XXI.

 

Pünktlich um elf hielt der Amarok vor unserem Haus.

Jason und mein Dad schliefen noch; mein Vater war erst im Morgengrauen nach Hause gekommen. Die Endphase einer Filmproduktion war immer die, die ihn am meisten schlauchte, die am zeitaufwendigsten und nervenaufreibendsten für ihn war. In diesen Wochen war er meistens kaum er selbst.

Ich öffnete das schmiedeeiserne Tor per Knopfdruck und sprang nach draußen, während das in der Sonne glänzende silberne Auto unsere Einfahrt emporfuhr.

Noah sah unglaublich gut aus. Er trug eine Sonnenbrille, ein hautenges schwarzes T-Shirt und eine seiner verwaschenen Jeans. Seine Haare – vom Duschen noch leicht feucht – standen nicht ganz so widerspenstig wie sonst von seinem Kopf ab. Er sah wirklich aus wie ein Model, und ich erbebte vor Stolz, als mir klar wurde, dass dieser Junge tatsächlich mein Freund war.

Als er ausstieg und ich auf ihn zustürmte, hob er die Sonnenbrille an und gab seine strahlenden Augen preis.

„Guten Morgen!“, rief ich bereits aus einigen Metern Entfernung und ließ mich förmlich in seine Arme fallen.

Lachend fing er mich auf. Für einen winzigen Augenblick – viel zu kurz – streiften seine Lippen die meinen. „War die Nacht nicht zu kurz?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Kann es kaum erwarten, dein Zimmer endlich zu streichen.“

„Vorher wirst du noch ausgiebig frühstücken müssen“, warnte mich Noah, während wir einstiegen.

„Frühstücken? Jetzt noch?“, fragte ich erstaunt.

„Wir sind Langschläfer. Also, zumindest die anderen. Am Wochenende gibt es nie vor elf oder halb zwölf Frühstück“, erklärte er beinahe entschuldigend. „Und heute waren sich alle geschlossen einig, auf dich zu warten.“

 

Lucy und Marie deckten gerade den Tisch, Joe wendete die Eier in der Pfanne. Adrian war noch nicht einmal unten.

Alle begrüßten mich herzlich. Es gab keine Möglichkeit, sich im Kreise der Franklins nicht wohl zu fühlen. Dass sie Noahs Schale nicht schon eher geknackt hatten, zeigte in meinen Augen nur, wie tief diese Monster ihn zuvor verletzt hatten.

Das Grinsen, das Adrian uns bei seinem Eintreffen schenkte, war so breit und zufrieden, dass ich mich fragte, worin genau seine persönliche Befriedigung lag. Dass Noah und ich nun offiziell ein Paar waren, schien ihn auf besondere Weise zu freuen.

Marie war neugierig ... und dachte nicht im Traum daran, einen Hehl daraus zu machen. Sie wollte wissen, für welche Farben wir uns entschieden hatten und wie Noah sich sein Zimmer vorstellte, aber der rückte nicht so recht mit der Sprache heraus.

„Du bist die Erste, der ich es zeige“, versprach er lediglich.

Marie grinste ihn an. „Natürlisch bin isch die Erste. Alle anderen machen ja auch mit.“ Die kessen Worte klangen kein bisschen vorwurfsvoll.

Nach dem Frühstück räumten wir den Tisch ab und gingen gemeinsam nach oben. Ganz langsam stiegen wir die breite Treppe hinauf – neben Adrian, der mit seinem Lift hochfuhr. Nur Lucy eilte an uns vorbei und verschwand in ihrem Zimmer.

„Ich werde keine allzu große Hilfe sein“, gab Adrian zu bedenken.

„Du musst überhaupt nicht helfen. Wir können einfach ... zusammen abhängen“, antwortete Noah mit einem Seitenblick auf mich, den nur ich verstand.

„Abhängen, hm?“, antwortete Adrian erstaunt. „Klingt eigentlich nicht schlecht.“

Ist nicht schlecht“, bestätigte Noah.

Ich drückte seine Hand.

Oben angekommen, gesellte sich Lucy erneut zu uns. Sie trug nun einen übergroßen Maler-Overall und hüpfte aufgeregt über den Korridor, bis zu Noahs Zimmer.

Die Eimer mit der Farbe standen bereit, ebenso wie die Pinsel und Rollen. Jeder schnappte sich ein Arbeitsgerät. Ich war für die Feinarbeiten an der Zimmerdecke und den Türzargen zuständig.

Noah und Lucy strichen mit den großen Rollen – Noah oben, Lucy unten. Adrian pinselte um die Lichtschalter und Steckdosen herum und legte von Zeit zu Zeit neue Musik auf. Wir arbeiteten ruhig und in einer spürbar harmonischen Atmosphäre. Nur Lucy brabbelte vor sich hin, ohne jeden Anspruch auf Reaktion. Wenn Stille entstand, war sie zwanglos und unbeschwert.

„Ich wette, Mom und Dad würden nur allzu gerne ihre Videokamera zücken“, mutmaßte Lucy nach einem dieser stillen Momente.

„Hm?“, machten Noah und Adrian wie aus einem Mund.

„Na, das ist das allererste Mal, dass wir drei etwas gemeinsam machen.“

Adrian nickte nachdenklich.

„Freiwillig zumindest“, ergänzte Noah. Was wahrscheinlich nicht als Scherz gemeint war, rutschte so trocken und platt über seine Lippen, dass wir anderen geschlossen losprusteten.

Als die Wände seines Zimmers bereits in einem perfekten Cremeton erstrahlten und wir eine ausgiebige Trinkpause eingelegt hatten, verrührte Noah die dunkelblaue Farbe gründlich und erklärte, welche Akzente er setzen wollte. Nur wenige Stunden später standen wir in seinem fertig gestrichenen Raum.

Zufrieden verließ Lucy Noahs Zimmer und verkündete, eine Dusche zu nehmen. „Morgen früh sehen wir, ob noch irgendwo Flecken sind. Bis dahin müsste alles getrocknet sein“, erklärte sie fachmännisch.

Adrian gab vor, sein Referat für Geschichte fertigstellen zu wollen, um für den Rest des Wochenendes einen freien Kopf zu haben.

Kaum hatten die Zwillinge sein Zimmer verlassen, schloss Noah von hinten seine Arme um meine Taille und zog mich an sich.

„Es sieht toll aus“, befand ich zufrieden und lehnte mich gegen seine Brust.

Er drehte mich um und strahlte auf mich herab. Und dann, völlig unverhofft, fuhr er mit der kleinen Rolle, die er noch immer in der Hand hielt, über meine Nase.

Ich wusste nicht, ob ich empört oder verwundert sein sollte. Oder erfreut, dass er auf diese Weise scherzte. So oder so, ich war sprachlos.

Mit weit geöffnetem Mund stand ich da, wie angewurzelt, und sah zu ihm auf. Noah grinste. Dann lachte er. Offen, fröhlich und so mitreißend, dass es mir vollkommen egal war, seine Freude in offensichtlichem Spott begründet zu wissen.

Endlich gelang es mir, mich aus meiner Starre zu befreien und einen klaren Gedanken zu fassen. Schnell tunkte ich meinen Pinsel in den Eimer mit der dunkelblauen Farbe und revanchierte mich, indem ich ein Kreuz auf Noahs T-Shirt über seinem Bauch malte.

Abrupt verstummte sein Lachen; mit geschürzten Lippen und gerümpfter Nase breitete er die Arme aus und ließ mich gewähren. Seine Geste kam einer Einladung gleich. Also nutzte ich das Kreuz als Nase, malte noch zwei große Kulleraugen auf seine Brust und darunter – gefährlich nah an seinem Gürtel – einen breit grinsenden Mund.

Noah betrachtete mein zweifelhaftes Kunstwerk im Spiegel und tauchte dann in aller Seelenruhe seinen eigenen Pinsel in die Farbe. Als er sich mir zuwandte, kopierte ich seine Geste von zuvor und streckte meine Arme weit von mir.

Bemal mich, Noah Franklin! ... Mach schon!

Sehr langsam führte er den Pinsel über meinen Oberkörper, malte ebenfalls ein Gesicht auf mein T-Shirt. Sein Lächeln gefror, während seine Augen die Bewegungen verfolgten.

Schließlich ließ er den Pinsel fallen, zog mich in seine Arme und küsste mich so stürmisch, wie noch nie zuvor.

„Danke“, wisperte er unter seinen Küssen.

„Wofür?“, keuchte ich.

Er wich ein wenig zurück und sah mich tief an. „Für alles.“

Das war der perfekte Moment, auf den ich gewartet hatte. „Ich habe etwas für dich“, eröffnete ich ihm und ging zu meinem Rucksack. Dort zog ich die lange Papprolle hervor, die von einer dunkelblauen Schleife zusammengehalten wurde.

„Warum schenkst du mir etwas?“, fragte Noah unter skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen.

„Weil mir danach war, ganz einfach. Es ist nichts Gekauftes, also reg dich wieder ab. Pack es erst einmal aus!“

Mit einem nachgiebigen Schmunzeln zog Noah die Schleife auf, entrollte die Pappe und stieß auf das Gedicht, das ich in der Nacht zuvor für ihn geschrieben hatte.

Ich beobachtete seine Augen – sah, wie sein Blick über die Zeilen glitt. Aber seinen Gesichtsausdruck konnte ich dennoch nicht deuten.

Als er fertig gelesen hatte und das Papier langsam und sehr vorsichtig wieder einrollte, bemerkte ich, dass seine Finger zitterten. Doch erst sein Blick brachte die Gewissheit: Es gefiel ihm. Gott sei Dank!

„Komm her!“ Mehr sagte er nicht.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu; Noah schloss die Lücke komplett, hob mein Kinn an und berührte meinen Mund mit seinem. Mehr war es nicht; nur die Ahnung eines Kusses.

„Das ist so ... wahr. Jedes Wort ist wahr“, wisperte er gegen meine Lippen.

Ich umarmte ihn, streichelte seinen Rücken und spürte, wie er sich unter den Berührungen versteifte.

Ich wich ein wenig zurück, sah ihm tief in die Augen und versuchte, all meine Liebe in meinen Blick zu legen. Ihm so zu verstehen zu geben, dass nichts – kein noch so bitteres Wissen – etwas an meinen Gefühlen zu ihm ändern würde.

Sehr behutsam, fast wie in Zeitlupe, glitten meine Finger zu dem Saum seines T-Shirts.

Noah schluckte hart – und ließ mich damit wissen, dass er meine Absicht bereits durchschaut hatte. Seine Lider flatterten, als ich meine Fingerspitzen unter den dünnen Stoff schob und die Haut seines Rückens in winzigen Kreisen streichelte. Erst, als er sich ein wenig entspannte, dehnte ich den Radius meiner Liebkosungen aus. Schon spürte ich erste Erhebungen. Verhärtete Stellen in seinem Gewebe. Narben.

Noah hielt still – absolut still.

In diesem Moment wusste ich nicht, ob ich den Bogen überspannte, aber nur einen Augenblick später überraschte er mich, indem er den Saum seines T-Shirts selbst ergriff und es sich über den Kopf streifte. Mein Herzschlag setzte aus. Ich blinzelte oft und schnell hintereinander und zwang mich tief durchzuatmen, als meine Lungen stachen und ich bemerkte, dass ich die Luft reflexartig angehalten hatte.

Nie hätte ich gedacht, dass mich der Anblick eines männlichen Oberkörpers so aus der Fassung bringen könnte. Es war ja nicht so, als sähe ich zum ersten Mal einen. Jason war sehr gut gebaut und lief fast ausschließlich ohne Shirt durchs Haus.

Aber der Körper meines Bruders war nichts, im Vergleich zu dem, was meine Augen nun erfassten. Noah war so unglaublich schön. Der Duft seiner Haut strömte ungehindert auf mich ein und vernebelte mein Bewusstsein. Wieder einmal wurde mir schummrig, also streckte ich meine Hände nach ihm aus, umklammerte seine Oberarme und lehnte meine Stirn gegen seine Brust.

Noah atmete nun flacher und stockend, aber sein Herz schlug ruhig und fest wie immer.

In aller Vorsicht küsste ich sein Schlüsselbein ... und weiter aufwärts. Er schloss die Augen, sobald meine Lippen die Seite seines Halses berührten. Eine Weile standen wir so da – vollkommen reglos –, dann flüsterte er in mein Ohr: „Bleib so stehen, ja? Nicht ... nicht gucken.“

Ich wusste nicht was er vorhatte, aber ich nickte. Noah wich zurück und ging an mir vorbei. Ich erschrak, befürchtete, zu weit gegangen zu sein, wollte mich intuitiv umdrehen und ihn bitten nicht zu gehen, hielt jedoch an meinem Versprechen fest. Hörte, dass er seine Zimmertür abschloss und spürte kurz darauf, wie seine Fingerspitzen über meine Oberarme flüsterten. Endlich drehte er mich im Kreis seiner Arme um.

Behutsam fuhr ich über seine Brust, was ihm ein Zittern entlockte. „Zeig es mir!“, forderte ich flüsternd.

Noah schloss die Augen, sein Gesicht wirkte gequält.

„Noah, bitte!“

Ich war mir bewusst darüber, dass ich seine Grenzen austestete, aber etwas tief in mir wisperte, dass ich das Richtige tat.

Er seufzte; der Klang traf mitten in mein Herz und durchbohrte es schmerzhaft. Dann sah er mich an und biss die Zähne aufeinander. Seine Kieferknochen traten hervor, das starke Kinn verspannte sich und zuckte unkontrolliert. Er atmete noch einmal tief durch, schloss die Augen ... und drehte sich dann tatsächlich langsam um.

Ich hielt den Atem an. Natürlich hatte ich gewusst, dass mich etwas Schlimmes erwartete. Und natürlich hatte ich versucht, mir den Anblick auszumalen. Dennoch war ich alles andere als vorbereitet.

Es gab praktisch keinen Quadratzentimeter Haut auf Noahs Rücken, der nicht vernarbt war. Wer auch immer ihn so misshandelt hatte, er musste wahrhaftig ein Monster gewesen sein.

Beißende Tränen stiegen hinter meinen Augen auf, als ich Noahs geschundenen Körper betrachtete, der bis heute die Male seines Leidensweges trug. Rote Stellen neben dick vernarbten Partien, neben Flecken, an denen die Haut pergamentartig dünn schimmerte. Ja, diese Narben erzählten eine eindeutige, eine schreckliche Geschichte.

Ich zwang mich dazu, meinen Atemfluss wieder aufzunehmen und blinzelte die Tränen weg. Der Grat, auf dem ich mich bewegte, war so unglaublich schmal. Es würde so schnell keine zweite Chance geben, wenn ich diese hier vermasselte, dessen war ich mir sicher.

Also ging ich einen Schritt auf Noah zu, legte meine Hände an seine Seiten und ließ sie langsam nach vorne, zu seinem Bauch, gleiten. Dabei näherte sich mein Gesicht automatisch seinem Rücken, Zentimeter für Zentimeter. Als ich nur noch eine Handbreit von seiner gemarterten Haut entfernt war, ließ ich ihn meinen Atem spüren.

Noahs Körper war verspannt; ich sah aus nächster Nähe, wie seine Muskeln zuckten, sobald mein warmer Atem auf seine Haut traf.

Dennoch blieb er stumm und reglos stehen. Schließlich senkte ich meine Lippen zwischen seine Schulterblätter, direkt über seine Wirbelsäule ... und küsste ihn.

Noah stieß ein wenig Luft aus. Ich konnte nicht entscheiden, ob es Erleichterung war oder ob er das Gefühl meines Mundes auf seiner Haut mochte. Auf jeden Fall – und dessen war ich mir sicher – war es eine positive Reaktion. Also festigte ich meine Umarmung um seine Mitte und küsste behutsam seine Schulterblätter, seinen Nacken. Langsam löste ich meine Hände von seinem Bauch und ließ meine Fingerspitzen erneut über seine Seiten gleiten.

„Ich liebe dich, Noah“, flüsterte ich. „So sehr!“

„Hmm“, brummte er undefinierbar, bevor er sich umdrehte und seinen unsicheren Blick in meine Augen lenkte. „Ich sehe furchtbar aus.“

„Wie kannst du so etwas überhaupt nur denken? Du bist der mit Abstand schönste Mensch, den ich kenne“, protestierte ich empört. Und das stimmte, so ungläubig Noah auch schauen mochte. Es war die reine Wahrheit. Sein Rücken mochte hoffnungslos vernarbt sein – ebenso wie seine Seele –, trotzdem war Noah in diesem Moment so schön für mich wie nie zuvor. Und das wollte etwas heißen. Es war das Vertrauen, das er mir entgegenbrachte. Es stand ihm außerordentlich gut.

Ich berührte seine Wange; sofort schien er sich zu entspannen. „Wie gehören zusammen“, erklärte ich ohne jeden Zweifel.

„Absolut“, bestätigte Noah und schlang nun endlich seine Arme um meine Mitte.

 

An diesem Abend übernachtete ich bei Lucy. Soweit die offizielle Version. Inoffiziell – wobei ich mir sicher war, dass sowohl Marie und Joe, als auch mein Vater eigentlich Bescheid wussten – schlief ich zum ersten Mal bei Noah.

Da sein Zimmer nach Farbe roch und über Nacht ausdunsten sollte, quartierten wir uns in dem Gemeinschaftsraum im Obergeschoss ein.

Nach einem gemütlichen Abend gingen die Zwillinge gegen ein Uhr nachts zu Bett und ließen uns allein zurück. Zuvor hatten wir gemeinsam Filme geschaut, Chips gefuttert und zwanglos über Gott und die Welt geplaudert. Noah und Adrian hatten sich ein Duell auf ihrer Spielkonsole geliefert und dabei abwechselnd wie die Kesselflicker geflucht. Rückblickend war der Abend so normal und entspannt verlaufen, dass ich es kaum fassen konnte.

Für die größte Überraschung sorgte Noah, als sich Lucy verabschiedete und im Rausgehen, direkt neben ihm, über die Kante des Teppichläufers stolperte. Reflexartig streckte er seinen Arm nach ihr aus und fing sie auf. Ebenso reflexartig umklammerte Lucy seinen Arm. Als sie es realisierte, sah sie ihn erschrocken an.

Noah lächelte mild und reichte ihr auch noch seine andere Hand. „Alles klar?“, fragte er leise.

Lucy nickte mit großen Augen. Für die Dauer weniger Herzschläge wirkte sie regelrecht benommen, aber dann brachte Noahs Geste ihre Dämme zum Brechen. Überschwänglich wie sie war, klappte sie einfach vorn über und ließ sich in seine Arme fallen. Für einen Moment zuckte Noah nun doch zusammen, doch als Lucy zurückweichen wollte, hielt er sie fest und drückte sie an sich.

Adrian befand sich in diesem Moment direkt neben mir und schenkte mir ein brillantes Lächeln. „Diesen Stein hast nur du ins Rollen gebracht. Das weißt du, oder?“, flüsterte er. Mein Kopfschütteln tat er mit einem leisen Lachen ab. „Oh doch, und ob!“

Dann rollte er auf seinen Bruder zu und legte Lucy, die noch immer Noahs Hals umklammerte, eine Hand auf die Schulter. „Komm jetzt, Lu!“, forderte er und wartete, bis sich seine Schwester ausreichend gefasst hatte, um seiner Forderung nachzukommen.

„Gute Nacht“, sagte Adrian und sah Noah dabei lange an.

„Dir auch“, gab der schließlich zurück und hielt seinem Bruder die Hand hin. Adrian schlug ein, die beiden hielten ihren Griff für einige Sekunden. Sekunden, in denen ich beobachtete, wie sich Noahs Blick wandelte. Zunächst war er noch sanft auf Adrian gerichtet – die kleinen Fältchen an den äußeren Augenwinkeln unterstrichen sein Lächeln –, doch dann zogen sich seine Brauen zusammen und er musterte seinen Bruder mit skeptischem Blick.

Ich verstand nicht, was vor sich ging, blickte hilfesuchend zu Adrian und bemerkte gerade noch, dass Noahs Skepsis auch ihm nicht verborgen geblieben war. Im Gegenteil, sie spiegelte sich in dem hellen Braun seiner Augen wieder. Was ...?

Im selben Moment löste Adrian seine Hand aus Noahs, verfiel zurück in sein Standardlächeln und wünschte mir süße Träume, bevor er den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.

Noah blieb noch einige Sekunden lang wie angewurzelt stehen. Dann schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf und machte sich daran, die Couch mit wenigen gezielten Handgriffen in ein breites Bett zu verwandeln. Ein Bett, das förmlich nach mir und meinen erschöpften Gliedmaßen zu rufen schien. Der Schlafmangel der letzten Nacht machte sich nun doch bemerkbar.

Nachdem er seine Bettwäsche aufgelegt hatte, blieb Noah verlegen im Raum stehen und fuhr sich durch das wirre Haar. „Du kannst mein Bad benutzen“, sagte er leise. Ich nickte und machte sogleich Gebrauch von seinem Angebot.

Bei meiner Rückkehr stand Noah noch immer vor der Couch. Unbeholfen trat er von einem auf das andere Bein und kratzte sich im Nacken. Ich ging an ihm vorbei, schlug die Bettdecke zurück und schlüpfte darunter, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. In diesem Moment hoffte ich inständig, meine Theorie würde sich nicht bewahrheiten, denn in meinem Innersten stand ich erneut kurz davor zu kollabieren – und das musste Noah wirklich nicht wissen.

Er knipste das Licht aus und kam zu mir. Es war erstaunlich, wie schnell und sicher er den Weg fand, zumal zwischen dem Lichtschalter und der Couch bestimmt sechs oder sieben Meter lagen. Etliche Möbel standen im Weg und es war so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Dennoch war Noahs Griff sicher, als er die Bettdecke anhob und sich neben mich legte.

Zögerlich hingegen wirkte er, während sich sein Arm um meine Taille legte und er mich an sich zog. Wir sprachen kein Wort, sondern ließen stattdessen unsere Hände für uns sprechen. Behutsam streichelte ich Noahs Gesicht, fuhr an seinem Hals entlang bis zu dem Kragen seines T-Shirts. Dort, am untersten Ansatz seines Halses, platzierte ich einen ersten vorsichtigen Kuss. Bitte berühre mich!, schrie alles in mir ... und Noah schien das zu hören. Wieder einmal.

Behutsam legte er einen Finger unter mein Kinn und hob es an.

Seine Lippen fanden zu meinen und legten sich so sanft über sie, dass ich vollkommen ergeben unter ihm zusammensackte und ein Stück tiefer in den weichen Polstern der Couch versank. Wir küssten uns so lange, bis wir kaum noch Atem hatten und nach Luft schnappten.

„Gott, Emily!“, japste Noah.

„Was ist?“, fragte ich, als ich das Zittern in seiner Stimme hörte.

„Ich weiß nicht. Es ...“ Er drehte sich auf den Rücken, schien zur Formulierung zusammenhängender Sätze ein wenig mehr Abstand zu benötigen. Nun, mit diesem Gefühl konnte ich mich identifizieren.

„Ich bin ... so glücklich mit dir. Ich fühle mich genauso, wie du es in dem Gedicht beschrieben hast. Warm, geborgen, ... einfach wohl. Und im selben Moment – jedes Mal, wenn ich das realisiere – habe ich Angst davor, leichtsinnig zu werden und vor lauter Glück etwas Wichtiges zu übersehen. Das ... darf ich mir unter keinen Umständen erlauben.“

Würde er wohl jemals aufhören, in Rätseln zu sprechen?

„Es wird nichts geschehen, Noah“, versicherte ich ihm, aber er stieß nur wieder ein wenig Luft aus. Manchmal klang dieses Lachen wie das eines Vaters, der nachgiebig auf sein Kind herabblickte.

„Was hat dich vorhin so verunsichert?“, hörte ich mich fragen, wie aus dem Nichts heraus.

„Hm?“

„Mit Adrian, als er sich verabschiedet hat“, verdeutlichte ich. „Ihr habt euch die Hände gereicht und dann ... Irgendetwas stimmte doch nicht.“

„Ist dir aufgefallen, hm?“

„Ja.“

Er schwieg lange. Vielleicht in der Hoffnung, ich würde einschlafen und meine Frage somit unbeantwortet fallen lassen. Keine Chance, Noah!

Ich hörte ihn schmunzeln ... und richtete mich auf.

Was, liest du wieder meine Gedanken?, durchzuckte es mich.

Exakt im selben Moment verschluckte sich Noah an seinem eigenen Lachen. Erschrocken hustete er los. Und diese unmittelbare, völlig zusammenhangslose Reaktion brachte das Fass zum Überlaufen und verwandelte meine vage Vermutung binnen eines Wimpernschlages in Überzeugung. „Du liest meine Gedanken, Noah?“, stieß ich hervor.

Was?“, prustete er und klopfte sich mit der Faust gegen die Brust, um den Hustenreiz im Ansatz zu ersticken. Ruckartig schob er mich von sich und setzte sich auf, sodass sich nur noch unsere nackten Knie berührten. Stumme Sekunden verstrichen zwischen uns, in denen sich Noah die Haare raufte – klar, er musste ja denken, ich sei durchgedreht – und die Gedanken in meinem Kopf Kapriolen schlugen.

Oh Gott, du hast es gesagt, Emily! Du hast allen Ernstes gefragt, ob er deine Gedanken liest. Du ... musst es auf die Farbe schieben. Ja genau, das ist gut. Die Dämpfe sind schädlich, das weiß jeder. Der eine reagiert stärker, der andere ...

Em, hör auf damit!“

„Womit? Ich sage doch gar nichts.“

Warte, meint er ... meinst du ... mit ... diesen Gedanken? Heißt das ...?

„Ja, heißt es. Du ... liegst richtig.“

Was???

„Was???“

Schockiert fuhr ich auf und starrte in die Dunkelheit. Dorthin, wo ich seinen Blick vermutete. „Moment mal, du gibst es zu?“, fragte ich.

„Was hätte Leugnen noch für einen Sinn, du ahnst es doch ohnehin schon länger.“

„Aber ...“ Ich war sprachlos – und brauchte einige Momente, um mir klar darüber zu werden, ob mich sein Geständnis nun in Panik versetzte oder nicht. ... Nein, tat es nicht. Warum nicht? ... Keine Ahnung!

„Soll ich dich vielleicht ... lieber nach Hause bringen, oder so?“, fragte Noah ängstlich.

„Hm?“

„Möchtest du nach Hause, Emily?“

„Nein“, antworte ich ehrlich. „Aber, ... warum fragst du überhaupt? Du müsstest das doch wissen, wenn ...“

„Momentan weiß ich gar nichts“, erwiderte er, was beinahe ein wenig verbittert klang.

„Aber ...“ Ich spürte Noahs Hand. Mit zögerlichem Griff umfasste er die meine und zog mich wieder näher zu sich heran.

Ich ging zurück auf die Knie; seine Finger lösten sich von meinen, um nur eine Sekunde später über meine Wange zu streichen – federleicht. Vermutlich hätte ich ihm im Gesicht herumgetätschelt, hätte ich mich in der herrschenden Dunkelheit an dieser Berührung versucht, aber Noahs Bewegungen waren absolut präzise ... und dabei unglaublich behutsam.

„Jetzt“, flüsterte er. Ich brauchte einen Moment, um seine Botschaft zu entschlüsseln.

Was, nur wenn du mich berührst?

„Hm–hm“, brummte er seine Bestätigung auf meine unausgesprochene Frage.

Wow! Das ist ... unglaublich!

Noahs sanfte Berührung hielt den Drang, ihn mit tausend auflodernden Fragen bombardieren zu wollen, in Schach. Stattdessen schloss ich einfach die Augen und schmiegte mich an seine Hand. Wie so oft, wenn ich seine unmittelbare Nähe spürte, dachte ich an Zuhause. Schon zog das Gefühl ein entsprechendes mentales Bild mit sich.

Was siehst du?

„Das Haus, in dem ihr gelebt habt, in England“, flüsterte Noah nur Sekunden später.

Das Bild entglitt mir unter seinen Worten. Ich hatte noch nie in meinem Leben versucht, so gezielt zu denken. Es war verdammt schwer.

„Weißt du, was noch schwerer ist?“, fragte er leise.

„Was?“

„Zu glauben, dass du das einfach so hinnimmst. Ich ... habe dir gerade eröffnet, dass ich deine Gedanken lesen kann, ist dir das eigentlich bewusst?“

Ja, das ist ziemlich verrückt.

„Wenn das mal nicht die Untertreibung des Jahrhunderts ist.“

Woher kannst du das?

Schweigen.

Noah, bitte!

Schweigen.

Ich seufzte und berührte nun auch sein Gesicht. Nein, eigentlich tätschelte ich ihm erwartungsgemäß zunächst auf Hals und Ohr, bis ich endlich zu seiner Wange fand. „Funktioniert das bei jedem?“, fragte ich.

„Ja.“

„Wenn du jemanden berührst, weißt du, was derjenige denkt?“

„Ja. ... Was auch erklärt, warum ich so ungeschickt damit umgegangen bin, dass du mir schon nach zwei Wochen auf die Schliche gekommen bist.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich und kam mir ziemlich begriffsstutzig vor, weil Noah laut seufzte.

„Ich habe nie jemanden außer dich berührt, Em. Deshalb habe ich auch keine Übung darin, nicht auf Gedanken zu reagieren.“

„Oder dich daran zu erinnern, ob etwas gesagt oder gedacht wurde“, ergänzte ich leise. Es war nach wie vor zu dunkel, doch ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sich seine Augen unter meinen Worten weiteten.

„Wie? Hast du es so gemerkt?“

Anstelle einer Antwort, versuchte ich mir die Situation nach dem Unfall so deutlich wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Ich spürte seinen stockenden Atem, sobald es mir gelang.

„Du antwortest mit einer Gegenfrage“, warf ihm mein vergangenes Ich in meiner Erinnerung vor.

Das sind manchmal die besseren Antworten. Hast du selbst gesagt“, erwiderte er.

„Hast du nicht?“, fragte Noah.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nie.“

„Verdammt! Wann ist dir das aufgefallen?“

„Vor einigen Tagen. Das heißt, ... eigentlich war es mitten in der Nacht.“

„Wow!“

„Was?“

„Und du hast dich trotzdem weiter mit mir getroffen, ohne mich zur Rede zu stellen? Du hast dich nicht zurückgezogen?“

Dieses Mal war ich diejenige, die ein wenig bittere Luft ausstieß. „Wenn du meine Gedanken kennst, dann weißt du, wie hoffnungslos es um mich steht, Noah. ... Als ob mir das noch möglich gewesen wäre.“

Mein Gesicht wurde spürbar heißer unter meinem Geständnis. Noahs Fingerspitzen, die noch immer über meine Wange strichen, schienen die Temperaturänderung mitzumachen; sie fühlten sich im Verhältnis nicht kühler an als zuvor. Noah zog seine Hand zurück.

„Und, kannst du mein eigenartiges ... Dasein ... einfach so akzeptieren?“

„Noah!“

„Antworte! ... Bitte, Emily!“ Schon war seine Hand zurück auf meiner Wange, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde keine Frage beantworten, mit der du dich selbst runtermachst. Außerdem ist es doch offensichtlich, oder? Deine Frage ist absurd.“

Und jetzt setz mich nicht der Schmach aus, deinen Mund im Dunkeln zu verfehlen und küss mich. Sofort!

Er lachte auf, mehr als nur erleichtert, griff in einer blitzschnellen Bewegung unter meinen Oberschenkel und zog mich unter sich. Dann, endlich, senkte er seine Lippen auf meine herab.

Mein Herz raste wie wild, und während seines an meiner Brust ruhig und stark schlug – wie immer – wurde mir abwechselnd heiß und kalt.

„Gott, ich weiß nicht, ob mir das so recht ist“, wisperte ich, als wir uns für einen Augenblick voneinander lösten.

„Es funktioniert nur bei Hautkontakt“, erinnerte mich Noah mit gepresst klingender Stimme.

„Genau das ist ja mein Dilemma“, erwiderte ich und vergrub meinen Kopf beschämt an seinem Schlüsselbein.

Noah strich mir über die Haare, während sich unsere Atmung langsam beruhigte. „Lass uns schlafen!“, schlug er vor.

Für einen winzigen Moment war ich enttäuscht, sehnte ich mich doch nach weiteren Liebkosungen, doch dann willigte ich ein. Eine Nacht in seinen Armen – was wollte ich mehr?

„Ich weiß, was du noch mehr willst.“ Sein Schmunzeln war unüberhörbar.

Oh Gott, nein!

Nun prustete er los.

„Sei still, du ... du ... was auch immer“, empörte ich mich. „Das ist total unverschämt von dir.“ Ich war zutiefst beschämt, aber Noah lachte so frei und ungehalten, dass ich ihm nicht lange böse sein konnte und schließlich mit einstimmte. Dann – so abrupt, dass ich im selben Moment mit ihm verstummte – brach sein Gelächter ab.

„Falls es dich beruhigt: Kein Gedanke, den ich nicht auch schon gehabt hätte“, flüsterte er bedeutungsschwer, direkt an meinem Ohr.

Na ja, beruhigt ist nicht wirklich das richtige Wort, vielen Dank auch!

Mein Atem ging schnell und flach, mein Herz raste. Noahs Herz hingegen ...

„Lass uns schlafen!“, forderte er erneut und demonstrierte seine Entschlossenheit, indem er sich auf den Rücken drehte. Zufrieden bettete ich meinen Kopf auf seine Brust und schloss die Augen.

„Du bist unglaublich, weißt du das?“ Sein Flüstern war das Letzte, was ich noch wahrnahm, bevor mein Bewusstsein abdriftete und mir entglitt.

Dass sich der Wunsch, dem ich nicht mal 24 Stunden zuvor durch mein Gedicht Ausdruck verliehen hatte, schon so schnell erfüllen würde, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Aber in dieser Nacht ließen Noah und ich jedes einzelne Wort davon wahr werden.