XIII.

 

Noah zuckte zusammen und entzog sich meinen Armen, bevor ich mich darauf vorbereiten konnte. Der Verlust war sofort spürbar; ich fühlte mich ... leer.

Er sah mir zu, wie ich das Essen zusammenräumte und zurück in meinen Rucksack packte. Gemeinsam gingen wir zurück ins Schulgebäude. Die restlichen Unterrichtsstunden würden wir getrennt voneinander hinter uns bringen müssen, und er schien dazu ebenso wenig Lust zu haben wie ich. Langsam, ohne die geringste Motivation, schlenderte er neben mir her, zu unseren Schränken. Neugierige, amüsierte und teils auch verblüffte Blicke verfolgten uns bei jedem Schritt. Mir war das egal. So sehr ich bislang versucht hatte bei meinen Mitschülern kein Aufsehen zu erregen, so gleichgültig war es mir nun.

Sollten sie doch starren, na und?

„Möchtest du nachher mit uns fahren?“, fragte Noah leise, als ich die Tür meines Spinds verschloss.

„Sehr gerne”, erwiderte ich lächelnd. „Wenn du willst, kannst du auch noch mit zu mir kommen. Jay und mein Dad kommen erst heute Abend nach Hause.“

Ich musste mir echt etwas einfallen lassen, so konnte das unmöglich weitergehen. Ich konnte nicht jedes Mal tiefrot anlaufen, wenn ich ihn bat mich zu besuchen. Das war wirklich entwürdigend.

Noah jedoch lächelte mir nur zu und nickte. Meine Gesichtsfarbe, á la Tomate mit Sonnenbrand, ignorierte er dabei großzügig. „Okay”, antwortete er, „Dann bis nachher.“ Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand strich er für einen winzigen Moment über meine Wange, bevor er sich umdrehte und mit seinen markant großen Schritten davonmarschierte.

„Bis nachher”, flüsterte ich versonnen, ohne dass er es noch hören konnte.

Als Noah um die Ecke bog und sich meine Benommenheit auflöste, schüttelte ich meinen Kopf und prüfte schnell auf meinem Stundenplan, was als nächstes anstand. Biologie, richtig. Also los, Konzentration! Nur noch zwei Schulstunden meines Lieblingsfachs, dann würde ich ihn wiedersehen. Das war zu schaffen, ... oder?

„Ha!“, rief eine triumphierende Glockenstimme hinter mir. Schon hakte sich der dazugehörige, zierliche Arm bei mir unter. Von der anderen Seite kam ein zweiter, nicht ganz so zierlicher Arm dazu. „Wir haben alles gesehen”, flüsterte mir Kathy verschwörerisch zu.

„Was habt ihr gesehen?“ Ich drehte mich um und sah die beiden herausfordernd an.

„Wie er dich angesehen hat, wie er dich angelächelt hat, wie er dir über die Wange gestreichelt hat”, sprudelte es aus Lucy hervor, die wieder einmal haltlos auf und ab hüpfte und vor Begeisterung nur so strahlte.

„Schon gut, nicht so laut!”, ermahnte ich sie und spürte dabei, dass ich erneut puterrot anlief.

Kathy lächelte mich lieb an. „Du bist der Hammer, Emily! Wer hätte gedacht, dass du den Eisblock so schnell zum Schmelzen bringst?“

Empört stützte Lucy die Hände in die Hüften, aber dieses Mal kam ich ihr zuvor. „Noah ist kein Eisblock! Er ist ... das Gegenteil von einem Eisblock”, sagte ich bestimmt und funkelte Kathy wütend an.

„Wie auch immer. So lange du glücklich bist und er dich nicht verletzt, freue ich mich für dich, Emily.“

Gemeinsam schlenderten wir in den Biologieraum. Adrian saß bereits an seinem Tisch und sah mich aus traurigen, samtbraunen Augen an. Schon in den ersten Unterrichtsstunden hatte er mich immer wieder so angeschaut. Ich war mir sicher, dass er es mir übel nahm, Noah von unserem Gespräch erzählt zu haben. Und es tat mir weh, dass er dachte, ich hätte sein Vertrauen in irgendeiner Weise missbraucht.

Also nutzte ich die verbleibende Zeit, um ein Blatt aus meinem Notizblock zu reißen und ihm eine eilige Botschaft zukommen zu lassen.

 

Es tut mir leid, aber ich musste es ihm sagen. Ich verspreche dir, es wieder geradezubiegen, Adrian. Du bist der beste Bruder, den sich Noah hätte wünschen können. Irgendwann wird auch er das sehen.

 

Unmittelbar bevor der Unterricht begann, warf ich meine Nachricht auf Adrians Tisch. Er las sie, und als er mich daraufhin ansah, nickte ich ihm lächelnd zu.

 

Ist er nicht mehr sauer?

 

... fragte Adrian in seiner Antwort. Ich schüttelte den Kopf, bevor ich zurückschrieb:

 

Er hat mich sogar gefragt, ob er mich nach Hause bringen soll.

 

Adrian las ... und sah mich mit großen Augen an, bis ein Lächeln seinen Mund umspielte. Eilig schrieb er die letzten Worte unseres heimlichen Austauschs:

 

Emily Rossberg, du vollbringst Wunder.

 

Lucy entging der Schriftwechsel nicht. Fragend blickte sie zwischen uns hin und her. Adrian erbarmte sich schließlich, beugte sich vor und klärte seine neugierige Schwester kurz auf.

Irgendwie schaffte ich es tatsächlich, mich zumindest ein wenig auf den Biologieunterricht zu konzentrieren. Nur die letzte Viertelstunde kroch dahin; sie wollte einfach nicht verstreichen. Kaum ertönte das schrille Läuten der Schulklingel, sprang ich auf und packte meine Bücher zusammen.

Im nächsten Augenblick unterbrach die gutmütige Stimme meines Lehrers meine Gedanken. „Nicht so hastig, Miss Rossberg. Ich hatte schon noch vor, Ihnen eine Hausaufgabe mit auf den Weg zu geben.“ Kathy kicherte neben mir und auch Lucy hielt sich die Hand vor den Mund. Sogar um Adrians Mundwinkel zuckte es amüsiert.

„Warum denn so eilig?“, flüsterte er mir zu und entlockte seiner Schwester damit ein weiteres Kichern. Alle anderen sahen mich verdutzt an. Ich war tatsächlich als Einzige aufgesprungen.

Beschämt sank ich zurück auf meinen Stuhl und studierte angestrengt die Holzmaserung meiner Tischplatte.

„Mach doch langsam, er wird schon auf dich warten”, wisperte mir Kathy zu und ließ sich auch durch meinen kurzen, bitterbösen Seitenblick nicht von ihrem breiten Grinsen abhalten.

Im Gang hakte sich Lucy von der einen Seite bei mir unter, während Adrian auf der anderen neben mir her rollte. Obwohl es eine lieb gemeinte Geste der beiden war, mich auf diese Art zu ihrem Auto zu führen, wäre ich lieber allein gegangen. Ich wusste nicht, was Noah von dieser Art Begleitschutz hielt. Zu meinem Erstaunen äußerte er sich nicht dazu.

Er lehnte bereits am Amarok, als wir den Parkplatz überquerten. Sein Blick streifte Lucy, und ein kleines Zucken erfasste seine Mundwinkel. Dann sah er mich an, bis ich nur einen halben Meter vor ihm stehen blieb. Lucy hakte sich punktgenau aus – es wirkte fast beiläufig – und half Adrian beim Einsteigen.

„Hi!“, begrüßte ich Noah leise. Meine zittrige Stimme war unmöglich, sie verriet mich immer wieder aufs Neue.

„Hi!“, erwiderte er und schenkte mir den vagen Ansatz eines Lächelns. Ihn in diesem Moment zu küssen, wäre mir als das Normalste der Welt erschienen. Mich krampfhaft davon abzuhalten hingegen ... nicht. Ob es ihm genauso ging? Eine Frage, die mich brennend interessierte.

Noah wandte sich Lucy zu, die mit dem Rollstuhl kämpfte. „Komm, ich mache das”, sagte er ruhig.

Seine Schwester blickte verblüfft zu ihm auf. „Danke.“

„Gern.“

Auch ich war erstaunt. So nett hatte ich Noah noch nie sprechen hören. Außer zu mir natürlich.

Geschickt verstaute er Adrians Rollstuhl und öffnete uns anschließend sogar die Tür. Ich schlüpfte neben Lucy auf die Rückbank und rührte mich nicht mehr, sobald ich mich angeschnallt hatte. Was nicht weiter auffiel, denn Lucy brabbelte sofort drauflos und redete genug für uns alle.

„Am Samstag gehen Tom und ich ins Kino. Hat einer von euch Lust mitzukommen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Adrian lachte. „Findest du es klug, uns zu deinem Date einzuladen?“

„Ein Date?“, wiederholte Lucy verdutzt. „Oh, meinst du wirklich, dass ...? So habe ich das gar nicht gesehen.“

„Ich glaube jedenfalls nicht, dass Tom begeistert sein wird, wenn du deine Brüder und eine Freundin zu eurer ersten offiziellen Verabredung mitbringst”, gab Adrian zu bedenken.

Ich beobachtete, wie sich Noahs Hände fester um das Lenkrad schlossen. „Scheißegal, ob Tom begeistert ist oder nicht. Wenn sie noch nicht bereit dazu ist allein mit ihm wegzugehen, dann hat er das verdammt noch mal zu akzeptieren”, sagte er gepresst und sorgte mit diesem Statement für sekundenlange Stille im Wagen.

Lucys Mund stand offen; Adrian sah Noah fassungslos an.

„Was?“, blaffte der ungehalten, als der eindringliche Blick seines Bruders seine Nerven überspannte.

„Nichts, schon gut“, beeilte sich Adrian mit seiner Antwort. „Ich war bloß erstaunt, weil ... Du hast natürlich recht. Lucy muss entscheiden, ob sie soweit ist. Wenn Tom Probleme damit hat, dann ...“

„... Zur Hölle mit ihm!”, beendete Noah den Satz seines Bruders.

Wieder sah Adrian ihn von der Seite aus an, dieses Mal jedoch kürzer und nicht ganz so schockiert. Nach wenigen Sekunden zuckte sein Mund und verzog sich zu einem Lächeln. „Ja, genau. Dann zur Hölle mit ihm!“

Noahs Hände entspannten sich wieder. Ich suchte seinen Blick im Rückspiegel und hielt ihn so lange, bis das helle Türkis alle Härte verloren hatte und er zurück auf die Straße sah.

„Jungs, Jungs ... ganz ruhig”, meldete sich Lucy derweil zu Wort. „Tom war bisher der perfekte Gentleman. Es gibt nicht den leisesten Grund für eure zugegebenermaßen ziemlich süße Sorge.“

„Gut“, erwiderten beide Brüder wie aus einem Mund.

Wieder kehrte die Stille von zuvor ein, doch dann geschah etwas Eigenartiges: Wir prusteten los, alle gemeinsam, wie auf Kommando ... Alle, außer Noah.

Ich sah an seinen Schultern, dass er zusammenzuckte. Schon schoss mir sein erschrockener Blick aus dem Rückspiegel entgegen. Mir blieb die Luft weg, war ich mir doch für einen Moment sicher, den Bogen mit unserem Gelächter überspannt zu haben. Doch mit einem Mal sah ich wieder die Veränderung seiner Augen – diesmal nur viel stärker als zuvor. Kleine Fältchen legten sich um die äußeren Winkel. Trotzdem ich die Wandlung seines Blickes wahrnahm, brauchte ich einige Sekunden um zu begreifen, dass Noah tatsächlich mit uns lachte.

Ich fühlte, wie sich ein frischer Schwall dieser großen Wärme um mein Herz legte. Sein ärgerlicher Ton, unsere Anspannung, die beklemmende Stille von zuvor – all das war mit Noahs Grinsen vergessen. Die finstere Stimmung löste sich auf, mühelos und ohne Spuren zu hinterlassen. Wie eine Schneeflocke, die auf Wasser traf.

„Hätte nie gedacht, dass wir mal einer Meinung sind”, rief Adrian und warf seinem Bruder dabei einen schelmischen Seitenblick zu.

Erst als wir uns einigermaßen beruhigt hatten, sah Noah ihn an. „Passiert öfter als du denkst.

 

Für den Rest der Fahrt lauschten wir Lucy und ihrem unbeschwerten Gebrabbel. Die Erkenntnis, dass Tom sie zu einem Date eingeladen hatte, versetzte sie in Höchststimmung. Erst als Noah den Amarok in die Einfahrt der Franklins-Villa lenkte, bemerkte Adrian: „Ähm ... wolltest du Emily nicht nach Hause fahren?“

Noah nickte. „Doch, jetzt!“

Adrians Stirn, die für wenige Sekunden in Falten gelegen hatte, glättete sich unter seinem zufriedenen Schmunzeln. Lucy machte keinen Hehl aus ihrer Begeisterung darüber, dass Noah offensichtlich mit mir allein sein wollte. Sie quietschte auf und griff nach meiner Hand, die sie fest in ihrer drückte.

Noah verdrehte die Augen und sprang aus dem Wagen, um den Rollstuhl aus dem Kofferraum zu holen. Er klappte ihn auf und schob ihn zu seinem Bruder, der sich schnell in den Sitz hievte.

„Bis morgen, Emily!“, rief Adrian mir mit einem Zwinkern zu.

Lucy drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Viel Spaß, Süße! Erzähl mir alles, ja?“ Sie strahlte noch immer.

Noah saß inzwischen wieder auf dem Fahrersitz. Mit Augen, die sich von Sekunde zu Sekunde weiter verengten, blickte er in den Rückspiegel. „Bleibst du da hinten sitzen?“, fragte er schließlich, als Lucy gerade die Autotür hinter sich zugeworfen hatte.

Schnell schnallte ich mich los.

„Klettere zwischen den Sitzen hindurch“, schlug Noah vor und reichte mir seine Hand. Ich hätte sie nicht gebraucht, trotzdem ergriff ich sie sofort.

 

Jasons Motorrad stand nicht auf seinem Stellplatz; ich atmete tief durch. Mein Dad würde wahrscheinlich erst mitten in der Nacht zurückkommen. Sie drehten an diesem Abend in einer Diskothek.

Noah stellte den Motor ab und sah mich an. „Bist du sicher, dass ich mit reinkommen soll?“, fragte er.

Ich hätte nicht schneller nicken können. Und ob ich mir sicher war.

Nebeneinander gingen wir auf die doppelflügelige, weißlackierte Haustür zu. Ich fummelte nervös mit meinen Schlüsseln herum und stolperte dann über die kleine Erhebung in der Türschwelle, als würde nicht Noah, sondern ich selbst zum ersten Mal unser Haus betreten.

„Möchtest du etwas essen?“, fragte ich – einfach, weil es das Erste war, was mir einfiel.

„Nein danke, aber ... Wasser wäre toll“, sagte er leise.

Also schenkte ich uns beiden ein Glas ein und reichte ihm seines.

Noah lächelte mir nur kurz zu, bevor er sich weiter umsah. Seine Unsicherheit war überdeutlich spürbar – vermutlich ähnlich stark wie meine eigene.

„Komm!“, sagte ich, als er ausgetrunken hatte. Endlich gab ich dem Bedürfnis nach, ihm meine Hand entgegenzustrecken.

Hand in Hand erklommen wir die Stufen unserer breiten Marmortreppe – so leise, dass ich an ihm herabblickte um mich zu vergewissern, dass er seine Schuhe noch trug. Tat er. Noah hatte jedoch die Gabe, sich lautlos wie ein Schatten zu bewegen, das war mir schon zuvor aufgefallen.

Verlegenheit überkam mich, als ich die Klinke zu meinem Zimmer herabdrückte. Außerhalb meiner Familie hatte bisher nur Kathy diesen Raum betreten. Jemandem sein Zimmer zu zeigen, bedeutete immer ein großes Stück von sich selbst preiszugeben. Allerdings – wie viel von mir steckte schon in diesem Zimmer, das mir selbst immer noch nicht wie mein eigenes vorkam? Es war aufgeräumt, aber nicht lupenrein – so, wie ich war – und es beinhaltete nur wenige persönliche Gegenstände – so, wie ich mich hier fühlte. Fremd.

Gut, vielleicht besaß es tatsächlich eine gewisse Aussagekraft.

Ich löste meine Hand aus Noahs und bedeutete ihm den Vortritt. Zögerlich ließ er seinen Blick wandern. Er sagte nichts und zeigte auch keinerlei Regung.

„Ich ... ähm ...“, stotterte ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Die Stille und plötzliche Anspannung verunsicherten mich.

„Eine Gitarre?“, fragte Noah. Zielstrebig ging er auf das alte Instrument zu, das an meinem Kleiderschrank lehnte und langsam, aber sicher Spinnweben ansetzte.

„Ich kann nicht spielen“, platzte es aus mir heraus, bevor er fragen konnte. „Ich würde es gerne lernen, aber ... Ich hab sie auf einem Trödelmarkt in Manchester gekauft. Weiß nicht einmal, wie man das Ding stimmt.“

Noah sah mich lange reglos an. Dann nahm er die Gitarre und setzte sich mit ihr auf seinen Knien in meinen Schaukelstuhl. Mein Blick fiel auf die Lehne, über der eine von Jasons Boxershorts hing. Eine von denen, die ich für gewöhnlich zum Schlafen trug.

Schnell durchkreuzte ich den Raum, fischte sie mit einer hastigen Bewegung von der Lehne, ließ sie auf den Boden fallen und bugsierte sie mit einem mehr oder weniger unauffälligen Tritt unter mein Bett.

Noah schlug derweil einen Akkord an. Es klang grausig, also drückte er die Saiten schnell mit seiner flachen Hand ab, um unsere Ohren zu erlösen. „Nein, du hast wirklich keine Ahnung, wie man das Teil stimmt“, murmelte er schmunzelnd.

Dieses Mal streckte ich ihm die Zunge heraus – zu oft hatte ich mir die Geste in den letzten Tagen schon verkniffen.

„Freches Ding!“, brummte Noah, ohne überhaupt zu mir aufgeschaut zu haben, und erhob sich dann. Ich war mir sicher, er würde die verwaiste Gitarre zurück an ihren Platz stellen, doch er überraschte mich, indem er zu meinem Bett ging und sich langsam auf der Kante niederließ. „Kommst du?“, fragte er so selbstverständlich, dass ich tatsächlich sofort begriff, was er im Sinn hatte.

Ja!, dachte ich. Stimmen wir diese Gitarre.

Ich setzte mich neben ihn und hielt den Abstand, den er bisher immer benötigt hatte, um sich einigermaßen zu entspannen. Und wieder überraschte mich Noah, indem er selbst die Lücke schloss und so nah an mich heranrückte, dass sich unsere Ellbogen berührten.

„Plektrum?“, fragte er.

„Hm?“, machte ich und entlockte ihm damit ein belustigtes Seufzen.

„Das Plättchen, mit dem man die Saiten anschlägt“, erklärte er unter hochgezogenen Augenbrauen.

„Oh!“, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. „War nicht dabei.“

„Stimmgerät?“

Ich schüttelte den Kopf.

Noah seufzte erneut, bevor sich ein nachsichtiges Lächeln über sein Gesicht legte. Dann reichte er mir meine Gitarre und fasste mit beiden Händen an seinen Nacken. Er fummelte eine Weile, doch erst als mein Blick auf seine Kette fiel, die mir noch nie zuvor aufgefallen war, begriff ich, dass er den Verschluss öffnete. Nun, Kette war übertrieben. Es war ein dünnes schwarzes Lederband, das ihm vermutlich bis zur Brust reichte, so lang war es. Noah zog es hervor und brachte einen kleinen Anhänger zutage.

„Ein Plektrum“, staunte ich.

„Siehst du, jetzt bekommt es einen Sinn“, erwiderte Noah.

„Warum ...?“

„Es kann nicht schaden, immer gerüstet zu sein“, beantwortete er meine unvollendete Frage und nahm die Gitarre wieder an sich.

„So hältst du sie“, erklärte er. „Und dann beginnst du ganz oben. Das ist die tiefe E-Saite. Du drückst die Saite im fünften Bund runter ...“

„Bund?“

„Die Zwischenräume zwischen diesen kleinen Stegen am Hals. Du zählst vom Kopf ...“ Er deutete auf den oberen Teil der Gitarre mit den vielen Stellschrauben „... zum Korpus“.

Warum auch immer, aber die Art, wie er Korpus sagte, ging mir durch und durch. Ein leichtes Schaudern erfasste mich. Noah schien es nicht zu bemerken; er fuhr unbeirrt fort.

„Der fünfte Bund ist also dieser hier. Die leere Saite darunter ist die A-Saite. Sie muss genauso klingen wie die E-Seite, wenn du sie im fünften Bund hältst.“

„Okay“, sagte ich tonlos.

Noah reichte mir die Gitarre und beobachtete, wie ich meine ungeschickten Hände über den Saiten und am Hals des armen Instruments platzierte. „So?“, fragte ich, als ich meine Finger auf die E-Saite herabdrückte.

Noah schüttelte den Kopf. „Nein.“

Na toll! Mir blieb nicht genug Zeit, um mutlos zu werden; schon griff er über mich, drückte mit einem einzelnen Finger gegen meine Handinnenfläche und verlieh ihr damit eine hohlere Form.

„Du drückst sonst gegen die A-Saite. Dann kannst du die Töne nicht vergleichen“, erklärte er.

Ich schluckte. Hart. Seine Nähe war unbeschreiblich, und seine Stimme, die Art, wie er erklärte – voller Geduld und mit einer unglaublichen Ruhe –, all das beraubte mich wieder einmal meines Atems.

Ich nickte und achtete darauf, mit meinen Fingern eine Brücke über die Saiten zu schlagen, die unberührt bleiben sollten. Noah nickte zufrieden. „Genau so.“

Vorsichtig schlug ich die E-Saite an und dann die darunterliegende A-Saite. Ich kniff die Augen zu und duckte den Kopf zwischen meine hochgezogenen Schultern, so schrecklich durchfuhr mich der Klang.

„Das klingt überhaupt nicht gleich“, maulte ich und freute mich im nächsten Augenblick über Noahs Lachen.

„Das ist der Grund, warum wir sie stimmen, nicht wahr?“ Mit seinem Finger verfolgte er die A-Saite bis zum Kopf und zeigte mir, in welche Richtung ich die entsprechende Stellschraube drehen musste.

Ich probierte ziemlich lange herum, bis die Töne endlich identisch klangen. „Ich glaube ...“ Noch einmal zupfte ich mit dem Plektrum über beide Saiten. „... ich hab`s.“

Keine Reaktion. Als ich aufblickte, sah ich direkt in seine Augen. Keine dreißig Zentimeter entfernt, hielt er meinen Blick und lächelte. So sanft wie noch nie zuvor.

„Ja“, sagte er nach etlichen Sekunden leise. „Du hast es.“

Erst als meine Wangen zu schmerzen begannen, bemerkte ich, wie sehr ich ihn anstrahlte. „Und weiter?“

Gemeinsam stimmten wir meine Gitarre. Mein Höhenflug ließ schnell wieder nach, als Noah mir einige Akkorde zeigte. Die richtigen Saiten herabzudrücken, ohne die anderen dabei zu berühren – bei den Musikern sah das immer so einfach aus, so mühelos, aber ...

„Ich bin völlig talentfrei“, jammerte ich.

„Überhaupt nicht. Du machst das sehr gut“, ermutigte er mich. „Außerdem ist gar nicht so viel dabei. Es gibt tausende von Songs, die auf nur drei Grundakkorden basieren. Also, Geduld.“

Er korrigierte die Platzierung meines Ringfingers ein wenig; sofort entspannte sich die bislang verkrampfte Haltung meiner Hand.

„Wer hat dir das Spielen beigebracht?“, fiel mir plötzlich ein.

„Ich mir selbst“, erwiderte Noah mit einem Schulterzucken und setzte sich auf.

„Wie?“, fragte ich voller Bewunderung.

Wieder ein Schulterzucken. „Bücher, Videos, Internet ...“

Ich sah ihn einen Moment lang an und stellte mir vor, wie er allein in seinem Zimmer gesessen und gespielt hatte. Traurig blickte ich auf die Gitarre in meinem Schoß herab. „Und das Klavierspielen?“

„Auch. Lucy bekam einige Jahre lang Unterricht.“ Er rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf, mit den Gedanken offenbar weit, weit weg. „Wenn jemand talentfrei ist, dann sie, glaub mir! ... Ich ...“ Noah zögerte kurz, doch dann gab er sich einen Ruck. „Ich habe mir ihre Noten kopiert und ein Keyboard gekauft, um in meinem Zimmer üben zu können.“

„Warum haben Joe und Marie dich nicht unterrichten lassen?“, fragte ich intuitiv. Noahs Blick hielt die Antwort bereits. „Du wolltest nicht.“

„Ja. ... Manchmal war ich allein, dann habe ich mich an Lucys Klavier gesetzt, aber irgendwann dachte ich, eine Gitarre wäre besser.“

„Mit ihr warst du freier“, ergänzte ich, mehr für mich selbst als an ihn gewandt. „Wissen die anderen überhaupt, dass du spielen kannst?“

„Bestimmt haben sie mich schon das eine oder andere Mal gehört.“

„Aber du spielst nicht für sie.“

„Ich spiele für niemanden“, sagte Noah bestimmt.

„Spiel für mich!“, forderte ich und legte meine Gitarre auf seine Knie. Er schüttelte den Kopf und wich zurück, doch als ich meine Hände wegzog und das Instrument von seinen Beinen zu rutschen drohte, griff er reflexartig zu. So geschickt, dass er es sofort richtig hielt.

„Spiel für mich, Noah!“, bat ich mit sanftem Nachdruck.

Er seufzte. Dann, ich konnte es kaum glauben, setzte er sich auf, zog sein angewinkeltes linkes Bein auf mein Bett und verschränkte den Fuß unter seinem rechten Knie. „Für dich“, flüsterte er, bevor er den ersten vorsichtigen Akkord anschlug. Ich lauschte seinem Spiel nur wenige Sekunden, schon spürte ich, wie brennende Tränen hinter meinen Augen aufstiegen und meine Hände zu zittern begannen. Hätte ich am Tag unserer ersten Begegnung die Möglichkeit gehabt ihn spielen zu hören – seine düstere Erscheinung hätte mich nie täuschen können. Nicht mal für einen Augenblick.

Noahs Schmerz, sein Kummer, seine Sehnsucht – der Kern seiner wunderschönen Seele, so war es mir – klangen in der ruhigen Melodie wider. Sein Atem ging regelmäßig, seine Gesichtszüge wirkten entspannt, sein Blick glitt zwischen seinen Händen hin und her.

„Noah“, hauchte ich, als der Schlussakkord verhallt war und er die Gitarre neben sich auf dem Bett ablegte. Es verstrichen weitere Sekunden, in denen ich verzweifelt nach Worten suchte, die meiner Erleichterung, meiner Bewunderung, meiner Zuneigung ... diesem warmen Gefühl, das mich in seiner Anwesenheit permanent umschlossen hielt, Ausdruck verleihen konnten. Ich scheiterte und schloss meinen Mund irgendwann, ohne etwas gesagt zu haben.

Im selben Moment ertönte ein unverwechselbares Poltern, das Noah und mich zusammenschrecken ließ. „Emilyyyyy!“, rief Jason von der Treppe.

„Ich befürchte, ob du willst oder nicht, du wirst gleich meinen Bruder kennenlernen“, brachte ich so gerade noch hervor, bevor meine Zimmertür aufflog und Jay breitbeinig im Türrahmen stand.

„Ähhh ...“, sagte er, als er nach einer gefühlten Ewigkeit den ersten Schock verwunden und seine hängende Kinnlade wieder unter Kontrolle gebracht hatte. Ich blickte entschuldigend auf Noah, der Jay reglos anstarrte. Ganz recht, die Wortgewandtheit lag in der Familie.

„Du hast Besuch“, stellte mein Bruder trefflich fest. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu antworten. Noahs spürbare Anspannung versetzte mich in Panik. Mit ausdruckslosem Gesicht saß er neben mir und hielt Jasons Blick. Der schaute immer noch so ungläubig, dass es einer Beleidigung gleichkam.

Ja, da sitzt ein unglaublich gutaussehender Junge auf meinem Bett, direkt neben mir, Jay. Und?

„Gehört der Amarok zu dir?“, fragte mein Bruder in die Stille.

Noah nickte hölzern.

„Cooles Teil!“, befand Jason mit einem anerkennenden Nicken. Dann ging er direkt auf Noah zu und hielt ihm seine Hand hin.

„Hi, ich bin Jason.“ Gebannt hielt ich den Atem an. Was würde Noah jetzt tun? Er, der niemanden berührte ...

Nun, er streckte, so zögerlich, dass das Lächeln meines Bruders zu bröckeln begann, seine Hand aus und ... ballte sie zu einer Faust. Sofort kehrte das Grinsen in Jasons Gesicht zurück, dann stieß er seine Faust gegen Noahs und nickte ihm zu.

„Das ist Noah Franklin“, erklärte ich so förmlich, dass ich bereits in diesem Augenblick ahnte, mein Bruder würde mir das noch unter die Nase reiben. Nun, von mir aus, aber ... später!

„Ähm, Jason? Gibt es einen Grund dafür, dass du meine Zimmertür aus ihrer Verankerung gerissen hast?“, fragte ich schnell, bevor mein Bruder weitere Kommunikation – oder das, was er darunter verstand – betreiben konnte.

Er wandte den Kopf und blickte in Richtung Tür, als wollte er sich versichern, dass sie noch fest in den Angeln hing. Dann kratzte er sich am Hinterkopf. „Essen“, fiel es ihm wieder ein. „Ich wollte wissen, was du zu essen machst.“

Abendessen meinst du?“, fragte ich und versuchte dabei, meine volle Entrüstung in meinen Blick zu legen.

Jason nickte unbeeindruckt.

„Es ist nicht einmal vier Uhr nachmittags“, empörte ich mich.

Sein Lachen klang so unbeschwert wie das eines Erstklässlers. Ein Lachen, das meine Wut stets am Überkochen hinderte. „Bin schon draußen“, rief er mit einer abwehrenden Geste und wandte sich zum Gehen. Die Hand bereits auf der Türklinke, drehte er sich noch einmal um. Das markante, breite Grinsen dehnte sich über sein Gesicht und ließ seine Augen schelmisch aufblitzen. „Scheiße, irgendetwas läuft hier vollkommen falsch. Meine kleine prüde Schwester hat einen Kerl auf ihrem Zimmer und meines erwartet mich nach wie vor leer. So hatte ich mir Amerika nicht vorgestellt.“

Ich griff nach einem Kissen und pfefferte es gegen die Zimmertür, die sich im Moment des Aufpralls hinter meinem Bruder schloss.