VII.
„Emily? Emily?“ Seine samtweiche Stimme war so weit weg. Klang, als riefe er meinen Namen in ein dickes Kissen.
„Lucy, komm hoch und bring Tom mit! Irgendwas stimmt nicht mit ihr.“
Ich spürte Noahs Arme um meine Taille. Er hielt mich sanft und doch so sicher. Was für ein schöner Traum.
„Emily“, flüsterte er dicht an meinem Gesicht. Sein süßer Atem traf mich und jagte mir eine Gänsehaut über die Arme.
Moment mal! Für einen Traum ist dieser hier verdammt real.
Ich versuchte zu blinzeln, doch es war zu hell. Sofort drehte sich wieder alles, die tanzenden Lichter waren zurück. Im Hintergrund hörte ich leichte, schnelle Schritte. Absätze, die über Parkett klackerten. Dasselbe Parkett, das ich auch unter meinen schlaffen Armen spürte. Noahs Hand verkrampfte sich an meinem Rücken, bevor ich spürte, wie er ein wenig zurückwich. Oh Gott, ich bin nicht wirklich ...
„... ohnmächtig geworden, einfach so. Plötzlich ist sie einfach zusammengeklappt”, hörte ich seine atemlose Stimme.
„Oh nein!“, rief Lucy.
„Schon gut, mein Junge. Es ist nicht deine Schuld“, versicherte ihm eine tiefe Stimme, die mit Sicherheit nicht zu Tom gehörte.
Mr Franklin! Zum zweiten Mal an diesem Abend? Oh nein!!! Herr, erlöse mich! Wenn möglich, dann schmerzlos. Und ... SCHNELL!
„Emily?“, sagte die tiefe Stimme, während eine riesige Hand meine Wange tätschelte. Nun war mir regelrecht schlecht. „Hmmm ...”, brummte ich leise.
„Mach die Augen auf, Mädchen! ... Lucy, leg ihre Beine hoch!“
Ich spürte, wie meine Füße angehoben und weiter oben wieder abgelegt wurden und probierte erneut, meine Augen aufzuschlagen. Es war wieder schrecklich grell. Langsam, aber sicher beruhigten sich die wirbelnden Farben jedoch, wurden klarer und klarer und ergaben schließlich wieder ein zusammenhängendes Bild, dessen Schärfe sich mit jeder verstreichenden Sekunde steigerte. Oh Mann, und was für ein Bild!
Noahs Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über meinem, ähnlich wie vorhin im Pool. Doch dieses Mal sah er mich nicht wütend an. In seinen hellen Augen spiegelte sich ausschließlich tiefe Sorge wider; die schön geschwungenen Lippen schürzten sich in Konzentration.
Während ich ihn immer weiter ansah – nicht imstande meinen Blick von seinem schönen Gesicht zu nehmen –, zuckte schließlich ein vages, unsicheres Lächeln um seine Mundwinkel. Noch immer hielt er mich in seinen Armen.
Er, der sonst niemanden berührte, hielt mich fest in seinem Griff. Fast wurde mir wieder schwindlig unter dieser Erkenntnis, aber dann schöpfte ich tief Luft und vertrieb das unangenehme Gefühl. Ob er auch nur die leiseste Ahnung hatte, was er mit mir anstellte?
„Na siehst du, geht doch schon wieder”, hörte ich Mr Franklin sagen, bevor er sich an Lucy wandte. „Hat sie Alkohol getrunken?“
„Niedriger Blutdruck“, murmelte ich, doch meine Zunge kooperierte nicht. Es klang eher wie „Niedigga Bluduck“. Dennoch schien man mich zu verstehen, denn hinter Noahs Gesicht nahm ich vage das Nicken seines Vaters wahr.
Als Mr Franklin näher kam und Noah seinen Arm unter meinem schlaffen Körper wegzog und zurückwich, entrang sich mir ein seltsames Winseln. „Bleib!“, rief alles in mir, doch äußerlich blieb ich stumm – abgesehen von diesem erbärmlichen Geräusch.
Im Treppenhaus und auf dem oberen Gang erklangen polternde Schritte, die ihrer Schwere nach zu urteilen nur von Tom kommen konnten. Schon schoss er um die Ecke und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf mich herab. Sah, wie ich reglos am Boden lag und sich Mr Franklin über mich beugte. Nur ein Blick reichte ihm aus, um die falschen Schlüsse zu ziehen. „Was hast du gemacht?“, stieß er hervor und funkelte Noah dabei wütend an. Der erwiderte nichts, doch ich sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten und auf seiner Schläfe eine bläuliche Ader sichtbar wurde.
Oh nein, bitte nicht!
Nur eine Sekunde später sprang er auf und stürmte aus dem Zimmer. Als er sich an Tom vorbeizwängte, rempelte er ihn kräftig an.
„Verdammt, Tom!“, schimpfte Lucy.
Mr Franklin sagte nichts. Er schüttelte nur den Kopf und blickte mich aus betrübten Augen an. „Er hat gar nichts gemacht“, versicherte ich ihm mit schwankender Stimme, bevor ich wütend zu Tom aufsah. Meine Zunge fühlte sich nach wie vor bleischwer an, aber meine Wut verlieh mir ausreichend Kraft, sie trotzdem in Gang zu setzen.
„Hört mit diesen dämlichen Vorwürfen auf. Er ist viel besser, als ihr denkt“, presste ich mühevoll hervor. Mr Franklin sah mich erstaunt an.
„Lucy, ihr könnt wieder runtergehen und euch um die Gäste kümmern“, sagte er nach einer Weile des Schweigens. „Ich bringe Emily mit, sobald es ihr wieder besser geht.“
Ich wusste, dass das ein Vorwand war und war mir sicher, dass auch Lucy das begriff, als sie ohne weitere Einwände nach Toms Arm griff und ihn aus dem Raum schleifte.
„Geht es wieder?“, fragte Mr Franklin, nachdem er mir geholfen hatte mich aufzusetzen.
Ich nickte. Der Zorn schien zu helfen, er hatte meinen Blutdruck offenbar angekurbelt. „Ja, es geht wieder”, sagte ich und rieb mir über die geschlossenen Augenlider. „Ich frage mich nur, ob dieser Abend noch peinlicher werden kann.“
Mr Franklin lachte kurz auf, dann wurde seine Miene wieder ernster. „Du hast recht, weißt du das?“
„Ja, ich glaube auch, dass es nicht nochschlimmer kommen kann.“
„Nein, ich meine mit Noah“, stellte er klar. „Er ist kein schlechter Junge.“ Sein tiefer Seufzer ließ mich aufblicken. Nun war er derjenige, der sich erschöpft über die Augen rieb. „Auch wenn er nach kaum einer Woche Schule schon wieder vom Unterricht suspendiert wurde.“
„Warum?“, fragte ich empört. Die Lehrer hatten Noah nie wegen seines Verhaltens oder seiner Verspätungen getadelt. Wenn sie ihn jetzt, ohne mündliche Verwarnung, des Unterrichts verwiesen, war das mehr als nur unfair.
„Er hat einen anderen Schüler geschlagen und ihm die Nase angebrochen.“
„Was?“, fragte ich ungläubig. Noahs Dad reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen, doch ich rührte mich nicht.
„Ja. Der Junge wollte sich zuerst nicht zu dem Vorfall äußern, hat am Freitag dann aber doch noch ausgesagt es sei Noah gewesen, der ihn so zugerichtet hat.“ In diesem Moment machte es klick bei mir.
„Weiß Noah von dieser Strafe?“, fragte ich zögerlich.
„Ja, natürlich.“
Das wiederum verwirrte mich. „Und was hat er gesagt?“
„Nichts.“ Mr Franklins Gesichtsausdruck wurde skeptisch. „Er hat die Entscheidung der Direktion stumm hingenommen. Eine Woche hat sie ihm aufgebrummt.“
„Bill!“, entfuhr es mir. „So ein ...“ In letzter Sekunde verkniff ich mir die Tirade an Schimpfworten, die bereits auf der Spitze meiner Zunge kitzelte. Mr Franklins Augen verengten sich in zunehmender Skepsis.
„Woher weißt du, dass es um Bill Jankins geht? Emily?“
Ich musste mich erst einmal sammeln. Noah, dieser geheimnisvolle Junge, ließ mich einfach nicht zur Ruhe kommen. Seitdem ich ihn kannte, schienen sich die Ereignisse nur so zu überschlagen. Wie eine Bombe war er in meine friedliche kleine Existenz eingeschlagen, hatte alles verwirbelt, was mir vor ihm noch wichtig gewesen war. Nun war nichts mehr wie zuvor, und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich weiter darüber ärgern oder aber mich den neuen Bedürfnissen, die Noah in mir geweckt hatte, einfach ergeben sollte.
Nach einigen Sekunden war ich soweit. Ich atmete tief durch und sah Noahs Dad fest in die Augen, um ihm zu versichern, dass ich ihm die Wahrheit schilderte. „Noah hat nichts getan, MrFranklin. Bill hat ihn angeschwärzt, weil Noah seinen Stolz verletzt hat.“
„Was, du weißt von dem Vorfall?“
„Ja. Ich ... Ich habe Bill die Nase angebrochen. Also, nicht, dass mir das bewusst gewesen wäre, aber scheinbar habe ich das wohl getan.“
Mr Franklin sah mich ungläubig an und schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe gar nichts”, gestand er.
Nun, endlich, ergriff ich seine Hand und ließ mich von ihm hochziehen. Er tat das mit großer Vorsicht, dennoch spürte ich die enorme Kraft, die hinter der simplen Bewegung steckte. Langsam führte er mich zur Couch und scharrte ein paar Kissen zur Seite, bevor ich Platz nahm. Er selbst setzte sich mir gegenüber in den breiten Sessel und hielt meinen Blick mit einem fordernden Gesichtsausdruck, bis ich fortfuhr.
„Er hat mich bedrängt”, begann ich kleinlaut. „Bill, nicht Noah. Ich dachte, wir wären allein und bekam es mit der Angst zu tun. Also schlug ich zu.“
„Oh Mann! Hat er dich verletzt?“, fragte Mr Franklin besorgt.
„Nein. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie weit er noch gegangen wäre. Ich bereue jedenfalls nicht, ihn geschlagen zu haben”, beharrte ich.
„Nein, du musst dir keine Vorwürfe machen, Emily. Aber ...“ Seine Stirn legte sich in Falten. „... wie kamst du denn jetzt so schnell auf Noah? Wo ist der Zusammenhang?“
Ich berichtete von Noahs Erscheinen und von seinem fehlplatzierten Lachanfall. „Wahrscheinlich hat sich Bill auf den Schlips getreten gefühlt, weil jemand beobachtet hatte, dass er sich von einem Mädchen zusammenschlagen ließ.“
Ein paar Sekunden spann ich weiter stumm vor mich hin ... und da sich die Theorie in meinem Kopf sehr überzeugend und schlüssig darstellte, wagte ich schließlich, sie auch auszusprechen.
„Na ja, vermutlich hat er sich auch deshalb erst einmal nicht geäußert. Einfach, weil es ihm peinlich war und er sich damit selbst in Erklärungsnot gebracht hätte. Dann ist ihm Noah eingefallen. Wahrscheinlich wollte Bill wenigstens ihm eins auswischen. Dafür, dass Noah ihn ausgelacht hat. Bill wusste, dass niemand Noah glauben würde, sollte der sich zu dem Vorfall äußern. Bestimmt ist er davon ausgegangen, dass nicht mal ich Noah im Falle einer Befragung beistehen würde. Ja, mit Sicherheit hat Bill gedacht, ich würde Noah eher die Strafe kassieren lassen, als zuzugeben, es selbst gewesen zu sein.“
Mr Franklin sah mich sekundenlang vollkommen reglos an. „Wow!“, sagte er endlich. „Du glaubst gar nicht, was mir das bedeutet, Emily. Dass du Partei für Noah ergreifst ... und ich nun weiß, dass er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen.“
„Ich gehe am Montag zur Schulleitung und kläre alles auf”, beschloss ich aus meiner plötzlichen Verlegenheit heraus.
Noahs Dad nickte bedächtig. „Okay. Möchtest du, dass ich mit dir komme?“
Sofort, als wäre es ein angeborener Reflex auf angebotene Hilfe, schüttelte sich mein Kopf. „Nein. Aber danke für das Angebot, Sir.“
„Ist doch selbstverständlich. Und nun nenn mich bitte Joe, ja? Alle tun das.“ Er schenkte mir noch ein warmes Lächeln, dann erhob er sich und streckte mir erneut seine Hand entgegen. „Komm mit mir und zeig den anderen, dass du noch lebst. Sie sorgen sich bestimmt um dich.“
Ich konnte mir hundert Dinge vorstellen, die ich in diesem Moment lieber getan hätte, aber natürlich ließ ich mir resignierend aufhelfen.
„Und Noah?”, fragte ich zögerlich.
Joe schüttelte den Kopf. „Wenn er so wütend ist wie jetzt, dann muss man ihn alleinlassen. Dann braucht er seine Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen.“
Puterrot gelangte ich mit Adrians Lift ins Erdgeschoss, wo er, Lucy, Tom und Kathy mich bereits erwarteten.
Nachdem ich gefühlte hundert Mal hatte versichern müssen, dass es mir wirklich, wirklich gut ging, hakten sich Kathy von der einen und Tom von der anderen Seite bei mir unter. Gemeinsam stützten sie mich auf unserem Weg zur Terrasse. Adrian machte ein paar Partygäste aus, die gerade im Begriff waren, eine der Verandaschaukeln zu verlassen. Geschickt manövrierte er seinen Rollstuhl durch die Menge und sicherte uns die frei gewordenen Plätze.
„Lust auf einen Cocktail?“, fragte Lucy in die Runde. „Alkoholfrei natürlich“, fügte sie achselzuckend hinzu. Es wirkte fast ein wenig entschuldigend und entlockte nicht nur mir ein Schmunzeln. Auch wenn sich meine Gedanken nach wie vor um Noah drehten, war mir dennoch bewusst, dass ich mich inzwischen als Partyblocker des Abends entpuppt hatte und es den anderen schlichtweg schuldete, wenigstens für ein paar Stunden mitzufeiern, ohne mich noch einmal in medizinische Betreuung begeben zu müssen.
„Sehr gerne“, erwiderte ich also. Auch Kathy bejahte, während Tom weniger begeistert schien.
Doch Lucy überging sein unverständliches Gebrumme. „Ich empfehle euch einen No Sex on the beach”, erklärte sie mit fachmännischer Miene.
„Jepp!“, bestätigte Adrian. „Den Namen hat meine Mom erfunden. Er schmeckt fast wie das Original, wenn José ihn zubereitet.“
„Na dann“, sagte ich.
„Zwei davon!“, orderte Kathy fröhlich.
„Vier!“, rief Adrian und rollte dabei so weit vor, dass er Tom leicht in die Kniekehlen fuhr. Prompt gab der seinen Missmut auf und klopfte Adrian auf die Schultern.
José, der hinter einem der Tische direkt neben uns stand, machte sich an die Arbeit. Er mischte und schüttelte was das Zeug hielt und ließ es sich dabei nicht nehmen, mit eindrucksvollen Tricks und Würfen zu glänzen. Kathy und ich klatschten Applaus, Lucy johlte vor Freude, die Jungs verdrehten ihre Augen. Wenige Minuten später hielten wir alle unsere aufwändig dekorierten Cocktails in den Händen und prosteten einander zu.
„Jetzt musst du mir aber endlich was von dir erzählen, Emily“, eröffnete Lucy ihre ganz persönliche Fragerunde. Sie hatte sich zwischen Kathy und mich auf die Schaukel gequetscht; ihre schwarz glänzenden Augen musterten mich mit unverhohlener Neugier.
„Klar, was willst du wissen?“, fragte ich schulterzuckend. Diese Antwort entpuppte sich bald schon als Fehler, denn Lucy war äußerst wissbegierig. Sie wollte schlichtweg alles über mich erfahren ... und zwar ganz genau. Ich erzählte, dass wir erst vor kurzem zugezogen waren und log, als sie sich erkundigte, wie es mir hier gefiel. Es folgten die unausweichlichen Fragen zu meinem Vater und dessen Beruf, aber Gott sei Dank nicht in dieser überzogen hysterischen Art, die mich bei meinen anderen Mitschülerinnen so gestört hatte, sondern sehr ruhig und sachlich. Lucy schien sich – ähnlich wie Kathy – tatsächlich mehr für mich, als für meinen Dad und seine Beziehungen zu den Filmstars zu interessieren, was mal eine durchaus angenehme Abwechslung darstellte. „Hast du noch Geschwister?“, fragte sie.
„Einen älteren Bruder, ja.“
Mittlerweile beantwortete ich ihre Fragen beinahe automatisch, während mein Blick über die Menge der feiernden Partygäste glitt. Plötzlich erspähte ich Noah weiter hinten im Garten – kaum mehr als eine dunkle Silhouette, aus der nur seine Augen herausstachen. Er hatte seine Shorts doch noch einmal gegen Jeans getauscht, lehnte an einem Baum und hielt meinen Blick mit unfassbar traurigen Augen.
„Emily?“ Lucys Stimme war zu leise. Noch leiser als sonst, dabei saß sie doch genau neben mir. … Verdammt, wie lange hatte ich ihn angestarrt? Hatte sie mich etwas gefragt?
Als es mir gelang, mich von Noahs Anblick loszureißen, erschrak ich fast, wie nah mir Lucy wirklich war. Ihre dunklen Augen funkelten fröhlich, denn das flackernde Licht der offenen Feuerschale neben uns spiegelte sich darin wider. „Hm?“, machte ich hilflos.
„Ich habe gefragt, was deine Mutter macht”, sagte sie. Als mich ihre Frage endlich erreichte, musste ich so hart schlucken, dass es fast schon schmerzte. Und das hatte zwei Gründe: Erstens war meine Vermutung bestätigt worden. Noahs Anblick hatte mich schon wieder total versinken lassen, was unglaublich peinlich war. Besonders deshalb, weil ich Lucys amüsierter Mimik ansehen konnte, dass ihr der Grund für meine geistige Abwesenheit nicht verborgen geblieben war.
Und zweitens stockte mir immer das Blut, wenn die Sprache auf meine Mutter kam.
Ich bemerkte, wie Kathy zu Lucy herübersah und ihr mit einem eindringlichen Blick zu vermitteln versuchte, dass sie mit dieser Frage verbotenes Territorium betrat. Inzwischen hatte ich mich jedoch ausreichend gefasst, also griff ich über Lucys Oberschenkel hinweg nach Kathys Hand und drückte sie leicht.
„Schon okay. Hm, also, meine Mutter … ist tot.“ Wie immer kam das als ein Stammeln über meine Lippen.
Lucy und auch Adrian, der uns in seinem Rollstuhl gegenübersaß und mich nun mitfühlend ansah, taten mir leid – so, wie alle anderen zuvor, die mir nichtsahnend diese Frage gestellt hatten. Die Zwillinge brauchten ein paar stille Sekunden, die ihrer folgenden Reaktion jedoch eine tiefe Glaubwürdigkeit verliehen. „Das tut mir sehr leid, Emily”, sagte Adrian leise.
„Mir auch. Gott, manchmal wünschte ich, nicht so neugierig zu sein“, erklärte Lucy.
„Ist schon gut. … Ich kannte meine Mum eigentlich kaum. Sie starb, als ich gerade mal drei Jahre alt war. Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an sie, und auch die sind ziemlich verschwommen.“
Lucy nickte – und beließ es dabei. Ich wusste, dass weitere Fragen in ihr brannten, doch sie schwieg, und ich entschied mich dagegen, von mir aus weiterzusprechen. Wir waren schließlich auf einer Party, nicht wahr? Also, keine weiteren Unfälle, Ohnmachtsanfälle oder Gespräche über verstorbene Familienmitglieder.
Eine Weile lauschten wir gemeinsam der fröhlichen Geräuschkulisse, die um uns herum herrschte, bis eine zierliche hübsche Frau auf die Veranda trat und direkt auf uns zusteuerte. Sie sah exakt so aus, wie ich mir Lucy in etwa 25 Jahren vorstellte. Die gleichen großen dunklen Augen, die gleichen Lachfältchen, der gleiche volle, rote Schmollmund und die gleichen dunkelbraunen Korkenzieherlocken. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend.
„Kathy!“, rief sie schon von weitem und breitete ihre Arme dabei aus. Meine Freundin sprang sofort auf und lief auf die herzliche kleine Frau zu.
„Marie! Ich hab schon überall Ausschau nach dir gehalten.“
„Isch war mal ʼier, mal da. Du weißt ja, wie das ist“, erwiderte Marie und schloss Kathy fest in ihre Arme. Nach einer Weile wich sie zurück und musterte meine Freundin von Kopf bis Fuß. „Du siehst gut aus, Kind. Eine bisschen zu dünn, wie immer – aber sehr ʼübsch.“
Wie süß! Sie sprach mit einem französischen Akzent, der so reizend war, dass ich unwillkürlich lächeln musste.
„Mom, das ist Emily“, stellte Adrian mich vor.
„O oui, wie schön!“ Freundlich reichte sie mir die Hand und beugte sich zu mir herab. Noch ehe ich wusste, wie mir geschah, drückte sie mir rechts, links, rechts drei warme Küsse auf die Wangen. „Alors, Emily, sage mir, ʼast du Spaß ʼeut Abend?“, fragte sie.
Ich nickte hastig. „Es ist unglaublich schön hier. Und sie haben ein wirklich fantastisches Haus.“
Marie legte den Kopf ein wenig schief und nickte mir zu. „Vielen Dank! Das ist sehr nett von dir.“ Plötzlich entgleiste ihr Lächeln jedoch. „Oh, du bist doch die Mädschen mit die verletzte Fuß, rischtig? Joe hat mir erzählt, dass du Probleme mit die Kreislauf ʼattest. Geht es wieder?“
„Alles bestens“, versicherte ich beschämt.
Sofort kehrte das Lächeln in ihr hübsches Gesicht zurück. „Joe war so begeistert von dir, Emily“, ließ sie mich wissen.
So reizend sie auch war, ich wünschte, sie würde sich hinsetzen, denn sie versperrte mir die Sicht auf Noah. Vielleicht spürte Lucy mein Dilemma, denn sie erhob sich und überließ ihrer Mom den Platz auf der Schaukel. Marie setzte sich also neben mich, meine Hand weiterhin in ihrer, und sah strahlend zwischen Kathy und mir hin und her. Sie schien sich nicht entscheiden zu können, wem von uns sie sich zuerst widmen sollte. Nach einigen Sekunden fiel ihre Wahl jedoch auf mich.
Es folgten nahezu dieselben Fragen, die ich Minuten zuvor schon den Zwillingen beantwortet hatte. Lucy stand mittlerweile einige Meter entfernt und sprach mit Adrian und Tom. Nun, da ich erneut Ausschau nach Noah halten konnte, musste ich feststellen, dass er nicht mehr an seinem Baum lehnte. Ich ließ meinen Blick schweifen, doch meine Suche blieb erfolglos. Er war abgetaucht, und seine plötzliche Abwesenheit hinterließ tiefe Enttäuschung in mir.
Wieder erzählte ich beinahe mechanisch, wo ich herkam und wie es mir hier gefiel (an dieser Stelle log ich erneut). Und natürlich berichtete ich auch vom Beruf meines Vaters.
Nicht nur, dass ich mir wie ein gottverdammtes Tonband vorkam, ich ahnte auch, wohin mich dieses Gespräch führte, und mein Magen verkrampfte sich bereits in Erwartung der unausweichlichen Frage nach meiner Mutter. „Und deine Maman…“, setzte Marie bereits an.
Ich widerstand dem Drang meine Augen zu schließen und tief durchzuatmen nur noch knapp, als ...
„Emily?“
Noah. Ich hätte mich nicht umdrehen müssen, um zu wissen, dass er genau hinter mir stand. Denn Lucys Blick, der mit einem Mal an Tom vorbeidriftete und über mir in Fassungslosigkeit erstarrte, sprach für sich. Außerdem hatte sich Noahs sanfte Stimme bereits tief in mein Bewusstsein eingebrannt.
Natürlich wandte ich mich ihm trotzdem zu. „Ja?“, erwiderte ich und ärgerte mich im selben Moment über den gepressten Klang meiner Stimme.
„Ich bin soweit“, sagte er schlicht und zwinkerte mir kaum merklich zu.
... Okay ...?
„Du ... wofür?”, stammelte ich in meiner Begriffsstutzigkeit.
„Ähm, für ... du weißt schon. Was wir vorhin ...” Noahs Mund bewegte sich weiter, doch er brachte keinen einzigen Laut mehr hervor. Als würden ihm die Worte einfach im Halse steckenbleiben.
Dumm nur, dass ich bislang keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Dann, nach Sekunden des Schweigens, wurde sein Blick so intensiv, dass ich endlich verstand: Er wollte mich hier rausholen, aus diesem Gespräch mit seiner Mutter, die nicht ahnen konnte, wie schwer ich mich mit ihren folgenden Fragen getan hätte. Aber ... wie hatte Noah mein Unbehagen gespürt? War mein Verhalten so offensichtlich gewesen? Oder hatte er aus seiner Position heraus beobachtet, wie sehr ich nach ihm gesucht hatte?
Marie, die mit offenem Mund neben mir saß und ihren Adoptivsohn regelrecht angaffte, rührte sich plötzlich und sprang auf.
„Nimm dir doch auch eine Getränk, Noah, und gesell disch ʼier zu deine Freunde.“
Endlich hatte ich den Schock soweit verdaut, dass ich einspringen konnte. „Nein, ich ... wir ... müssten noch mal kurz rein, wenn es möglich ist. Ich müsste meinen Dad noch einmal anrufen.“
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass Kathy sofort ihr Handy zückte. Adrian, der den gesamten Abend nicht von ihrer Seite gewichen war, ergriff jedoch ihr Handgelenk und hielt es mit einem kaum merklichen Kopfschütteln fest.
Um Noahs Augen herum zuckte es, er wirkte erleichtert. „Ich bringe dich rein“, sagte er bestimmt und brachte das Schwarz in den Augen seiner Mutter damit zum Schmelzen.
„Oui, bien sûr. Wie lieb von dir, Noah.“
„Ich komme!“, sagte ich und erhob mich schnell.
Tom, der sah, dass ich zusammenzuckte, sobald ich meinen Fuß belastete, setzte sich sofort in Bewegung, um mir zu helfen. Doch Noah stellte sich ihm breitbeinig in den Weg. „Ich mache das!”, knurrte er und ließ Tom auf der Stelle erstarren.
Dann wandte sich Noah mir zu und – ich traute meinen Augen kaum – streckte mir seine Hand entgegen. Wie in Zeitlupe legte ich meine hinein. Sein Griff war fest und sicher. Nur am Rande nahm ich wahr, dass Tom, Kathy und Lucy uns weiterhin anstarrten. Nur Adrian lächelte zufrieden.
„À plus tard. Wir sehen uns später, Emily!“, rief Marie.