VIII.

 

Noah führte mich an den anderen Gästen vorbei über die breite Veranda, durch das Wohnzimmer und über den langen Korridor. Schweigend steuerten wir direkt auf die enorme Treppe zu. Ich umfasste den Handlauf des Geländers, aber Noah schien nicht einverstanden zu sein. Er zog mich zurück. „Was ist verkehrt an Adrians Lift?“

Entsetzt blickte ich zu ihm auf. Unter keinen Umständen wollte ich mir die Blöße geben, in diesem Sitz die Treppe hochzufahren, erst recht nicht vor seinen Augen. Also stützte ich mich wildentschlossen ab und setzte den heilen Fuß auf die erste Stufe. Im selben Moment – sobald sich mein Gewicht auf den verletzten Knöchel verlagerte – durchzuckte mich ein spitzer Schmerz, der bis in die Hüfte hoch stach. Und dann geschah etwas sehr Eigenartiges. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, biss die Zähne fest zusammen und verkniff mir jede Reaktion, die auf den Schmerz hingedeutet hätte.

Aber Noah, der meine rechte Hand noch immer locker in seiner Linken hielt, zuckte spürbar zusammen und sah mit weit aufgerissen Augen auf mich herab. „Nimm den Lift!“, zischte er nur einen Herzschlag später.

„Nein, es geht schon“, beharrte ich trotzig.

„Es geht nicht! Du ... hast Schmerzen“, hielt er dagegen. Und das klang nicht wie eine vage Vermutung, sondern wie eine Feststellung. Dennoch schleifte ich den verletzten Fuß nach, setzte ihn ebenfalls auf die erste Stufe und trat mit dem anderen auf die nächste. Wieder ein Stich, noch schärfer dieses Mal. Und wieder dieses Zucken, das Noahs Körper durchfuhr.

„Emily!“ Er brummte meinen Namen wie eine Drohung. Seine Hand verkrampfte sich und drückte meine nun wie eine eiserne Zange. Sein Griff gab mir eine leise Ahnung davon, wie stark Noah wirklich war. Vielleicht spürte er, wie fest er zudrückte, denn mit einem Mal entzog er mir seine Hand und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch den dunkelblonden Wuschelkopf.

Er rang mit sich, das war eindeutig. Innerlich zerrissen, zerrte er an seinen Haaren, erklärte mir aber nicht, was ihm so zusetzte. Erst, als ich zu einem dritten Schritt ansetzte, erfuhr ich es. „Sturkopf!“, schimpfte Noah. „Solche Schmerzen und trotzdem ...“

Sein Gemurmel wurde unverständlich, er grummelte vor sich hin und sah mich beinahe verächtlich an. Mit einem Mal jedoch beugte er sich vornüber – ruckartig, ohne mir auch nur den Hauch einer Chance zur Reaktion zu lassen –, schob seine Arme an meinem Kreuz und hinter meinen Knien vorbei und hob mich hoch. So, wie Tom es zuvor getan hatte. Doch dieses Mal, ganz anders als bei Tom, schlangen sich meine Arme wie von selbst um Noahs Hals, und ein eigenartiger, halberstickter Laut entrang sich meiner Kehle. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, er könnte mich auf seine Arme heben.

Noah sagte kein Wort und erwiderte meinen schockierten Blick auch nicht. Steif und schweigend, mit verbissen zuckendem Kinn, trug er mich die Stufen empor. Seine Bewegungen wirkten beinahe mechanisch, doch so verkrampft er auch sein mochte, oben angekommen setzte er mich nicht ab.

Er schritt an Lucys Zimmer und etlichen weiteren Türen vorbei, deren dahinterliegende Räume noch ein Geheimnis für mich darstellten. Ich war mir sicher, er würde mich zurück in den Wohnraum mit dem großen Flachbild-Fernseher bringen, doch er öffnete die gegenüberliegende Tür und trat langsam ein. Sein Zimmer, schoss es mir durch den Kopf.

Trotz der Neugier, die diese Vermutung auslöste, brachte ich es nicht fertig, meinen Blick von seinem schönen Gesicht abzuwenden. Seine Augen, diese ungewöhnliche Farbe, und die unverschämt langen, dunklen Wimpern fesselten mich. Behutsam legte er mich auf einem breiten ... Bett ab? ... Oh, mein Gott – sein Bett!!!

Nun, als Noah zurückwich, einige Meter Abstand zwischen uns brachte und mit gesenktem Kopf die Hände in seine Hosentaschen pferchte, sah ich mich um. Bald schon setzte Enttäuschung ein. Die Wände waren weiß gestrichen und nicht dekoriert. Lediglich eine digitale Uhr hing über der Zimmertür, sonst nichts. Keine Poster, keine Bilder oder Fotos, ... nichts. Es gab einen Schrank, einen Schreibtisch und eine Kommode, alles in dunklem Holz, passend zum Parkett. Der Raum wirkte steril und absolut unpersönlich. In einer Ecke entdeckte ich eine große Stereoanlage. Daneben standen drei überquellende CD– Ständer und eine akustische Gitarre.

Ein Musikliebhaber. Oder ein Musiker?

Noah sah mich unsicher an und rieb seinen Nacken; die Geste offenbarte sein Unbehagen in aller Deutlichkeit. „Darf ich?“, fragte er schließlich und deutete unsicher neben mich. Ich lachte leise auf und rückte nur allzu bereitwillig zur Seite.

„So wie ich das sehe, ist es doch dein Zimmer.“

„Auch wieder wahr”, gab er mit einem milden Lächeln zu und ließ sich langsam neben mir nieder. Wieder hielt er einen halben Meter Abstand. „Sollte aber kein Grund sein, unhöflich zu werden.“

„Hm“, machte ich undefinierbar. Als ob du bisher einen Grund dafür gebraucht hättest, Noah Franklin.

Meine Gedanken trugen mich zu unserem ersten gemeinsamen Schultag zurück. Unfassbar, dass er mich tatsächlich eine Bitch genannt hatte. Und als ob die Erinnerung an dieses eigentlich noch recht frische Erlebnis nicht ohnehin schon skurril genug gewesen wäre – denn hier, direkt neben mir, saß ein völlig anderer Junge als der türkisäugige Vollidiot, dem ich fünf Tage zuvor zum ersten Mal begegnet war –, setzte Noah in diesem Moment zum Sprechen an. „Wie geht es deinem Fuß?“, erkundigte er sich mit der sanftesten aller Stimmen.

„Besser. Ich denke, ich wäre auch ohne deine Hilfe die Treppe raufgekommen”, erwiderte ich und ärgerte mich im selben Moment über den blöden Kommentar. „Aber so war es ...“

Er fing meinen Blick ein; sofort verließ mich der Mut. „... weniger schmerzhaft“, beendete ich meinen Satz, anders als geplant. Er nickte.

„Ähm, ... möchtest du Musik hören?“ Noah wartete mein „Gerne“ kaum ab. Schnell erhob er sich und schaltete mit einer Fernbedienung, die auf seinem Nachtisch gelegen hatte, die Anlage ein. Die Musik der Kings of Leon flutete das Zimmer und Noah beeilte sich, die Lautstärke herab zu regeln. Zögerlich nahm er wieder neben mir Platz und setzte sich auf seine Hände, wie ich es einige Stunden zuvor getan hatte.

„Warum hast du mich hierher gebracht?“, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn du lieber wieder raus willst, dann ...“

„Nein!“, rief ich schnell und viel zu laut. „So meinte ich das nicht. Ich ... bin gerne hier, bei dir.“

Noah sah mich lange an, bevor er den Kopf wieder neigte. „Glaubst du, es ist möglich, dass du dich hier eines Tages doch noch wohl fühlst?“, fragte er plötzlich unter einem fast schon schüchtern wirkenden Seitenblick.

Sofort fühlte ich mich ertappt. „Wie meinst du das?“

„Na, du erzählst zwar jedem, dass es dir hier gefällt, aber ganz ehrlich …“ Sein Blick festigte sich zunehmend, wurde prüfend und unglaublich tief. „Das ist doch totaler Schwachsinn! Du vermisst England sehr, nicht wahr?“

Ich sah ihn noch einige Sekunden mit aufgerissenen Augen an und fragte mich dabei, wie er das wissen konnte. Nicht nur seine zutreffenden Vermutungen verwirrten mich, sondern besonders die Tatsache, dass er meine Gespräche mit seinen Geschwistern und später mit Marie offenbar mitgekriegt hatte. Wie konnte das sein?

Egal! Eins nach dem anderen, befand ich nach kurzer Überlegung, senkte meinen Kopf und gestand: „Ja, du hast recht. Aber verrat es niemandem. Ich will kein Jammerlappen sein.“

Noah stieß ein wenig Luft aus, und als ich wieder zu ihm aufblickte, begegnete ich seinem unglaublichen Lachen. Seine Zähne strahlten, ebenso wie das helle Türkis seiner Augen. Ich konnte nicht anders als ihn anzustarren. Mir war durchaus bewusst, dass ich es tat, doch meine Augen weigerten sich beharrlich, meinem Verstand zu gehorchen und von ihm abzulassen.

Noah erwiderte meinen Blick und strich sich die wirren Haare aus der Stirn. „Also, für wen bist du so tapfer? Oder hat man dich gar nicht erst gefragt, was den Umzug anging?“

„Nein, also … doch. Ich bin mir sicher, mein Vater wäre nicht hier hingezogen, hätte ich mich vehement quergestellt, aber … das habe ich nicht. Abgesehen davon, dass Jason dann nie wieder mit mir gesprochen hätte.“

Nun sah er mich etwas verwirrt an. In seinen Augen spiegelte sich das warme Licht der Nachttischlampe wider.

„Jason ist mein Bruder“, stellte ich klar.

„Hm. Also bist du für die Karriere deines Vaters mitgegangen? Das war ... nett von dir.“

Wir schwiegen einige Sekunden, in denen ich befürchtete, dass auch Noah mir nun Fragen zu meiner Mutter stellen würde. Aber er tat es nicht.

„Und du? Bist du froh wieder hier zu sein?“, fragte ich nach einer Weile vorsichtig.

Er legte den Kopf zur Seite; seine Augen verengten sich. „Hier hat sich in den letzten Jahren nicht viel verändert.“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich kopfschüttelnd.

„Glaub mir!“, forderte Noah nüchtern.

„Das tue ich“, gab ich postwendend zurück und errötete im nächsten Moment spürbar. Na super! Ich war Jay wesentlich ähnlicher als vermutet: Mein Hirn reichte jeden Gedanken ungefiltert an meinen Mund weiter, wenn ich mich nicht vollkommen konzentrierte – was in Noahs Nähe extrem schwierig war. Der hielt meinen Blick, während mir die Hitze meines Blutes in den Ohren pochte. „Wie war es denn in Frankreich?“, fragte ich hastig, um der Magie seiner Augen nicht schon wieder zu verfallen.

Keine weiteren Ohnmachtsanfälle an diesem Abend, mein Plan stand nach wie vor. „Wo genau habt ihr überhaupt gelebt?“

„An der Cote d’Azur, in einem winzigen Ort vor Vice, direkt am Meer. Landschaftlich wunderschön, aber ... nun, im Prinzip ist ein Ort wie der andere. Was die Menschen angeht, meine ich.“

Ich wartete, ob er dieser frustrierten Bemerkung klärende Worte folgen lassen würde. Aber Noah sah mich nur an und biss dabei auf seiner Unterlippe herum. Die Geste wirkte abwägend, als würde er überlegen, ob ich eine ehrliche Antwort wert war. Schließlich schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf und schwieg.

Offenbar war ich ihm die ehrliche Antwort noch nicht wert. Nun, ich würde dafür kämpfen, das zu ändern. Ein Funke meines sonst so gut verdeckten Temperaments glühte in mir auf und entfachte Entschlossenheit. Oh ja, ich war mehr als nur entschlossen, hinter jedes einzelne von Noahs Geheimnissen zu kommen. Denn Gott, wie sehr wollte ich die ehrliche Antwort wert sein.

Nur einen Herzschlag später zügelte ich mich jedoch schon wieder. Ganz langsam, Emily. Geduld! Schritt für Schritt.

„Die Stadt hier ist – zumindest stellenweise – schon ganz schön”, gab ich zu.

„Hmmm.“ Noah zog ein Gesicht, wiegte seinen Kopf hin und her und schien mit meiner Aussage nur halbwegs einverstanden zu sein. „Schön vielleicht nicht gerade, aber dennoch die beste der Welt“, murmelte er schließlich. Diese Antwort verwunderte mich.

„Die beste, wirklich? Was ist mit ... sagen wir ... Paris?

„Zu chaotisch.

„Rom?“

„Zu laut.“

„Und Tokio?“

„Zu grell.“

„London?“

Ein kurzer Seitenblick zu mir. „Zu britisch.“

Ich schmunzelte; er tat es auch. Dann schwiegen wir wieder für ein paar Sekunden.

„Ich bin jedenfalls froh, dass du hier bist”, flüsterte ich in die Stille. So leise mein Geständnis war, so laut fiel Noahs Reaktion aus.

„Emily!“, rief er und sprang dabei auf, als hätte ihn etwas gestochen. Die unerwartete Heftigkeit, mit der er meinen Namen ... ja, beinahe schrie, ließ mich zusammenschrecken. Noah wirkte verzweifelt, als er sich erneut die Haare raufte und haltlos in seinem Zimmer auf und ab lief.

„Was? ... Was ist denn, Noah? Was habe ich jetzt schon wieder gemacht?“, fragte ich hilflos.

„Wenn ich das wüsste!“, rief er, bevor er abrupt stehenblieb und mich eindringlich ansah. „Was passiert hier gerade, Emily?“ Und dann, als läge die Antwort auf alle seine Fragen und Unsicherheiten in unserer Berührung, ging er wieder auf mich zu und strich zaghaft mit seinen Fingerspitzen über meinen Handrücken.

Ich wusste genau, was er meinte – und sobald seine Worte ihre gesamte Bedeutung entfalteten, erfasste mich eine tiefe, bislang unbekannte Wärme. Noah spürte es also auch, ich bildete es mir nicht nur ein. Das rasante Pochen meines Herzens war in jedem Millimeter meines Körpers spürbar; ein neuer Schwindelanfall bahnte sich an.

Atmen, Emily!, ermahnte ich mich und holte tief Luft. „Finden wir es heraus?“, entgegnete ich leise, als mir ein Spruch meiner Großmutter einfiel: Manchmal sind Gegenfragen die besseren Antworten.

Noah schien das nicht so zu sehen. Eine halbe Ewigkeit verging, in der er meinen Blick stumm und reglos hielt. Endlich seufzte er resignierend, entzog mir seine Finger wieder und wich einige Schritte zurück.

„Ja“, flüsterte er. „Finden wir es heraus“. Dann, noch leiser, murmelte er: „Obwohl ich befürchte, das schon getan zu haben.“

Ich überging diesen zweiten, leicht zynischen Teil seiner Antwort, denn das winzige Wort davor hallte immer wieder in meinem Kopf nach – wie ein Echo, das einfach nicht verebben wollte. „Ja.“ Er hatte tatsächlich zugestimmt. Sehr leise zwar, aber ganz deutlich: „Ja.“ Das hieß, er war bereit, mehr Zeit mit mir zu verbringen, nicht wahr?

Ermutigt durch sein Zugeständnis, erhob ich mich und ging langsam auf ihn zu. Nur am Rande nahm ich wahr, dass mein Knöchel kaum noch schmerzte. Zögerlich streckte ich Noah meine Hände entgegen, doch er wich zurück und wandte seinen Blick ab. „Nicht!“, wisperte er. „Ich ... kann das nicht, Emily.“

„Was kannst du nicht? Meine Hände nehmen? Du hast sie doch schon gehalten. Gerade eben noch hast du ...“

„Nein“, entgegnete er, nun deutlich bestimmter. „Ich kann das hier nicht.“ Mit einer schnellen Handbewegung wedelte er zwischen uns hin und her. „Ich habe keine Ahnung, wie ...” Der Satz blieb unvollendet, die Aussage war dennoch klar.

„Ich doch auch nicht“, versicherte ich ihm, ohne meine Hände zu senken. Langsam ging ich noch näher auf ihn zu, wohl wissend, dass ich Noah an seine Grenzen trieb. Ich tastete mich im wahrsten Sinne des Wortes an ihn heran. Es war ein unglaublicher Balanceakt, und ich wusste nicht, wann das dünne Seil unter mir reißen würde. Jede Sekunde konnte es soweit sein.

„Ich fasse dich nicht an, wenn du es nicht willst”, flüsterte ich.

Sein schönes Gesicht wirkte qualvoll verzerrt, er presste sich gegen die Wand und blickte angespannt auf meine Hände herab. Seine Augenlider flatterten, die Lippen zuckten. „Irgendwie ... will ich es aber”, wisperte er endlich. „Und genau das macht mir eine Scheißangst.“

Das Verlangen, einfach nach seinen Händen zu greifen und ihm zu versichern, dass alles gut werden würde, wurde unter seinem Geständnis übermächtig groß. „Noah, bitte!”, flehte ich leise.

Er schloss die Augen und streckte mir zögerlich seine Hände entgegen. So sanft wie möglich legte ich meine, die Innenflächen nach oben gekehrt, unter seine ausgestreckten Finger und glitt federleicht über die Unterseiten seiner Handgelenke. Er schluckte hart, die Augen nach wie vor geschlossen.

„Was spürst du?“, fragte ich leise. Die Worte schlüpften ohne nachzudenken über meine Lippen. Intuitiv. Zum Teufel, was war nur los mit mir? Ich war nicht intuitiv. Nie!

Meinen holprigen Gedanken zum Trotz, blieben meine Berührungen zart und fließend. Sie hörten nie auf, wurden nie stärker oder leichter.

„Dich”, flüsterte Noah endlich. „Deine Finger.“

„Und ... wie fühlt es sich an?

„Gut”, gestand er gepresst, nun deutlich schneller als zuvor.

„Willst du, dass ich aufhöre?“, fragte ich leise und ein wenig ängstlich. Seine Zurückweisung wäre nur schwer zu ertragen gewesen. Doch zu meiner großen Erleichterung schüttelte er schon den Kopf, ehe ich meine Frage komplett ausgesprochen hatte.

„Ich höre auf, Noah. Wann immer es zu viel wird, höre ich auf“, versicherte ich ihm und hoffte, er würde verstehen, dass ich nicht nur von meinen Berührungen sprach. „Ich sehe dich, weißt du? ... Ich sehe die Mauern, die du um dich herum aufgebaut hast, um dich zu schützen.“

Er verspannte sich zunächst leicht, doch dann atmete er aus. Erleichterung? Gut ... weiter!

„Ich sehe sie, und ich sehe durch sie hindurch. Ich weiß, dass du ... viel besser bist, als du zugeben willst”, beschwor ich ihn weiter. Kaum hatte ich meinen Satz beendet, entzog mir Noah seine Hände.

„Du täuschst dich, Emily.“

„Sagt wer?“, schoss ich, enttäuscht durch seinen unvorhersehbaren Rückzieher, viel zu scharf zurück.

„Was?“ Seine schöne Stimme klang mit einem Mal schrecklich brüsk; nun ähnelte sie wieder der des Jungen, dem ich wenige Tage zuvor zum ersten Mal begegnet war. Alarmiert zwang ich mich zur Ruhe.

„Wer hat dir eingeredet, dass du nicht gut bist, Noah?“ Ich hatte keine Ahnung, ob mich das Eis, auf dem ich mich bewegte, weiterhin tragen würde. Ich wusste lediglich, dass es während der letzten Sekunden verdammt dünn geworden war.

Noah ignorierte meine Frage und dachte gar nicht daran, sie zu beantworten. „Du kennst mich nicht einmal“, sagte er lediglich.

„Ich möchte dich aber kennenlernen, darum geht es ja gerade“, beharrte ich.

Wieder raufte er seine dunkelblonden Haare. „Das ist keine gute Idee.“

Nun packte mich doch die Wut. „Wer bestimmt das?“, rief ich aufgebracht.

Du solltest das bestimmen, Emily!“, schrie er und umfasste mit einem Mal fest meine Handgelenke. Ich verstand kein Wort. Fragend sah ich ihn an, wartete vergeblich, dass er endlich etwas halbwegs Verständliches sagte. Erschöpft ließ er schließlich von mir ab, plumpste auf die Bettkante und stützte die Stirn in seine Hände. Mit den Handballen rieb er sich die Augen. „Ich bin so müde, Emily“, gestand er leise.

„Dann schlaf“, hauchte ich, geschockt und verzückt zugleich von diesem neuen Noah, den ich so noch nicht erlebt hatte, und von dieser neuen Situation ... von uns.

Nur am Rande hörte ich sein bitteres Lachen. „Ja, einfach nur schlafen. Das klingt so leicht, nicht wahr?“, murmelte er.

„Kannst du nicht gut schlafen?“

Er schüttelte den Kopf. „Warum nicht?

„Albträume”, wisperte er.

„Vergangenheit?“, mutmaßte ich leise. Es schien so, als kannten wir nur zwei Lautstärken. Entweder wir blafften uns an oder wir flüsterten. Beides machte keinen Sinn; wir waren wie Feuer und Eis: brannten, wärmten, schmolzen, gefroren neu.

Er nickte.

„Erzählst du mir davon?“

„Nein“, sagte er bestimmt. Dann, Sekunden später und so leise, dass ich es kaum verstand, erklärte er: „Das willst du nicht wissen.

Langsam ließ ich mich neben ihm nieder, bedacht darauf, einen gewissen Abstand zwischen uns zu bewahren.
„Siehst du – und das ist der Punkt, in dem du dich irrst“, beharrte ich mit sanftem Nachdruck. „Ich möchte nämlich allesüber dich wissen.

„Aus Neugier“, behauptete er und verdrehte seine Augen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aus ... aus diesem tiefen Gefühl heraus, das ich selbst noch nicht kenne und ... das mich bestimmt fast so sehr ängstigt wie dich. Es geht alles so verdammt schnell, aber ich ... ich möchte dich kennen, Noah. Wirklich, alles von dir.

Langsam sah er wieder zu mir auf. Seine Wimpern waren tatsächlich so lang, dass sie Schatten über seine hohen Wangenknochen warfen.

„Wie wäre es, wenn wir uns abwechselnd Fragen stellen?“, schlug ich vor. Er neigte den Kopf. „Keine Frage muss beantwortet werden”, fügte ich schnell hinzu.

„Wo hast du gelernt, dich so zu verteidigen?“, fragte er ohne weitere Umschweife. Gut, scheinbar fing er an.

Meine Kinnlade klappte herab. Von allen Fragen, die er mir hätte stellen können, war diese die erste, die ihm in den Sinn kam? Wirklich, Noah?

Ich dachte kurz darüber nach, dann prustete ich los.

„Du schaffst mich!“, lachte ich aus einer plötzlichen Unbeschwertheit heraus. In diesem Moment fiel die Anspannung komplett von mir ab. Noah starrte mich einige Sekunden lang verständnislos an, dann stimmte er ein. Tatsächlich, er lachte. Ein richtiges, ehrliches Lachen, das alle Wolken der vergangenen Minuten vertrieb.

„Hey, lach mich nicht aus!”, beschwerte er sich schließlich. „Das frage ich mich schon die ganze Zeit.“

Nun, ich war ihm wohl eine Antwort schuldig. „Kennst du Miss Undercover, mit Sandra Bullock?“, fragte ich verlegen.

Noahs Stirn legte sich in Falten, als er nickte. Offensichtlich erschloss sich ihm der Zusammenhang zwischen seiner Frage und meiner Antwort noch nicht so ganz. Wer konnte es ihm verübeln? „Erinnerst du dich an ihren kleinen Selbstverteidigungskurs mit dem SONG?“, fragte ich und sah ihn mit großen Augen an, bis sich sein Blick plötzlich erhellte und ein breites Grinsen sein Gesicht eroberte.

„Oh Gott, das glaub ich ja nicht. Da will ich ihr zu Hilfe eilen, und dabei hat sie sich alles, was Frau braucht, schon von Sandra abgeguckt.“

„Du wolltest mir zu Hilfe eilen?“, wiederholte ich ungläubig.

„Klar!“, bestätigte er mit einem Schulterzucken, das seine unglaubliche Aussage fast selbstverständlich wirken ließ.

Ich brauchte eine Weile, um den Schock zu verdauen. Er hatte mir wirklich helfen wollen. Und das schon am Donnerstag. Warum war mir diese Möglichkeit nicht für eine Sekunde in den Kopf gekommen?

„Ich bin dran“, sagte ich knapp, als ich es endlich schaffte, meine Gedanken zu ordnen.

„Wohl kaum.“ Noah grinste amüsiert.

„Hm?

„Du hattest deine Frage. Ja, ich wollte dir helfen“, wiederholte er noch einmal, um mir auf die Sprünge zu helfen.

„Verflixt!“

Jepp!“, sagte er und löste damit ein Kribbeln in meinem Innersten aus, denn sein kleiner Ausruf klang beinahe unbeschwert. Nur einen Wimpernschlag später legte sich die makellose Haut seiner Stirn jedoch erneut in Falten.

„Was weißt du bisher über mich? Und von meiner ... Vergangenheit?“, fragte er mit dünner Stimme.

Ich bemerkte, dass sich seine Hände zu Fäusten ballten. Das Kribbeln in meinem Bauch wich einem ängstlichen Flattern. Eben noch auf Wolke Sieben, war ich nun schon wieder zurück auf der hauchdünnen Eisfläche. Mit Noah ging dieser Wechsel so wahnsinnig schnell.

„Ähm ... ich weiß, dass du adoptiert bist. Und dass du sehr intelligent sein musst. Du hast Narrenfreiheit bei den Lehrern. Wann immer sie denken, dass du ihrem Unterricht nicht folgst, beweist du ihnen das Gegenteil, indem du all ihre Fragen korrekt beantwortest. Du schreibst gerne und viel. Ich weiß nicht was, aber du hast immer diesen Notizblock bei dir, in den du hineinschreibst. Ich weiß, dass Lucy und Adrian dich sehr ... ja, lieben, auch wenn du das nicht wahrhaben willst. ... Oder kannst.“ Ich ignorierte, dass sich seine Finger bei meinen letzten Worten in die Laken krallten, und fuhr fort.

„Ich weiß auch, dass dir etwas Schreckliches passiert sein muss. Dass ... dich jemand verletzt hat. Schlimm verletzt hat. Und ich hasse diese Menschen für das, was sie dir angetan haben, Noah. Dafür, dass sie dir offensichtlich erfolgreich eingeredet haben, du hättest kein Glück in deinem Leben verdient.“

Sein Kopf und sein Blick waren gesenkt, seine Hände bebten nun heftig. Oh, wie richtig ich doch lag – und oh, wie schmerzhaft mich diese Erkenntnis traf. Die Versuchung Noah zu berühren war unglaublich stark. Also setzte ich mich erneut auf meine Hände, spürte ich doch, dass jede unüberlegte Handlung, so klein sie auch sein mochte, das Fass zum Überlaufen bringen würde.

Im Verlangen die düstere Stimmung wieder aufzulockern, wechselte ich das Thema. „Ich bin dran.... Hm, also ... warum hast du mich am Donnerstag ausgelacht?

Sein Blick schoss hoch und traf mit geballter Kraft auf meinen. Unter seinen empörten Augen gelang es mir nicht, ihn weiter anzulächeln – und der Vorsatz, die Frage ganz beiläufig klingen zu lassen, war passé, als meine Gesichtszüge entgleisten.

„Du denkst immer noch, ich hätte dich ausgelacht?“ Noah seufzte. Er rieb erneut über seine Augen und verwehrte mir somit die Sicht auf sein schönes Gesicht, während er weitersprach. „Du sahst so ... verwirrt aus. Wie du zwischen Bill und mir hin- und hergeschaut hast. Als ob du nicht begreifen konntest, dass er wirklich da lag und sich krümmte, weil du ihn zusammengeschlagen hattest. Und dann musste ich über mich selbst lachen. Ich hatte ihn beobachtet, wie er dich gegen den Spind presste und ... küsste. Ich hörte deinen Protest und sah, dass er nicht entsprechend reagierte. Irgendetwas in mir rastete aus. Ich wollte dir helfen, den Bastard von dir wegzerren und die Scheiße aus ihm rausprügeln.“

In diesem Moment schien Noah zu bemerken, dass er sich hatte treiben lassen. Nun, endlich, ließ er seine Arme fallen und blickte vorsichtig zu mir auf. „Entschuldige“, murmelte er verschämt.

Kein Problem, du hast schon wesentlich schlimmere Dinge gesagt, dachte ich, schwieg jedoch und lächelte ihm nur zu. Es war unfassbar, wie sehr ich mich in diesem Jungen getäuscht hatte. Wie sehr sich alle anderen in ihm täuschten.

Ein glasiger Ausdruck eroberte Noahs Augen und ließ mich wissen, dass er nun wieder seinen Gedanken nachhing. „Aber du brauchtest meine Hilfe gar nicht. Innerhalb von Sekunden lag der Kerl am Boden, und ich kam mir so ... lächerlich vor.“ Er schüttelte den Kopf. „Dann kam noch dein Blick dazu und irgendwie ... Es war ungewollt, Emily. Keine Ahnung, warum ich plötzlich lachen musste. Es tut mir jedenfalls leid, dass ich dich damit zum Weinen gebracht habe.“

„Schon gut“, murmelte ich und streckte, wie automatisch, meine Hand nach ihm aus. Nur einen Moment später bemerkte ich es und zog sie wieder zurück. „Gott, es tut gut, mit dir zu sprechen.” Ich seufzte erleichtert.

„Ja“, antwortete er. „Warst du denn sehr wütend?“

„Oh, und ob. Und enttäuscht. Seit unserer ersten Begegnung war ich mir nicht sicher, was ich von dir halten sollte. Ich wusste nur, dass ich mehr über dich erfahren wollte. Aber als du in dieser Situation so gelacht hast, nahm ich mir vor, dich einfach zu ignorieren. Dann kam dein Zettel mit der kleinen Botschaft, ... deiner Entschuldigung.“ Und schon waren all meine Pläne, dich links liegen zu lassen, wieder hinfällig.

„Hm ...”, brummte er undefinierbar. „Ich bin dran.“

„Wohl kaum“, erwiderte ich und beobachtete triumphierend, wie sich seine schönen Augen verengten. „Wie bitte?

„Wohl kaum! Du hattest deine Frage. Ja, ich war sehr wütend.“
„Verflixt!“, schimpfte er, doch das Aufwärtszucken seiner Mundwinkel verriet die Halbherzigkeit seines Fluchens.

Jepp!“, erwiderte ich grinsend. Ich liebte diese neue Leichtigkeit zwischen uns, so zerbrechlich sie auch sein mochte.

„Also los, dann wieder du.“

Dieses Mal überlegte ich nicht lange. Es war an der Zeit, die eine Frage zu stellen, die seit meinem Gespräch mit Joe Franklin am heftigsten in mir brannte. „Warum hast du die Suspendierung akzeptiert, obwohl du nichts mit Bills angebrochener Nase zu tun hast?

Noahs Gesichtszüge entgleisten. Er sah ertappt aus ... und geschockt. Verlegen massierte er sich den Nacken. „Woher weißt du ...?“

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, ob ich ihn daran erinnern sollte, dass ich mit dem Fragen an der Reihe war,doch ich entschied mich schnell dagegen. „Ich habe mit Joe gesprochen.

„Mit Joe? Du nennst ihn schon beim Vornamen?“, fragte er erstaunt, die hellen Augen weit aufgerissen.

Ich nickte ein wenig verlegen. „Er hat gesagt, alle würden das tun.“

„Oh, das ist ... gut. Und, was hat er dir erzählt?

Ich berichtete von unserer Unterhaltung. Noah hörte aufmerksam zu. „Joe war sehr erleichtert, dass du mit der ganzen Sache nichts zu tun hast”, ließ ich ihn wissen. Sein Blick senkte sich erneut. Das geschah scheinbar immer, wenn ihm klar wurde, dass es durchaus Menschen gab, die sich für ihn interessierten.

„Warum hast du ihm nicht erzählt, was wirklich passiert ist?“, hakte ich vorsichtig nach.

„Ich wollte dich nicht in die Verlegenheit bringen, davon erzählen zu müssen”, murmelte er. „Außerdem, eine Suspendierung mehr oder weniger, was macht das schon für einen Unterschied?“

Wie bitte?

„Na, du könntest früher oder später von der Schule fliegen”, warf ich ein, doch er lächelte nur milde.

„Und wenn schon.“

„Dann wären wir nicht mehr zusammen”, platzte es aus mir heraus. Ich sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte, so hart schluckte er. Ich konnte mich getäuscht haben, doch es war mir, als ginge ein leichtes Zittern durch seinen Körper. Hitze brannte in meinen Wangen.

„Also, ... in der Schule, meine ich.“ Dieser Rettungsversuch war so ... durch und durch erbärmlich. Schnell biss ich mir auf die Unterlippe. Wie immer betäubte der Schmerz die Scham und ließ mich wieder atmen.

„Ich gehe am Montag zu Mrs Porter und kläre alles auf”, teilte ich Noah mit und versuchte, es so fest und unerschütterlich wie nur möglich klingen zu lassen. Er betrachtete mich eingehend; sein skeptischer Blick schmolz langsam, aber sicher.

„Okay“, sagte er schließlich. „Ich bin dran.“

 

Auf diese Weise verbachten wir die kommenden Stunden in seinem Zimmer. Zuerst saßen wir nebeneinander, aber irgendwann forderte er mich auf, meinen Fuß hochzulegen. Obwohl das Pochen in meinem Knöchel nachgelassen hatte – Noahs Anwesenheit schien den Schmerz besser zu betäuben als jeder Eisbeutel –, kam ich seiner Aufforderung nach und streckte meine Beine auf seinem Bett aus, während er sich ein Sitzkissen nahm, sich damit auf den Boden setzte, die Arme über der Bettdecke faltete und das Kinn auf seinen Händen ablegte. So war sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, und ich war froh zu liegen, denn Noahs Anblick – besonders wenn er mir so nah war – verwandelte meine Knie in Pudding. Er hinterfragte Belanglosigkeiten: meinen Geburtstag und mein Lieblingsessen, meine Hobbies und welche Musik ich gerade hörte.

Ich erfuhr, dass er bereits achtzehn war, wenn auch erst seit einem Monat, denn er hatte am 14. August Geburtstag. Ein Löwe, das passte.

Er spielte Gitarre und Klavier, zog die Saiten aber den Tasten vor. Er aß am liebsten Pizza und Steak und hasste Spinat und Kohlrabi. In seinen Notizblock schrieb er alles, was ihm durch den Kopf ging. Belanglosigkeiten, wie er es nannte. Diese Notizen bewahrte er auf, ohne sie noch einmal durchzulesen. Seitdem er zu den Franklins gekommen war, hatte er auf diese Weise sechs Umzugskartons schriftgewordener Gedanken angesammelt.

Je länger wir sprachen, desto relaxter wirkte Noah und desto größer wurde die Versuchung, mich vorzubeugen – nur ein kleines Stück –, um dieses unfassbar schöne Gesicht endlich zu berühren. Ich wollte fühlen, ob seine Haut wirklich so weich und eben war, wie sie aussah. Und ob seine Bartstoppeln – nur im leisesten Ansatz erkennbar – tatsächlich so an meinen Handflächen kitzelten, wie ich es mir seit geraumer Zeit ausmalte.

Immer wieder gelang es mir, mich im letzten Moment zurückzuhalten – auch wenn das von Minute zu Minute schwieriger wurde.

Mein Blick fiel auf die Uhr seines Radioweckers, als die Anzeige gerade auf 2:30 Uhr umsprang. „Wow!“, entfuhr es mir. Wo war die Zeit geblieben? Oder Lucy? Oder Kathy? Oder sonst irgendjemand? Keiner hatte nach mir gesucht. War unser Verschwinden denn so eindeutig gewesen?

Und müsste mir diese Vermutung nicht eigentlich peinlich sein?

Noah, der mittlerweile vollkommen entspannt wirkte, folgte meinem Blick zu seiner Uhr und sah mich dann schuldbewusst an. „Es ist spät. Du willst bestimmt schlafen ...“

Schlafen? Klar, als ob das jetzt möglich wäre.

Dieser Junge hatte wirklich nicht den leisesten Schimmer, was er mit mir anstellte. Doch seine Worte brachten etwas zurück in meinen Sinn. „Ich bin dran“, rief ich schnell und entlockte ihm sein atemberaubendes schiefes Lächeln.

„Na dann, schieß los!“

„Wie lange schläfst du schon nicht mehr richtig?“

Sofort entgleisten seine amüsierten Züge. „Lange“, sagte er nach einiger Zeit.

„Wie lange?“, beharrte ich.

„Seitdem ich denken kann“, gestand er leise.

Ich war zu geschockt, um auf seine Antwort einzugehen. Was hatte man ihm nur angetan?

Nach ein paar Sekunden sah er zu mir auf. „Ich bin dran.“

„Bitte“, wisperte ich, noch immer geschockt von seinem Geständnis. Noah öffnete ein paarmal seinen Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Zumindest wusste ich so, dass ihn die nächste Frage Überwindung kostete.

„Was stellst du dir vor, wie es nun ... weitergehen soll?“, stammelte er schließlich.

„Mit uns?“ Er nickte hastig. Grübelnd betrachtete ich ihn. Sein schönes, geradliniges Gesicht, die langen Wimpern, das ausgeprägte Kinn mit der leichten Einkerbung – von der ich nach wie vor nicht wusste, ob es nicht doch eher eine kleine Narbe war – und den perfekt geschwungenen Mund. Noah war so unfassbar schön ... und so nah.

Ich bräuchte wirklich nur meine Hand auszustrecken und schon könnte ich sie berühren, diese Lippen.

Sie wirkten wie Magnete auf mich. Wenn er mich gefragt hätte, was ich gerade jetzt am liebsten getan hätte, wäre ich mit einer ehrlichen Antwort nicht daran vorbeigekommen, mich und ihn in Verlegenheit zu bringen. Denn in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ihn zu küssen. Schnell senkte ich meinen Blick und schüttelte den Kopf.

„Lass uns einfach ... keine Ahnung ... zusammen abhängen”, schlug ich vor.

„Ich hänge nicht ab”, erwiderte Noah und verzog das Gesicht.

„Nun, du könntest abhängen”, beharrte ich auf meiner eigenwilligen Wortwahl. „Häng mit mir ab!“

„Okay“, willigte er nach einer Weile ein. Ich bemerkte seine Unsicherheit.

„Lass uns Freunde sein ... erst einmal. Wir werden sehen, wohin uns das führt.“ Sorgsam wählte ich das wir in meinem Satz, auch wenn natürlich Noah das Tempo vorgeben würde. Denn ich war zugegebenermaßen jetzt schon bereit für den nächsten Schritt. Ich wollte ihm nah sein, ihn spüren. Irgendwie. Seine Hand, seine Haare, sein Gesicht, ganz egal was. Irgendwas. Doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und sah ihn nur stumm an.

Noah hielt meinen Blick sehr lange, dann nickte er endlich. „Freunde“, wiederholte er leise.

„Erst einmal“, fügte ich schnell hinzu und entlockte ihm ein Lächeln.

„Erst einmal.

Plötzlich wurden Stimmen im Treppenhaus und auf dem Korridor laut. Ich erkannte Kathys Kichern und Lucys Tippelschritte, bevor die Laute hinter einer zufallenden Zimmertür verschwanden.

Noah und ich hatten die Luft angehalten. Was dämlich war, denn natürlich wussten die beiden, dass wir uns zusammen hier oben aufhielten.
Als Lucys Tür zufiel, atmete ich tief durch und nickte Noah kurz zu. Wir beide wussten, dass unser gemeinsamer Abend beendet war.

„Schlaf gut“, flüsterte ich und setzte mich langsam auf. Er lachte sein kleines bitteres Lachen und massierte wieder einmal seinen Nacken.

„Wir werden sehen”, murmelte er. „Aber du schläfst gut, verstanden?“

„Jawohl, Sir!“, antwortete ich mit ernster Miene und deutete einen militärischen Gruß an.

Er grinste. „Brav.“

Als ich mich von seinem Bett erhob, wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernster und sein besorgter Blick glitt zu meinem bandagierten Fuß. „Alles okay“, versicherte ich ihm. Es tat wirklich kaum noch weh. „Ehrlich, es geht mir sehr gut.“

An seinen Augen erkannte ich, dass er verstand. Nein, meine Aussage bezog sich definitiv nicht nur auf meinen Fuß. Schüchtern senkte er seinen Blick. Ich konnte nicht fassen, wie sehr sich das verschwommene Bild, das ich zuvor von ihm gehabt hatte, in den vergangenen Stunden gewandelt hatte.

Dann aber erwischte mich Noah kalt, als er flüsterte: „Wo warst du nur mein Leben lang?

Ich sah ihn ungläubig an, nicht fähig mich zu rühren, geschweige denn klar zu denken. Als ich endlich aus meiner Verzückung schnappte, hatte ich ihm meine Antwort bereits gegeben. Wie von selbst waren die Worte über meine Lippen geschlüpft. „Auf meinem Weg zu dir.“