V.

 

Der Samstagabend kam, und ich stand frisch geduscht vor meinem Kleiderschrank. Das weiße Frotteetuch, das ich mir um den Körper gewickelt hatte, wirkte nach wie vor zu neu und zu fremd, um wirklich mir zu gehören. Doch ich wischte den Gedanken fort, bevor er zu laut gegen meine Schläfen pochen konnte. Keine Zeit für Wehmut.

In weniger als einer Stunde würde Kathy hier sein, und ich hatte nach wie vor nicht einmal die leiseste Ahnung, was ich anziehen sollte. Das passierte mir wirklich selten – und zwar nicht etwa, weil ich ein besonders geschicktes Händchen in Stilfragen gehabt hätte. Das Gegenteil war eher der Fall: Nichts interessierte mich weniger als Mode. Darum bestand meine gesamte Kollektion auch aus bequemen T-Shirts, unifarbenen Blusen und einigen dünnen Pullovern, die ich allesamt gut mit meinen heißgeliebten Jeans und den wenigen Röcken kombinieren konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen mir einen wirklich unverzeihlichen Fauxpas zu leisten.

Idiotensicher und unspektakulär, so würde ich meinen Stil wohl beschreiben. Etwas Schickes für diesen Abend zu finden war also wirklich nicht so leicht. Angesichts der schwülen Temperaturen entschied ich mich schließlich für eine ärmellose, schwarze Bluse, einen lilafarbenen Seidenschal und einen schwarzen, knielangen Rock. Schwarz ging schließlich immer.

Warum willst du eigentlich überhaupt gut aussehen?, fragte ich mich, während ich mit dem widerspenstigen Reißverschluss des Rocks kämpfte. Zunächst redete ich mir erfolgreich ein, neben Lucy nicht wie ein welkes Blatt aussehen zu wollen und mich daher ins Zeug legen zu müssen. Doch der Versuch meines Selbstbetrugs funktionierte nicht lange.

Tief in meinem Inneren wusste ich genau, für wen ich Minuten später meine gut vergrabene Kosmetiktasche mit den Schminkutensilien hervorkramte. Es gab nur einen, der mich derartig nervös machte, dass ich den rechten Lidstrich viermal neu ziehen musste, bis beide Augen endlich einigermaßen gleich aussahen.

Die Türschelle ertönte viel zu früh. Ich rief meinem Dad zu, er sollte sich doch bitte kurz mit Kathy unterhalten. Derweil durchwühlte ich meinen Schuhschrank und wählte schwarze High Heels, die meine Beine optisch um einen halben Meter verlängerten. Diese Schuhe würden meinen Tod bedeuten. Wenn ich mir in den Teilen nicht die Knöchel brach, wollte ich einen Besen fressen. Ansonsten würde ich auf jeden Fall vor Schmerzen sterben, denn diese engen Dinger waren mit einer jetzt schon spürbaren Blutblasengarantie ausgestattet. Und ich trug sie erst seit einer halben Minute.

Da meine Beine in den dämlichen Schuhen aber wirklich gut aussahen, biss ich die Zähne zusammen und stöckelte vorsichtig – und mit Sicherheit alles andere als elegant – die Stufen unserer breiten Marmortreppe hinab. Kathys Lachen und die tiefe Stimme meines Vaters drangen gedämpft aus der Küche.

Jay, der sich wieder einmal auf der Couch lümmelte, drehte mir beim Klackern meiner Schritte den Kopf zu, musterte mich erstaunt und prustete nach einem kurzen Schockmoment lauthals los. „Absätze, Emmy, wirklich? Wie ein Mädchen? Du kannst doch kaum in deinen Chucks laufen.” Für seine doofen Sprüche hätte ich ihm nur allzu gerne eine Kopfnuss verpasst.

„Jason!“, rief unser Vater aus der Küche – wie so oft mein Retter, „könntest du entweder nett zu deiner Schwester sein oder dich möglichst unauffällig verziehen?“

Ich streckte dem Kindskopf die Zunge heraus und fühlte mich dabei selbst wie eine Fünfjährige.

„Bin schon weg“, rief mein Bruder, pfefferte mir ein Sofakissen entgegen und stürmte die Treppe empor. Gleichzeitig öffnete sich die Tür zur Küche und Kathy erschien neben meinem Dad. Beide musterten mich mit großen Augen.

„Wow, du siehst super aus!“, lobte meine Freundin, während mein Vater nur anerkennend nickte.

„Dito“, erwiderte ich erleichtert. Kathy trug einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse. Ich schien mit der Wahl meiner Garderobe also nicht komplett daneben zu liegen. Ihre Brille mit der breiten hellblauen Fassung hatte sie zur Feier des Abends gegen Kontaktlinsen ausgetauscht. Allerdings blinzelte sie auffällig oft und schien sich mit dieser Entscheidung ähnlich schwer zu tun wie ich mich mit meinen Schuhen. Ihre Augen, meine Füße – hach, ich mochte Kathy wirklich.

„Ihr seht beide sehr hübsch aus!“, ließ mein Dad verlauten. „Vielleicht sollte ich es mir noch mal überlegen und dich doch nicht gehen lassen, Emily.“

„Daddy“, maulte ich und warf ihm einen scharfen Blick zu, der ihn auflachen ließ.

„War doch nur Spaß. Macht, dass ihr wegkommt! Na los, raus mit euch! Habt Spaß!“

 

Nur eine Viertelstunde später fuhren wir bereits die lange Auffahrt zur Franklin-Villa empor. Jawohl, Villa!

Natürlich sind sie Snobs, durchfuhr es mich, doch ein gewisses Maß an Bewunderung konnte ich nicht verhehlen. Das Anwesen der Franklins lag sehr hoch an einem Berg, mit einem fantastischen Panoramablick über die Stadt.

„Jetzt verstehe ich auch, dass niemand etwas von ihrer Rückkehr mitgekriegt hat”, murmelte ich. Schließlich gab es nur eine weitere Villa hier oben, und die lag etwa hundert Meter entfernt und wirkte ziemlich verwaist. „Ich hatte mich schon gefragt, wie sie das vor ihrem ersten Schultag geheim halten konnten.“

Kathy nickte. „Ja, sie wohnen etwas abgelegen, das ist wahr. Dafür aber traumhaft schön.“

Mein Mund stand immer noch offen, als man uns in eine Parklücke winkte. Ja, wir wurden eingewiesen.

Und so wie der freundliche Mann aussah – ganz in weiß, mit Handschuhen und einem professionellen Lächeln –, konnte ich mir kaum vorstellen, dass es sich um Papa Franklin handelte. Sie hatten also Personal, zumindest für diesen Abend. Mehr als holprig fädelte ich meinen Mini zwischen einen Mercedes und einen brandneuen Audi A ... 6, 8, 10? Keine Ahnung! Irgendetwas Beeindruckendes auf jeden Fall. Dabei vollbrachte ich doch tatsächlich das Kunststück, den Motor meines Autos abzuwürgen. Zweimal.

Dämliche Schuhe, dumme Idee! Verflixt, verflixt, verflixt!!!

Meinen linken kleinen Zeh spürte ich mittlerweile kaum noch.

Als wir endlich korrekt standen, blieben mir ein paar Sekunden Zeit, mich genauer umzusehen. Was hatte Lucy gesagt? Nichts Großes? Eine gemütliche Feier unter Freunden? Alles klar! Ein enormer Pool, Lampions und Lichterketten an den Bäumen, die Wegränder von Feuerschalen gesäumt, gute Musik und ein großzügiges Buffet, das keine Wünsche mehr offen ließ ... Das waren für mich ziemlich genau die Zutaten, die man zur Ausrichtung einer wirklich, wirklich gigantischen Gartenparty benötigte. Und all das gab es hier. Aber gut, nichts Großes.

„Typisch Marie und Lucy“, lachte auch Kathy neben mir. „Perfektion bis ins letzte Detail.“

Marie? Das musste dann wohl Mama Franklin sein.

Die Wahl meiner Schuhe erwies sich erneut als verheerend, denn als ich den ersten Fuß auf das grobe Kopfsteinpflaster setzte, knickte ich sofort weg.

„Hey, hey, immer langsam!“ Die Stimme war direkt hinter mir – und zwar so dicht, dass ich erschrak.

„Emily, Kathy ...“, sagte Adrian und nickte uns höflich zu. „Wie schön, dass ihr da seid. Ihr seht wirklich toll aus.“

Wow! Das war ja mal eine charmante Art, begrüßt zu werden. Zu Adrian passte diese Höflichkeit in ganz besonderer Weise. Sie wirkte keineswegs kitschig und nicht mal aufgesetzt, sondern völlig natürlich. Selbst seine angedeutete Verbeugung brachte nichts Lächerliches mit sich. Adrian lieferte – ebenso wie Lucy und im Gegensatz zu seinem Bruder – ein absolut schlüssiges Bild.

Leider änderte das jedoch nichts an meiner Unfähigkeit, vernünftig mit Komplimenten umgehen zu können. Mit einem unsicheren Seitenblick auf Kathy stellte ich fest, dass es ihr nicht besser ging. Beschämt senkte sie den Kopf, und auch wenn die Dämmerung es gnädig vertuschte, wusste ich genau, dass ihr die Röte ebenso in die Wangen geschossen war wie mir.

„Danke“, sagte sie gerade so leise, dass Adrian es noch hörte.

Du siehst toll aus“, stellte ich endlich fest, als ich ihn genauer betrachtete. Er trug graue Hosen und ein schwarzes Hemd. Die Knöpfe seines Kragens standen offen und gewährten uns die Sicht auf den Ansatz seiner muskulösen Brust, wann immer er sich bewegte.

„Vielen Dank! Man tut, was man kann.“ Er winkte uns zu. „Kommt, ich zeige euch alles“, rief er und rollte neben uns in Richtung des Gartens.

Wie ein Storch stakste ich über das Pflaster. Während ich meine komplette Aufmerksamkeit auf meine Schritte ausrichtete, um zumindest den Weg bis zum Garten unverletzt hinter mich zu bringen, lachte Kathy unbeschwert mit Adrian. Jepp, sie hatte Schuhe mit flachen Absätzen gewählt. Ich hingegen hörte nicht einmal wovon die beiden sprachen, so konzentriert war ich. Adrian sah immer wieder nach hinten – vermutlich bemüht, sich zu beherrschen und mich nicht auszulachen. Ich hätte es ihm kaum verübeln können, gab ich doch mit Sicherheit eine lächerliche Figur ab.

Über einen ebenen, gepflasterten Weg gelangten wir an dem Pool vorbei, bis zu der großen Terrasse hinter dem Haus. Oh, das Haus – die Villa, besser gesagt – war fantastisch. Von oben betrachtet musste es die Form eines halbierten Achtecks haben. Wie ein Stoppschild, das man in der Mitte gefaltet hatte.

Die Seite mit den abgeschrägten Ecken stellte die Frontansicht des Hauses dar, und die breite, gerade Fläche richtete sich nach hinten, zum Garten hin aus.

Im Untergeschoss war diese komplette Hausseite verglast. Davor erstreckte sich die Terrasse über die gesamte Länge. Obwohl ich mir geschworen hatte, dem Protz und Luxus der Reichen mit Beharrlichkeit zu trotzen, wurde ich schwach, während ich das Haus der Franklins bestaunte. Als ich meinen Blick endlich von der taubenblauen Fassade lösen konnte, sah ich mich genauer auf der Terrasse um und traute meinen Augen kaum.

„Noch ein Buffet?“, fragte ich etwas heiser und deutete auf die lange Tafel, auf der sich die leckersten Gerichte türmten. Hier gab es wirklich alles: Obst, Fleisch, verschiedene Fischgerichte, jede Menge Beilagen und diverse Salate, zahlreiche Desserts, Kuchen, Torte ...

„Hm?“ Adrian brauchte ein paar Sekunden, um meinem Gedankengang zu folgen. „Oh ja, vorne waren doch nur die Häppchen und der Sekt für den Empfang”, erklärte er dann.

Das klang so selbstverständlich, dass ich versuchte, seine Lässigkeit zu kopieren und in mein Nicken zu stecken.

„Es ist ja nicht nur unsere Party für Mitschüler und Freunde“, erklärte er, als mir das nicht gelang. „Meine Eltern empfangen auch die alten und neuen Nachbarn und all ihre Kollegen und Freunde. Und mein Vater ist ziemlich kontaktfreudig.“ Er grinste breit.

Nachbarn, wiederholte ich in Gedanken. Es war eigenartig, hier oben – am Hang dieses Berges – überhaupt von Nachbarn zu sprechen, denn die gab es hier de facto nicht. Die Stadt lag der Villa der Franklins zu Füßen. Das verlassene, verwahrlost wirkende Haus auf dem angrenzenden Grundstück war weit und breit das einzige andere Gebäude.

Mein Blick glitt über die Gäste. Viele unserer Mitschüler trudelten nun ein. Sie begrüßten uns und verteilten sich um die zahlreichen weiß verhüllten Stehtische, die den Pool umrahmten. Nur wenige waren vor uns eingetroffen. Darunter Tom, der mir zwar sofort zuwinkte, Lucy dabei jedoch nicht von der Seite wich. Die steckte im Gespräch mit Lee und einigen Mädchen der Stufe und hatte uns noch nicht bemerkt.

Adrian und Kathy setzten sich in Bewegung, um sich zu den anderen zu gesellen. Ich folgte ihnen, jedoch nur bis zum Rand der Terrasse. Dort blieb ich wie angewurzelt stehen. Mit meinen Pfennigabsätzen konnte ich unmöglich weiterlaufen. Die Sprinkleranlage war offenbar erst vor kurzer Zeit abgestellt worden; auf dem Rasen schimmerten noch Tropfen. Der Boden musste feucht sein, die Oberfläche vom Wasser durchweicht. Ich würde bei jedem Schritt jämmerlich versinken.

„Adrian, kannst du mir sagen, wo die Toilette ist?“, fragte ich schnell. Mein Plan war simpel: In ein paar Minuten stünden die ersten unserer Mitschüler sicher schon am Buffet. Ich würde mich von einem kleinen Gespräch zum nächsten hangeln – immer sorgsam darauf bedacht, die Terrasse bloß nicht zu verlassen – und je nach Stärke meiner Schmerzen früher oder später barfuß nach Hause fahren. Auf Kathy brauchte ich dabei keine Rücksicht zu nehmen; Lucy hatte sie bereits im Vorfeld eingeladen, die Nacht bei ihr zu verbringen.

„Sicher, komm mit!” Adrian lächelte höflich und lotste mich wieder zurück über die Terrasse. Durch weit geöffnete Glas-Schiebetüren gelangten wir in den großen, hohen Wohnraum. Alles war sehr geschmackvoll und edel eingerichtet, wenn auch ein wenig spießig, wie ich fand. Der Marmorboden, die Wände und die lederne Couchgarnitur waren sehr hell, im Kontrast zu den dunklen Mahagoni-Möbeln. Der Raum war nicht gerade üppig bestückt, sondern gerade ausreichend, um noch als gemütlich durchzugehen. Er wirkte schlicht und elegant, so wie die Franklin-Zwillinge. Das Haus passte zu ihnen.

Nur Noah konnte ich mir in diesen vier Wänden äußerst schwer vorstellen. Ob er sich hier wohlfühlte? Andererseits, wie konnte man sich hier nicht wohlfühlen?

„Es riecht noch etwas nach Farbe”, bemerkte Adrian und rümpfte die Nase. „Meine Mutter hat vor unserer Rückkehr neu streichen lassen.“

„Wann seid ihr eigentlich zurückgekommen?“

„In die Staaten schon vor zwei Wochen, aber wir waren vorher noch bei unserer Granny in Santa Barbara. Hier sind wir erst am letzten Freitag angekommen. Dad und ich sind fast wahnsinnig geworden, weil Lucy sich in den Kopf gesetzt hatte, unsere Freunde am ersten Schultag zu überraschen und vorher niemandem etwas von unserer Rückkehr zu erzählen. Bei unserer Anmeldung hat sie sogar die Direktorin geimpft und uns verboten, das Haus vor Montag zu verlassen.“

Adrian prustete los, als er meinen ungläubigen Blick einfing. „Doch, doch, glaub es ruhig! Ich lasse mich von meiner kleinen Schwester drangsalieren. Du musst sie erst einmal richtig kennenlernen, dann wirst auch du feststellen, dass Lucy ihre kleinen fiesen Methoden hat, um ihren Dickkopf durchzusetzen. Und zwar immer.“ Er lachte. Sämtliche seiner Anschuldigungen klangen ausschließlich liebevoll.

„Deine kleine Schwester?“, fragte ich mit schief geneigtem Kopf.

„Hm? Oh, das meinte ich auf die Größe bezogen. Aber sie ist auch wirklich die Jüngere. Neun Minuten nach mir geboren, wenn du es genau wissen willst.“ Adrian zeigte seine Grübchen, bevor sein Grinsen zu einem Lächeln schrumpfte und sich seine Stirn in Falten legte. „Sogar Noah hat mitgespielt”, murmelte er. Das klang fast ein wenig verwundert. So, als wäre ihm das erst in diesem Moment aufgefallen.

Allein Noahs Erwähnung löste eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen aus – der herrschenden Hitze zum Trotz. Ich hätte mich selbst belogen, hätte ich mir weiterhin eingeredet, ihn nicht attraktiv und absolut faszinierend zu finden. Ich wusste, ich würde mich unweigerlich in seinen türkisfarbenen Augen verlieren, sollte ich es jemals wagen,seinen Blick länger als den Bruchteil einer Sekunde festzuhalten.

Adrians Augen waren auch sehr schön, doch in diesem Moment war ich wirklich dankbar dafür, dass sie nicht denselben Effekt auf mich hatten wie Noahs. Meine Beine wackelten ohnehin schon bei jedem Schritt und ich verfluchte meine Schuhe wohl zum hundertsten Mal an diesem noch so jungen Abend.

„Hier ist das Gäste-WC“, erklärte Adrian und riss mich damit aus meinen Gedanken. Er deutete auf eine Tür neben einem breit gerahmten, goldenen Wandspiegel.

Wir standen in einem hellen Flur, der mit seiner enormen Größe eigentlich eher den Charakter einer Empfangshalle hatte. Ein riesiger Kristallkronleuchter hing von der hohen Decke herab und es gab sogar eine vollständige Leder-Sitzgarnitur mit Tisch. Im Flur! „Danke“, sagte ich und wandte mich ab.

„Sehr gerne. Dann bis gleich“, erwiderte er höflich und machte wieder dieses angedeutete Verbeugungs-Ding mit seinem Kopf. Es war mir wirklich ein Rätsel, wie aufrichtig derartige Floskeln aus Adrians Mund klangen, wie natürlich die höflichsten Gesten bei ihm wirkten.

Nachdem ich die Tür hinter mir verriegelt hatte, schlüpfte ich aus meinen Schuhen und ließ mir – in Ermangelung sonstiger Beschäftigung, denn schließlich war mein Toilettengang ja nur eine Ausrede gewesen – kühles Wasser über die Handgelenke laufen. Ich hegte wohl die Hoffnung, dadurch vor allem meinen Kopf etwas abzukühlen, denn in mir tobten die gigantischen Eindrücke der vergangenen Minuten. Vorherrschend pochte jedoch einGedanke durch meinem Kopf:
Wo ist Noah?

Kathy hatte vorhergesagt, dass ich ihn wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekommen würde. Natürlich hoffte ich inständig, sie würde sich irren und stützte mich dabei auf den Trotz, den ich während seines Gesprächs mit Lucy in seiner Stimme vernommen hatte.

„Verdammt richtig, ich kann bleiben. Und das habe ich auch vor“, hörte ich ihn in meiner Erinnerung noch einmal sagen. Dabei blitzten seine zusammengekniffenen Augen durch meinen Kopf, genauso wie sein schöner, wenn auch sehr verbissener Mund. Und plötzlich erfasste mich das irrationale Gefühl, mir würde die Zeit davonlaufen. Es war albern, aber ich wollte ihn wiedersehen. So schnell es ging.

Ehe ich zu tief ins Grübeln geraten konnte, drehte ich das Wasser ab und kroch unter Schmerzen zurück in meine Folterzangen. Seufzend richtete ich mich auf und verließ den Raum. Erst als mein Blick im Flur in den großen goldenen Wandspiegel fiel, bemerkte ich, dass ich meine Optik gar nicht überprüft hatte. Das riesige Entree wirkte so leer, dass ich mich kaum zu rühren wagte – aus Angst vor meinem eigenen Echo. Hastig kontrollierte ich die üblichen Baustellen mit kritischem Blick.

Haare – natürlich widerspenstig, wie befürchtet. Mit leicht gespreizten Fingern kämmte ich so lange durch die rostroten Strähnen, bis sie wieder einigermaßen passabel fielen. Dann trat ich näher an mein Spiegelbild heran und lehnte mich ihm prüfend entgegen.

Augen – Oh, die Mascara war überhaupt nicht verwischt (Memo an mich: Marke merken!). Und auch sonst sah ich eigentlich …

„Du siehst gut aus.

Mit einem erstickten Schrei fuhr ich herum und presste mich im Schock gegen die Tür der Gästetoilette.

Noah stand auf dem untersten Absatz der breiten Treppe, starr wie eine Statue. Wie war er bloß dort hingekommen? Ich hatte rein gar nichts gehört. Seine Augen weiteten sich leicht. Er wirkte ... schockiert?

Ja, genau, schockiert.

Im Moment meiner Erkenntnis verriet mir meine Intuition, was ihn so erschreckt hatte: Seine eigenen Worte. Er kann nicht fassen, dass er das gesagt hat.

„Was? Wie lange … stehst du da schon?“, stammelte ich atemlos.

„Lange genug, um das beurteilen zu können”, sagte er nüchtern und senkte dabei seinen Blick.

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Ich wusste ja nicht einmal, ob das gerade wirklich passierte oder ob ich nur vor mich hinträumte. Doch dann hätte Noah sich an dieser Stelle des Traums ganz sicher nicht auf dem Absatz umgedreht und wäre die Treppe hochgestiegen. „Warte!“, hörte ich mich rufen.

Ahhh, Emily, was machst du denn?

Sofort blieb er stehen, drehte sich jedoch nicht um, sondern wandte mir weiterhin seinen Rücken zu und ballte die Hände zu Fäusten.

„Ich ... ähm“, stotterte ich und ergänzte in Gedanken: ... habe keine Ahnung, warum ich dir hinterhergerufen habe. Vermutlich aus purer Angst, er könnte irgendwo in diesem riesigen Haus verschwinden und für den Rest des Abends nicht mehr auftauchen. Weil ich absolut nicht wusste, was ich nun sagen sollte, plapperte ich einfach drauflos. Und wie immer in solchen Momenten, floss die Wahrheit schneller über meine Lippen, als es mir eigentlich lieb war. Unüberlegt und spontan.

„Ich weiß wirklich nicht, was mich geritten hat diese Schuhe anzuziehen. Ich meine, hätte ich mir nicht denken können, dass es eine Gartenparty wird? Warum ich mich also ausgerechnet für die Schuhe mit den höchsten und spitzesten Absätzen entschieden habe? Ich weiß es nicht. Und ehrlich gesagt habe ich auch keinen Schimmer, wie ich mich zu den anderen gesellen soll. Sie stehen mitten auf der Rasenfläche und ich werde den Abend wohl oder übel auf der Veranda verbringen müssen.“

Gut, wenn er mich bis jetzt noch nicht für völlig beschränkt gehalten hatte, so sollten nun keine Zweifel mehr bestehen.

Warum, um alles in der Welt, erzählte ich ihm das alles? Er würde mich wieder auslachen. Oder einfach weggehen.

Ich wusste nicht, was schlimmer wäre. Aber Noah überraschte mich, indem er nichts von beidem tat.

Ganz langsam drehte er sich um und sah – noch viel langsamer – an mir herab, bis auf meine Füße, die verkrampft und ein wenig verdreht in den besagten Mörderschuhen feststeckten. Sein stummer Blick gab mir ein paar Sekunden Zeit, ihn genauer zu betrachten. Noah sah einfach umwerfend aus, obwohl er längst nicht so schick gekleidet war wie seine Geschwister.

Er trug ein weißes Hemd mit dünnen farbigen Streifen und dazu eine ziemlich lässige Jeans. Bei seinem Anblick – wie er so ruhig dastand und mich musterte – verschlug es mir erneut den Atem. Ich spürte jeden Millimeter des Weges, den sich mein brodelndes Blut in meine Wangen bahnte, überdeutlich.

„Frag Lucy!“, kommandierte er schließlich.

„Hm?“

Noah zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie eine ähnliche Schuhgröße hat wie du.“ Und damit drehte er sich wieder um.

Noch lange nicht bereit, ihn gehen zu lassen, ging ich einen Schritt auf ihn zu. „Noah?

Wieder blieb er stehen, den einen Fuß schon auf der nächsten Stufe.

„Komm doch mit raus! Emily Sophie Rossberg, du dämliche Göre. So etwas kannst du doch nicht einfach ...

Erneut wandte er sich mir zu und sah mich an. Zunächst wirkte sein Blick ungläubig, dann verengten sich seine Augen und ließen mich erstarren. Bis ich erkannte, dass es dieses Mal keine Wut war, sondern ... Skepsis. „Warum?“, fragte er.

„Warum nicht? Wir könnten ... du weißt schon, ... reden.“ Ich schluckte hart. Der Grat, auf dem ich mich hier bewegte, war schmal und sehr wackelig.

Noah schwieg. Dann schüttelte er den Kopf.

Die Enttäuschung versetzte mir einen schmerzhaften Stich in die Magengrube. Ich spürte, dass ein erneutes Abwenden endgültig wäre.

„Ich gehe nicht zu den anderen”, sagte er leise, aber bestimmt.

Ich nickte stumm, doch gerade als er sich wieder umdrehen wollte, öffnete sich mein dummer Mund erneut. „Dann gehen wir eben woanders hin.“

Sein Blick schoss hoch; ungläubig starrte er mich an. Sekundenlang. Sekunden, in denen ich unter seinen Augen zu rösten schien, so heiß wurde mir. Dann schob Noah die Hände in die Fronttaschen seiner Jeans, senkte seinen Kopf und stieg langsam die unteren drei Stufen der Treppe hinab. Sofort entspannte ich mich spürbar; diese Richtung war die richtige.

„Wohin?“, fragte er leise.

„Ähm, ... keine Ahnung! Du wohnst hier. Zeig mir, wo du gerne bist.“

Für einen Moment blinzelte Noah die Treppe empor – in Richtung seines Zimmers, nahm ich an –, doch dann kratzte er sich im Nacken und nickte mir zu. „Komm mit!“, befahl er barsch und setzte sich in Bewegung. Als sein Blick auf meine Füße fiel, blieb er jedoch sofort wieder stehen. „Deine Schuhe ...”, murmelte er.

Ohne nachzudenken hob ich erst das rechte, dann das linke Bein an und streifte sie mir von den Füßen. Diese dämlichen Dinger würden mir nicht länger im Weg stehen.

Noah beobachtete mich schweigend, mit ausdrucksloser Miene. Übertriebene Emotionalität – wenn es nicht gerade um seinen tief verankerten Zorn ging – war jedenfalls nichts, was man ihm vorwerfen konnte.

Als ich soweit war, schritt er zur Haustür und öffnete sie. Erst nach einigen Sekunden, in denen er stumm mit dem Griff in der Hand dastand, begriff ich, dass er mir den Vortritt gewährte. Mit rasendem Herzen schob ich mich an ihm vorbei ins Freie.

Mittlerweile war der Parkplatz vor der Villa voll besetzt. Bestimmt zwanzig Fahrzeuge standen dicht an dicht. Noah hob seinen Blick nicht an. Er zwängte sich mit in die Hosentaschen gepferchten Händen an mir vorbei und stapfte mit festen, großen Schritten voran.

Ich folgte ihm über die Frontveranda. Stieg, wie er, über das Geländer und biss tapfer die Zähne zusammen, während ich barfuß über den schmalen Kieselweg lief, der an der Hauswand entlang in den Garten führte. Ich wusste nicht wohin wir gingen, wagte jedoch auch nicht zu fragen. Wir liefen geradewegs auf die feiernden Gäste zu. Und die wollte Noah doch eigentlich meiden, oder nicht?

Unmittelbar bevor wir den Büffettisch erreichten, bog er plötzlich scharf ab und verschwand hinter einem dichten Rosenbusch. In diesem Teil des überaus gepflegten Gartens überrankte ein Strauch den nächsten, sodass wir völlig unbemerkt zu dem hintersten Abschnitt des Grundstücks gelangten, in dem ein mächtiger, offenbar sehr alter Laubbaum stand. Bis hierhin hatte sich noch kein Partygast vorgewagt; die ersten standen etwa zwanzig Meter von uns entfernt.

„Kannst du klettern?“, fragte Noah leise.

Ich nickte. Wenn ich etwas beherrschte, dann war es das Klettern. Ohne ein weiteres Wort umfasste Noah einen dickeren Ast über seinem Kopf, zog sich an ihm empor und trat mit seiner Schuhspitze in ein Loch im Stamm. Von dort aus hangelte er sich immer höher. Nach wenigen Sekunden saß er in der dichten Laubkrone und blickte auf mich herab.

Ich hatte gut aufgepasst und mir seinen Weg gemerkt. Doch wohin sollte ich mit meinen Schuhen? Kurzentschlossen legte ich die Fersen-Riemchen übereinander und steckte sie mir in den Mund, um sie zwischen meinen Zähnen zu tragen. Schließlich brauchte ich meine Hände. Erleichtert atmete ich auf, als ich Noah ohne peinliche Darbietungen erreichte.

Er sah mich an ... und für die Dauer eines Herzschlages glaubte ich den Anflug eines Lächelns um seine Lippen zucken zu sehen – viel zu schnell verschwunden, als dass ich mir hätte sicher sein können.

Der Ast auf dem er saß, war kräftig genug uns beide zu tragen, also zog ich mich hoch und nahm kurzerhand neben Noah Platz. Sofort rückte er ein wenig von mir ab. Ich ignorierte den Stich, den diese Geste in mir bewirkte, und sah mich schweigend um.

Von hier aus konnte man den gesamten Garten überblicken, war jedoch selbst durch die dichten Blätter des Baumes gut getarnt. Ich hatte Noah aufgefordert, mich zu einem Platz zu bringen den er mochte. Offensichtlich war er meiner Bitte nachgekommen. „Schön hier”, befand ich leise.

„Hm“, brummte er undefinierbar.

Mit einem Mal, inmitten der neu entstandenen Stille, loderte eine Frage in mir auf und schlüpfte ungefiltert über meine Lippen. „Was tut dir leid?“

Fragend sah er mich an.

„Dein Zettel. Ich habe ihn gefunden“, erklärte ich zögerlich.

Schnell senkte er seinen Blick wieder und deutete ein kurzes Nicken an.

„Aber ... ich habe mich gefragt, wofür du dich entschuldigst“, fuhr ich fort, als seine Antwort ausblieb. „Für die Beschimpfungen am ersten Tag oder dafür, dass du mich ausgelacht hast?“

Nun schnellte sein Kopf hoch. Sein Blick war so düster, dass er mir damit einen Schauder über den Rücken jagte. Sein Tonfall hingegen war samtweich. „Ich habe dich nicht ausgelacht“, sagte er und der sanfte Nachdruck in seiner Stimme ließ mich ihm glauben, auch wenn ich seine Aussage nicht verstand. Ich spürte nur, dass es nicht der Zeitpunkt war weiter nachzuhaken.

Noah hatte sich unter meiner letzten Frage spürbar verkrampft. Das war also der falsche Weg. Ich musste einen anderen suchen, denn so würden wir nicht weiterkommen. „Warum willst du nicht zu den anderen?“, hörte ich mich fragen, ahnte jedoch im selben Moment, dass auch diese Frage nicht die richtige war. Gab es überhaupt richtige Fragen, die man Noah Franklin gefahrlos stellen konnte?

Auf diese jedenfalls zuckte er nur mit den Schultern und starrte dabei auf seine baumelnden Beine herab. Dann zupfte er einige Blätter von einem Zweig und begann, sie in kleine Stücke zu reißen.

Verzweifelt durchwühlte ich mein Gehirn nach unverfänglichen Gesprächsthemen, doch mir wollte einfach nichts einfallen. Als Noah seine Blätter atomarisiert hatte, rupfte er ein weiteres von dem Zweig vor seinem Gesicht. Das Schweigen wurde langsam unangenehm. Ich verspannte mich mit jeder verronnenen Sekunde ein wenig mehr und war mir sicher, dass es ihm genauso ging.

„Hat dir das Arschloch wehgetan?“, fragte er mit einem Mal. So leise, dass ich es vermutlich verpasst hätte, wären nicht all meine Sinne derartig auf ihn fokussiert gewesen.

„Hm?“, entgegnete ich dennoch, weil ich im ersten Moment nicht verstand wovon er sprach.

„Bill Jankins. Hat er dich verletzt?“, verdeutlichte Noah knapp und kniff dann die Lippen so fest zusammen, dass sein Kinn zuckte.

„Oh! ... Nein. Ich glaube, ich habe ihn verletzt.“

„Gut.“

„Gut?

„Du hattest Nein gesagt.“

Richtig, das hatte ich. Womit auch die Frage geklärt war, wie viel Noah von der gesamten Situation mitbekommen hatte. VIEL!

Wieder verstrichen etliche stille Minuten zwischen uns, die sich dieses Mal jedoch nicht ganz so erzwungen anfühlten. Langsam, aber sicher relaxte ich ein wenig neben Noah. Schließlich wagte ich es sogar, ihn anzusehen. Mit leicht geschürzten Lippen saß er da, nur einen halben Meter von mir entfernt, und zerriss weiterhin seine Blätter. Ich bemerkte, wie kahl der Zweig vor ihm bereits war, und als ich mich umsah, erblickte ich schnell weitere, ebenso kahle. Wie oft er wohl hier oben saß und sich den Frust von der Seele rupfte?

Plötzlich bekam ich eine leise Ahnung davon, wie einsam Noah wirklich war. Hier, in seinem Baum – weit weg und unbemerkt von allen anderen –, versteckte er sich und verlebte einsame Stunden in seiner eigenen Welt. Was hätte ich in diesem Moment nicht dafür gegeben, seine Gedanken zu kennen? Denn nichts an ihm war transparent, nichts leicht zu ergründen. Nur seine tiefe Einsamkeit war so präsent, dass mir das Atmen mit einem Mal schwer fiel. Das Gefühl, ihm zeigen zu wollen, dass er nicht so allein war wie er sich offensichtlich fühlte, wuchs von Sekunde zu Sekunde und zwängte mein Herz ein.

„Weißt du, es ist mir egal, wofür du dich entschuldigen wolltest. Ich habe mich sehr über deine Nachricht gefreut“, ließ ich ihn endlich wissen und erntete dafür die vage Andeutung eines Lächelns. Gut! Weiter!

„Ich hätte mir wirklich nicht vorstellen können, dass du so ... fies bist, wie du scheinbar wirken willst.“

Noahs Miene erstarrte in Fassungslosigkeit; sein Blick traf mich hart. Verdammt!

„Glaub es lieber!“ Seine Stimme war rau und viel tiefer, als ich sie je zuvor gehört hatte.

Ich schüttelte trotzig den Kopf und streckte, in einer Art Reflex, meine Hand nach seiner aus. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste er meine Geste und zuckte zurück – als hielte ich ihm eine brennende Fackel anstelle meiner Finger entgegen. Einen Herzschlag später war er von seinem Ast gesprungen und stiefelte nun mit starrem Blick direkt auf die feiernde Menschenmenge zu.

Ich brauchte einen Moment, bis ich mich von meinem Schock erholt hatte. Gerade noch waren wir auf dem besten Weg gewesen, ein halbwegs normales Gespräch zu führen und schon war er mir wieder entglitten. Ahhhh!!!!

Absolut unwillig, es so enden zu lassen, warf ich meine Schuhe vom Baum, kletterte so schnell es ging hinab, ergriff meine Mörderhacken wieder und folgte dem bildschönen Sturkopf vor mir durch das nachtfeuchte Gras.

„Noah, warte!“, rief ich, doch er lief nur noch schneller. Schon erreichten wir die ersten Gäste.

„Bitte!“, hörte ich mich rufen.

Abrupt wandte er sich um und funkelte mich böse an. „Nein, Emily!“ Sein harter Tonfall konnte die Faszination, meinen Namen zum ersten Mal aus seinem Mund zu hören, nicht mindern. Noahs Blick wurde etwas sanfter, als ich vor ihm erstarrte. „Geh zu den anderen und mach, was immer sie tun! Lass mich allein!“

„Willst du das denn wirklich?“, fragte ich leise, nicht länger imstande, den dumpfen Schmerz seiner Zurückweisung zu verdrängen.

Er starrte mich an. Außer seinem spürte ich auch die ungläubigen Blicke der umstehenden Partygäste auf mir. Doch das war mir egal. Nur Noahs Augen zählten und in ihnen flackerte Unentschlossenheit.

Sein Mund öffnete sich und schloss sich wieder, dann schüttelte er den Kopf, drehte sich erneut um und steuerte weiter auf den dichten Pulk unserer Mitschüler zu – die Hände zu Fäusten geballt, sein Körper bis zur letzten Muskelfaser angespannt.

„Bleib stehen, verdammt!“, rief ich ihm nach und rannte über die Platten, die den Pool umsäumten. Mir blieben nur noch wenige Sekunden, Noah hatte die Terrassentür schon beinahe erreicht. Dummerweise berücksichtigte ich in meiner Hast den nassen Untergrund nicht. Ein falscher Schritt ... und schon glitten meine Füße darauf aus. Mit dem linken knickte ich um und kippte zur Seite weg. Und natürlich musste ich ausgerechnet so fallen, dass ich geradewegs im Pool landete.

Gott, bitte lass den Abend nicht so enden!, flehte ich in Gedanken. Vergeblich – und nur unmittelbar bevor ich die Wasseroberfläche mit der Eleganz eines Elefantenbabys durchbrach.

Das Wasser war zwar kühl, aber bei weitem nicht kühl genug, um die Hitze meiner Schmach zu löschen. Ertrinken erschien mir für einige Sekunden eine erwägenswerte Alternative zum peinlichen Auftauchen zu sein, also blieb ich länger unter Wasser als eigentlich nötig.

Doch dann, urplötzlich und gegen meinen Willen, legte sich ein starker Arm um meine Taille und zog mich zurück an die schwüle Abendluft.