, die testet Sie.“ Ich nickte und erhob mich. Mein Knöchel tat wieder ein wenig weh, aber ich ignorierte den Schmerz und lief tapfer auf die junge Polizistin zu. Jetzt erst fiel mir auf, wie wackelig sich meine Knie anfühlten. Der Schock saß scheinbar doch tiefer als vermutet.
„Vielleicht kann ich erzählen, was ich beobachtet habe”, hörte ich Noah hinter mir sagen. Sofort verlangsamte ich meinen Gang.
„Der Amarok gehört zu Ihnen?“, fragte der Polizist.
„Ja, genau. Ich war direkt hinter dem Mini.“
Ich verfluchte mich im Nachhinein noch dafür, dass mich die Tränen übermannt hatten. Hätte ich klar sehen können, wäre ich mit einem Blick in den Rückspiegel auf Noahs Gesicht gestoßen.
Okay, vermutlich hätte ich genau deshalb trotzdem einen Unfall gebaut.
Der Alkoholtest fiel natürlich negativ aus, Josés No sex on the beach sei Dank.
Die Polizistin war sehr nett. Sie fragte mich, ob ich nicht meine Eltern benachrichtigen wollte, doch ich schüttelte den Kopf und erwiderte, dass mich ein Freund nach Hause bringen würde.
Wer auch immer ihn angerufen hatte, in diesem Moment traf der Abschleppwagen ein, um meinen Mini mitzunehmen. Der BMW durfte weiterfahren, doch mein Auto war zu stark beschädigt. Der Fahrer des Abschleppwagens verfrachtete meinen Zwerg innerhalb von fünf Minuten und bat mich, ein Formular zu unterzeichnen. Er erklärte mir, zu welcher Werkstatt er mein Auto bringen würde und sagte, dort würde man erst einmal schauen, ob überhaupt noch etwas zu retten sei und dann sofort mit mir Kontakt aufnehmen. Dafür notierte er sich meine Handynummer, während der Polizist den Autoschlüssel aus meinem Bund löste. Kurz darauf fuhr der Abschleppwagen davon und ich blickte meinem Liebling wehmütig nach.
Noah erschien hinter mir und legte mir federleicht die Hand auf die Schulter. Der Polizist winkte den BMW-Fahrer, der schon wieder in seinem Wagen saß und telefonierte, heran. Als wir alle zusammenstanden, verkündeten die Cops ihre Entscheidung. Der BMW-Fahrer tobte vor Wut, als ihm per Protokoll die volle Schuld zugesprochen wurde, weil seine Beschreibung des Unfalls nicht zu den Beschädigungen an meinem Wagen passte. Noahs hingegen schon, daher glaubte man ihm.
Noah nahm meine Kopie des Protokolls an sich und verlor danach keine weitere Zeit. Schnell schob er mich vor sich her, an den Polizisten vorbei. Dann öffnete er die Beifahrertür seines Wagens, half mir beim Einsteigen und schnallte mich sogar an. Unvergleichlich süß und wie ein Gentleman. Ein Gentlemen, der allerdings hinter meinem Rücken nicht gerade nett über mich sprach.
Schweigend fuhren wir los und ließen den tobenden BMW-Fahrer und die gleichmütigen Cops am Straßenrand zurück. Noah beobachtete das Geschehen so lange er konnte im Rückspiegel.
„Wenn der sich weiter so aufspielt, bekommt er noch eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung obendrauf.“
„So schlimm?“, fragte ich matt.
„Na ja, er sieht aus wie Rumpelstilzchen”, befand Noah und entlockte mir damit ein mildes Lächeln, dessen Kraftlosigkeit seinem kritischen Blick nicht verborgen blieb.
„Gehtʼs dir wirklich gut?“
„Ich bin nur müde.“
„Hm, kein Wunder”, brummte Noah. „Ich hätte dich früher zu Bett gehen lassen sollen. Dann wäre der Unfall vielleicht gar nicht erst passiert.“
Moment mal, gab er sich die Schuld?
Noch ehe ich protestieren konnte, wandte er sich mir zu. „Sag mir, wo ich langfahren muss!“
Das kam gerade noch rechtzeitig, denn die Kreuzung, an der wir links abbiegen mussten, befand sich unmittelbar vor uns. Noah trat kräftig auf die Bremse, um die Kurve noch zu kriegen. Die Tatsache, dass er dabei seinen Arm ausstreckte und mich in meinem Sitz festhielt, erfüllte mein Herz mit einem unbekannten warmen Gefühl.
Richtig, Noah wusste ja nicht, wo ich wohnte. Komisch, schoss es mir durch den Kopf. Wir waren uns wirklich erst vor sechs Tagen begegnet. In diesem Moment kam es mir so vor, als würden wir uns schon ewig kennen. „ʼTschuldigung“, sagte ich mit dünner Stimme, doch er ging nicht darauf ein. Mit starrem Blick sah er auf die Fahrbahn. Ich spürte, dass seine Gedanken woanders waren.
Die Stille nährte die Anspannung. Sie wuchs und wuchs, breitete sich unaufhaltsam aus und wurde schließlich so dick, dass man sie wohl mit einem Messer hätte schneiden können. Endlich unterbrach Noahs sanfte Stimme unser Schweigen. „Warum bist du vorhin einfach so gefahren?“
So eine bescheuerte Frage. „Emily ist der letzte Mensch, dem ich so nah sein will“, ächzte eine ketzerische Stimme in mir.
„Die nächste rechts”, sagte ich stattdessen und zeigte auf das mit Abstand größte Haus am Ende der breiten Straße, in die er eingebogen war. „Da hinten.“
Noah nickte kaum wahrnehmbar und fuhr langsam durch das schmiedeeiserne Flügeltor, das ich per Knopfdruck auf meinen Sender geöffnet hatte. „Nett”, sagte er und sah sich neugierig um.
Ich rümpfte die Nase. „Wenn du es sagst.“
Erneut brach Stille über uns ein. Das Auto meines Vaters war nicht da, ebenso wenig wie Jasons Motorrad. Ich atmete erleichtert durch. Die Tatsache, dass ich allein zu Hause war, bedeutete für mich in diesem Moment nichts anderes, als vorerst von nervigen Fragen verschont zu bleiben.
„Kommst du noch mit rein?“, hörte ich mich fragen, aber Noah schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“ Die Enttäuschung, die meiner Frage anhaftete, hallte überdeutlich in meinen Ohren nach. Erbärmlich.
Noah sah mich sekundenlang an. Ausdruckslos, ohne mir zu antworten. „Warum bist du einfach gefahren, Emily?“
Mist! Schnell ließ ich den Blick in meinen Schoß sinken. Mein Körper verkrampfte sich unter seinen unnachgiebigen Augen.
„Was hast du erwartet – nach dem, was ich gehört habe?“
„Was hast du gehört?“
Ich atmete tief durch. „Du hast gesagt, ich wäre der letzte Mensch auf der Welt, dem du nah sein willst.“
„Oh!“
„Ja, oh!“ Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass er den Kopf schüttelte.
„Was?“, fragte ich.
„Es stimmt. Du bist der letzte Mensch, dem ich so nah sein möchte. Du bist die Letzte, die ich mit ... mit meinem ganzen Scheiß vergraulen möchte. Du bist die Letzte, der ich nah sein möchte, weil ... weil ich dich wirklich sehr mag, Emily.“
Fassungslos hörte ich seine Worte. Sie ergaben keinen Sinn – oder doch? „Aber du warst so wütend“, sagte ich mit bleischwerer Zunge. „Ich habe dich gehört. Du hast geschrien, und es klang, als würdest du in deinem Zimmer randalieren.“
Er stieß sein bitteres Lachen aus. „Siehst du, noch ein Grund, warum du dich von mir fernhalten solltest. Mein verdammter Jähzorn.“
„Warum warst du denn so wütend?“, fragte ich vorsichtig.
Er zögerte, aber nachdem sich sein Mund einige Male stumm geöffnet und wieder geschlossen hatte, sprach er endlich: „Weil es keinen Ausweg gibt. Ich ... muss dich weiterhin sehen.“
Ich schluckte. An seiner romantischen Ader mussten wir noch feilen, so viel stand mal fest. „Du musst, oder du willst?“
Noah senkte den Blick auf seine Hände. „Beides“, flüsterte er.
Schon besser!
Ich atmete erleichtert auf. „Gut, dann sind wir schon zu zweit.“
Und dann, warum auch immer, schlüpfte etwas über meine Lippen, das ich mir geschworen hatte, ihm nicht zu erzählen. Zumindest noch nicht.
„Ich habe mit Adrian gesprochen.“
Noahs Kopf schoss hoch, das Türkis seiner Augen funkelte beunruhigt. „Was hat er gesagt?“
Ich schwieg. Anscheinend zu lange, denn plötzlich beobachtete ich, wie sich Noahs Blick verhärtete und seine Finger, die kurz zuvor noch ruhig das Lenkrad umfasst hatten, Fäuste formten. Schon boxte er mit voller Wucht vor das Armaturenbrett.
„Verdammt!“, schrie er. „Ich hasse ihn!“
Nicht nur seine harten Worte, sondern besonders diese unerwartete Heftigkeit und Lautstärke, ließen mich zusammenschrecken. Noah störte sich nicht an meiner Reaktion, er tobte wild vor sich hin. Mein Blick wanderte zu seiner rechten Hand, mit der er den armen Amarok misshandelt hatte. Die fast schon verheilten Schürfwunden an seinen Fingerknöcheln waren erneut aufgesprungen, das Blut rann in dünnen purpurroten Bächen über seinen Handrücken. Noah schien nichts davon zu spüren.
„Kann er sich nicht um seinen eigenen Mist kümmern? Was mischt er sich ein? Verflucht noch mal, warum lässt er mich nicht endlich in Ruhe?“
Die anschuldigenden Fragen und Beschimpfungen brachen sehr lange nicht ab. Doch dann, ganz plötzlich ...
Stille.
Dem heftigen Sturm folgte absolute Ruhe. Nur Noahs leicht zittriger Atem ließ noch auf seinen Zorn schließen.
„Er sorgt sich um dich”, flüsterte ich und versuchte dabei, nach seiner verletzten Hand zu greifen. Er entzog sie mir, bevor ich sie richtig zu fassen bekam, und schlug bei der heftigen, ruckartigen Bewegung mit dem Kopf gegen sein Seitenfenster.
„Das kann er seinlassen, ich brauche ihn nicht”, blaffte er. Plötzlich war er wieder der Junge vom ersten Schultag. Der, den ich zwar faszinierend, aber ebenso unausstehlich gefunden hatte. „Hast du einen Schlüssel?“, fragte er.
„Ja.“
„Also, ... bis dann.“ Seine Stimme war eiskalt.
Wo war mein Engel abgeblieben? Ich überlegte, was ich sagen könnte, um die Anspannung von ihm zu nehmen, aber mir wollte einfach nichts einfallen. Also schnallte ich mich los und öffnete die Tür. „Bis dann, Noah! Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast. Und für ... sonst alles.“
Er blieb stumm, den Blick weiterhin starr auf seine Hände gerichtet, sodass ich sein schönes Gesicht nur im Profil sehen konnte.
Kaum hatte ich die Tür zugeworfen, trat er das Gaspedal durch und brauste, wie am ersten Schultag, mit quietschenden Reifen davon.
Im letzten Moment noch sah ich, dass er sich über die Augen wischte. Tränen?