XXV.

 

Samstag und Sonntag vergingen ohne ein Wort von ihm.

Ich war gefahren, in der Hoffnung, er würde sich alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, die Irrationalität seiner Eifersucht begreifen und sich wieder beruhigen.

Ich selbst verbrachte die Tage weitestgehend damit, auf meinem Bett zu liegen, meinen Gedanken nachzuhängen, zu hoffen und zu warten.

Mein Dad und sogar Jason ließen mich in Ruhe; die Tatsache, dass Noah nicht bei mir war, sprach offenbar Bände. In diesen beiden Tagen hätte ich alle Zeit der Welt gehabt, mich in die Rätsel zu verbeißen, die Noah mir aufgab. Aber ich tat es nicht, wohl wissend, dass nur er die Antworten kannte und mit mir teilen müsste. Ohne seine Hilfe würde ich ewig im Dunkeln tappen, gerade weil die Fakten für sich sprachen. Kein Mensch der Welt konnte die Gedanken anderer lesen, einfach so. Erahnen vielleicht, ja. Bestimmt gab es einige wenige Menschen, die über eine besonders stark ausgeprägte Empathie verfügten und sich so außergewöhnlich gut in andere hineinversetzen konnten, dass es ab und zu einem Gedankenlesen gleichkam oder zumindest ähnelte. Aber ... Noah sah konkrete Bilder und Szenen, wenn ich sie mir nur deutlich genug vorstellte. Ich hatte ihn auf diese Weise durch unser gesamtes Haus in Manchester geführt, ihm mein altes Zimmer gezeigt, Erlebnisse aus meiner Kindheit, Jane, sowie die wenigen Erinnerungsbruchstücke, die ich von meiner Mutter behalten hatte. Ihr sanftes Lächeln, die dunklen Augen, die Art, wie sie mich zugedeckt hatte, wenn ich krank war. All das hatte ich Noah offenbart. Unsagbare Schätze, die ich tief in meinem Herzen verankert trug und mit niemand anderem außer ihm geteilt hätte – nicht einmal, wenn es mir möglich gewesen wäre.

Er besaß nicht nur die Gabe diese Bilder zu sehen, er fühlte auch was ich fühlte, wenn er sie sah. Das war mir irgendwann klargeworden. Und dieses Phänomen würde nur er mir erklären können, auch wenn er nicht bereit dazu war. Genauso wie das seines Herzschlages.

Einen Augenblick lang hatte ich mit dem Gedanken an eine Operation gespielt. Vielleicht war er ja schwer krank und brauchte eine Art Herzschrittmacher? Aber diese Idee verwarf ich, als Noah unter meinem Gedanken laut loslachte. Nein, sein schöner Körper wies auch keinerlei Narben auf, die eine derartige Operation mit sich gebracht hätte. Und selbst wenn – kein Gerät der Welt hätte ein Herz so präzise geregelt, wie Noahs schlug. Ein Herzschrittmacher hätte dafür gesorgt, das Organ angemessen reagieren zu lassen. Unter Einwirkung des kleinen Geräts hätte es sich bei Anstrengung und ... Erregung beschleunigt, wäre im Schlaf zur Ruhe gekommen und so weiter. Es hätte jedenfalls nicht unbeirrbar wie ein Uhrwerk getickt. Niemand, den ich kannte, verfügte über einen auch nur annähernd so stoischen Herzschlag wie Noah.

 

Sonntagabend, nachdem ich mein Handy wohl schon tausendmal gezückt und vergeblich auf eine SMS oder einen Anruf gewartet hatte, ertönte endlich das unverkennbare Piepen einer eingegangenen Nachricht. Meine Euphorie wurde im Keim erstickt, als mir Lucys Name aus dem Display entgegenleuchtete.

 

Adrian hat mir alles erzählt, Süße. Mach dir keine Sorgen, Noah beruhigt sich bestimmt wieder. Wenn er nur wüsste, wie sehr wir uns um ihn sorgen, nicht wahr? Also, wenn du reden willst, dann melde dich. Wir sehen uns morgen. Spätestens.

Lucy

 

Natürlich erkannte ich zwischen den Zeilen ihre Hoffnung auf ein Treffen. Aber mir war nicht nach Gesellschaft zumute – allein zu sein erschien mir richtig. Schließlich war Noah mit Sicherheit auch allein, und so fühlte ich mich zumindest auf diese Weise mit ihm verbunden.

Also sandte ich nur eine kurze Nachricht zurück und beschloss dann, den Abend zu beenden. Je eher ich schlief, desto eher brach der Morgen an. Und das bedeutete für mich nur, Noah endlich wiederzusehen. Im festen Glauben, alles würde sich regeln, sobald wir einander das nächste Mal gegenüberstünden, fiel ich in einen oberflächlichen, unruhigen Schlaf, der alles andere als erholsam war.

 

Der Parkplatz vor der Schule war noch recht leer, so früh war ich dran. Ich stellte meinen Rucksack griffbereit auf den Beifahrersitz, sodass ich mein Auto jederzeit verlassen könnte, wenn der Amarok hinter mir um die Ecke bog. Es sollte schließlich so aussehen, als wäre ich selbst gerade erst angekommen, denn wie erbärmlich war es bitte, hier zu sitzen und zu warten?

Ich wartete volle dreiundvierzig Minuten.

Dann erst, fünf Minuten vor Schulbeginn, blitzten die Scheinwerfer des Amaroks in meinem Rückspiegel auf. Sofort ergriff ich meinen Rucksack, obwohl der Plan mehr als nur dämlich war. Ich war noch nie so spät zur Schule gekommen; Noah würde mich sofort durchschauen.

Nur einen Moment später realisierte ich, dass etwas nicht stimmen konnte. Die Franklins waren – außer an ihrem ersten Tag, um die Überraschung perfekt zu machen – auch noch nie so spät angekommen. Dem Amarok blieb nur noch die weit und breit letzte Parklücke, etwa dreißig Meter entfernt. Die schien so schmal zu sein, dass Noah das große Auto rückwärts einparken musste ... was allerdings mit deutlich zu viel Kurbelei und Vor- und Zurücksetzen verbunden war. Beunruhigt verengten sich meine Augen, bis ich Lucy hinter dem Steuer erkannte. Neben ihr saß – natürlich – Adrian, doch von Noah war keine Spur.

Sofort beschleunigte sich mein Atem, und die nur mit Mühe gebändigten Gedanken rissen sich los, um weiter ungehalten durch meinen Kopf zu blitzen. Wo war er? Warum war er nicht da? War er krank?

Schon setzten sich meine Beine in Bewegung; eiligen Schrittes lief ich Lucy und Adrian entgegen.

„Ich weiß nicht, wo er ist“, sagte Lucy ohne ein Wort der Begrüßung.

War mein Blick so eindeutig? „Was soll das heißen, du weißt es nicht?“, fragte ich ängstlich und half ihr, den Rollstuhl aus dem Kofferraum zu heben.

„Er war seit dem Morgen nicht mehr zu Hause“, erwiderte Adrian, der in diesem Moment die Beifahrertür öffnete.

„Seit Samstagmorgen?“, rief ich empört. „Und niemand hält es für nötig, mir das mitzuteilen?“

Adrian setzte sich in seinen Rollstuhl und legte mir mit einem tiefen Blick die Hand auf den Unterarm. „Wir wollten nicht, dass du dir Sorgen machst.“

„Macht ihr euch denn keine Sorgen?“, fragte ich völlig entgeistert.

„Sicher“, erwiderte Lucy ein wenig pikiert. „Aber er hat eine Nachricht hinterlassen und geschrieben, er bräuchte Zeit für sich. Das ist untypisch für ihn. Sein Verschwinden hingegen ...“

Adrian übernahm die Vollendung ihres Satzes. „... ist es nicht. Ich habe dir erzählt, dass er oft unterwegs ist, Emily. Immer auf der Suche nach sich selbst.“

„Ja, aber so lange?“, gab Lucy zu bedenken. Ihr schien Noahs Verschwinden auch suspekt zu sein, was meine Panik nur noch schürte.

„Hast du mir deshalb gestern geschrieben?“, fragte ich aus einer plötzlichen Eingebung heraus. „Um herauszufinden, ob er bei mir ist?“

Lucy senkte ihren Kopf. „Nun, ich hatte gehofft, es wäre so. Und dass du es schaffst, die Wogen wieder zu glätten – auch zwischen Adrian und ihm. Ich wollte nur wissen, wo er ist ... und dass es ihm gut geht.“

Okay, das war nachvollziehbar, aber ...

„Warum hast du gehofft, ihn ausgerechnet bei mir anzutreffen? Ich lehne mich glaube ich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass er nur meinetwegen getürmt ist. Wieder einmal.“ Die Erkenntnis schmerzte wie Feuer in meinem Herzen. Hätte ich meine Zunge doch nur besser unter Kontrolle gehabt. Vollidiot. Ich hatte ihn einen Vollidioten genannt. Arrgh!

„Mach dir keine Vorwürfe!“, entgegnete Adrian geknickt. „Ich hätte besser überlegen sollen. Seine Reaktion war in gewisser Weise ... vorhersehbar. Aber ich wollte dich eigentlich nur zum Bleiben bewegen.“

Das „Warum?“ blieb mir in der Kehle stecken, als der schrille Klang der Schulklingel ertönte. Unterrichtsbeginn. Und wir kamen zu spät.

So sehr wir uns auch beeilten und entschuldigten, Mr Sheppard zögerte keinen Augenblick, unsere Verspätung festzuhalten. Allerdings kam es darauf an diesem Tag auch nicht mehr an, denn ich versagte schlichtweg auf der gesamten Linie. Wann immer mein Name aufgerufen wurde, wusste ich nicht einmal wie die Frage gelautet hatte. Einige meiner Mitschülerinnen kicherten schadenfroh, andere sahen mich verwundert an, Lucy und Adrian warfen mir mitfühlende Blicke zu, und am Rande bemerkte ich, dass Adrian die verblüffte Kathy über kleine Mitteilungszettel aufklärte. All das war mir völlig egal.

Ich überhörte die tadelnden Worte der Lehrer und empfand nicht einmal Scham, als ich vor versammelter Mannschaft eingestehen musste, die Mathematikhausaufgaben vergessen zu haben.

„Meinen Sie, dass ausgerechnet Sie sich das leisten können, Miss Rossberg?“, fragte Mrs Rodgins unter vorwurfsvoll hochgezogenen Augenbrauen.

„Vermutlich nicht“, erwiderte ich seufzend und sank tiefer in meinen Stuhl, den Blick wehmütig auf den leeren Platz neben mir gerichtet.

Noah hätte eine Lösung parat gehabt, dessen war ich mir sicher. Wäre das Wochenende anders verlaufen, hätte ich meine Hausaufgaben nicht nur gemacht, ich hätte sie sogar verstanden. Aber er, der mich ständig aus meinen misslichen Lagen herauszog und befreite, war nicht mehr da. Mein Engel war verschollen.

Ich konnte nur hoffen, dass es nicht für immer war.

 

Die Schulklingel verkündete den Beginn der Mittagspause. Mein Magen verschloss sich bei dem Laut. Ich hatte seit Samstag nur das Nötigste zu mir genommen; allein der Gedanke an Nahrung widerte mich an. Während sich meine Mitschüler geschlossen auf den Weg zur Kantine begaben, stahl ich mich durch einen der vorderen Ausgänge hinaus. Lediglich Adrian bemerkte mein Abtauchen und nickte mir verständnisvoll zu.

Lust- und antriebslos schlenderte ich über den Schulhof, auf die alte Buche zu, die Noah und ich seit unserem ersten Picknick als unseren Baum betitelt hatten. Im Schatten ihrer Baumkrone ließ ich mich im Gras nieder, lehnte mich gegen den kräftigen Stamm und legte den Kopf in den Nacken. „Wo bist du, Noah?“, flüsterte ich und schloss erschöpft meine Augen.

 

„Hallo Petze!“ Eine raue Stimme ließ mich aufschrecken. Meine Lider schossen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte ich in das Blätterdach über mir. Und, als hätte sich dieser minimale Moment für mich – und nur für mich – gedehnt, sah ich einen der Äste wesentlich schärfer und genauer vor mir als alle anderen drum herum. Es war eigentlich mehr ein dünner, kahler Zweig. Kahl, aber nicht abgestorben. Seine Blätter waren nur abgezupft worden, einige Überreste erkannte ich noch.

Die Hoffnung, die dieses eindeutige Bild entfachte, wurde im nächsten Augenblick durch den Schock erstickt, den Bill Jankinsʼ Anblick in mir auslöste. Die Daumen beider Hände in den Fronttaschen seiner Jeans verhakt, hatte er sich breit vor mir aufgebaut – nur etwa anderthalb Meter entfernt – und grinste auf mich herab. Kein gutes Grinsen, eines der fiesen Art, unterstrichen durch das breite Pflaster, das quer über seiner Nase klebte und unwillkürlich die Erinnerung an unsere letzte Begegnung wachrief. War der Monat wirklich schon vorbei?

„Bill!“, stieß ich halberstickt hervor.

Er nickte. „Genau der.“ Damit ging er einen weiteren Schritt auf mich zu.

Ich sprang auf, aber Bill war schneller. Seine Hand umfasste meinen Unterarm wie eine Schelle.

„Glaub nicht, dass du diesen Aufstand, den du letztes Mal geprobt hast, noch einmal abziehen kannst“, zischte er in mein Ohr. „Nur noch ein Jahr, dann ist die Schule hier vorbei und niemand wird mehr über den kleinen Vorfall zwischen uns beiden sprechen. Und glaub mir, ich kann geduldig sein, wenn es um Revanche geht.“

„Warum tust du es dann nicht einfach, sondern warnst mich vor?“, fragte ich und entzog ihm ruckartig meine Hand.

„So macht es doch viel mehr Spaß“, entgegnete Bill schulterzuckend, unter einem weiteren hämischen Grinsen. Doch plötzlich glitt sein Blick an mir vorbei, und er wich einen Schritt zurück. In der nächsten Sekunde wehte mir ein leichter Windstoß die Haare über die Schultern nach vorne und blies mir dabei Noahs unvergleichlichen Duft in die Nase. Sofort entspannte sich jeder Muskel meines Körpers spürbar.

Es ging ihm gut, Gott sei Dank!

Em?“ Mehr sagte er nicht.

„Schon okay, lass uns einfach gehen“, erwiderte ich und ergriff dankbar seine Hand, sobald sein kleiner Finger den meinen berührte.

Bills Gesichtsausdruck entgleiste, seine Kinnlade klappte herab.

Ja, du Bastard, ganz recht – so sieht es aus!

Noah stieß ein wenig Atem aus und festigte seinen Griff. Mit Sicherheit kostete es ihn Überwindung, Bill nicht anzurempeln, als er sich nur wenige Zentimeter entfernt an ihm vorbeischob und mich mit sich zog.

„Ah, jetzt weiß ich auch, woher der Wind weht“, rief Bill, als wir ihn bereits einige Meter hinter uns zurückgelassen hatten. „Hat dir der Freak den Stock aus dem Hintern gezogen, Emmy? Darf er dich da anfassen, wo es guttut, ohne dass du direkt zur Direktorin rennst und ihn verpetzt?“

Ich hielt die Luft an, als mich seine Worte erreichten und ich gleichzeitig spürte, wie sich Noahs Finger verkrampften. Nur einen Wimpernschlag später ließ er meine Hand los, schnellte herum und ging bedrohlich auf Bill zu. Bedrohlich, ja. Aber längst nicht so bedrohlich, dass es Bills Reaktion erklärt hätte. Denn der strauchelte sofort rückwärts, bis er gegen den Stamm der Buche stieß und sich dagegen presste.

„Du passt besser auf, was du sagst!“, zischte Noah.

„Warum?“, fragte Bill. „Bereust du es inzwischen, sie mir nicht überlassen zu haben? Ist sie eine Niete im Bett? Eine englische, prüde Niete?“

Ohne es zu sehen, war ich mir sicher, dass sich Noahs Nasenflügel unter Bills Worten aufblähten; seine Hände ballten sich zu Fäusten.

 

„Noah, nicht!“, rief alles in mir. Auch wenn ich es im Schock nicht schaffte, die Worte auszusprechen, so schrie ich in meinem Inneren dennoch nach ihm und bat ihn auf mich zu hören.

Genau das will er, Noah! Er will dich provozieren, um die Tatsachen anschließend zu verdrehen.

Das war zumindest logisch. Denn jetzt, wo die gesamte Schule wusste, dass Noah und ich ein Paar waren, erschien meine Stellungnahme vor Mrs Porter in einem völlig neuen Licht, das wurde mir in diesem Moment klar. Vermutlich witterte Bill die Chance, den Spieß im Nachhinein doch noch umzudrehen.

Noahs Hände entspannten sich wieder ein wenig. Er warf mir einen kurzen Blick über die Schulter zu, den ich mit einem bangen Kopfschütteln erwiderte.

„Du ekelst mich an“, presste er daraufhin hervor, nur Zentimeter von Bills Gesicht entfernt und spürbar bemüht um seine Fassung ringend. So ganz gelang es ihm nicht, die zu wahren.

„Ernsthaft, wenn ich dein Niveau hätte, würde ich grinsend in eine Kreissäge laufen“, ließ er Bill noch wissen. Dann wich er einige Schritte zurück, ohne ihm den Rücken zuzukehren.

Schließlich fand Noah meine Hand, ergriff sie und wandte sich gemeinsam mit mir ab.

Meine Hände waren feucht, mein Herz raste. Als ich aufblickte, sah ich Adrian, der die Räder seines Rollstuhls mit kräftigen Armbewegungen anstieß und uns in einem Affentempo über den Schulhof entgegenfuhr.

„Was ist passiert?“, fragte er, unmittelbar bevor er Bill hinter uns erkannte. Nur einen Wimpernschlag später zogen sich seine Augen erschreckt zusammen. „Emily, hat er ...?“

„Ich habe alles im Griff“, knurrte Noah neben mir.

„Emmy, wenn du genug von dem Freak hast – du weißt, wo du mich findest“, startete Bill einen erneuten Provokationsversuch.

Ich war mir beinahe sicher, dieser würde erfolgreich enden. Aber zu meiner großen Verwunderung war es nicht Noah, der die Beherrschung verlor. Es war Adrian.

Der raste förmlich an uns vorbei, auf Bill zu, der im Abstand weniger Meter hinter uns herlief. Adrian brachte seinen Rollstuhl durch eine geschickte Drehung erst in letzter Sekunde, unmittelbar vor ihm, zum Stehen, sodass Bill reflexartig einen Schritt zurückwich. Zu erschrocken, um auf seinen Gesichtsausdruck zu achten, entgleiste der ihm völlig und entblößte, was dahinter lag: Den Idioten, der er war.

Adrians Stimme bebte vor Zorn.

„Jankins, ich an deiner Stelle wäre sehr, sehr vorsichtig. Das Pflaster auf deiner Nase müsste dich doch eigentlich daran erinnern, dass du gerade erst suspendiert warst, oder nicht? Gewisse Gerüchte besagen, dass nur noch das Zünglein an der Waage fehlt, um deinen widerwärtigen Hintern endgültig von der Schule zu katapultieren. Also, wenn dir irgendetwas daran liegt, später einmal ein College zu besuchen – was ich aufgrund deiner mangelnden Intelligenz ohnehin für pure Zeitverschwendung hielte –, dann schließe jetzt dein großes Maul und sprich Emily und Noah nie wieder an! Und übrigens: Das ist der Name meines Bruders, du Freak!“

Wir hielten den Atem an. Alle, nicht nur Bill.

Als der sich gefasst hatte, ging er einen großen Schritt auf Adrian zu und baute sich mit bebenden Nasenflügeln vor ihm auf.

Sofort löste sich Noahs Hand aus meiner, und ehe ich mich versah, war er bei seinem Bruder. Adrian hob eine Hand und bedeutete Noah zu warten. Der blieb wie angewurzelt stehen und warf Bill lediglich Blicke wie Blitze zu.

„Was?“, fragte Adrian, an Bill gewandt. „Willst du jetzt einen Rollstuhlfahrer schlagen? Nachdem du ein Mädchen bedrängt und einen Unbeteiligten beschuldigt hast. Deine Pläne werden immer genialer. Chapeau!“ Niemand konnte so stilvoll austeilen wie Adrian. Verächtlich rümpfte er die Nase; Bills Schultern sackten ein. Schachmatt!

„Gehen wir!“, beschloss Adrian. Und genau das taten wir. Noah blieb noch einige Sekunden stehen, misstraute Bill am längsten. Doch dann wandte auch er ihm den Rücken zu, schloss mit schnellen Schritten zu uns auf und ergriff erneut meine Hand.

Nicht anders konnten sich die drei Musketiere nach dem Ausruf ihres Treueschwurs gefühlt haben. Sekundenlang sprach niemand, das Adrenalin rauschte noch durch unser Blut. Aber ein neues, gewaltiges Gefühl hatte sich zwischen uns eingestellt und umhüllte uns nun regelrecht: Wir waren eine Einheit, die auch durch interne Unstimmigkeiten nicht so leicht zerstört werden konnte.

„Gott, mein Herz schlägt mir bis zum Hals“, wisperte ich.

„Meines nicht“, flüsterte Noah zurück.

Mein Blick schoss zu ihm hoch, und so sah ich es gerade noch das leichte Zucken, das seine Mundwinkel schief zog und das ich so sehr liebte. Es war nur ein leiser Anflug, aber immerhin, es war ein Lächeln. Und damit rückte alles wieder an seinen vorbestimmten Platz. Die Welt, mein Leben, der Tag ... alles war gut und richtig – genauso, wie es eben war.

Der Zustand währte leider nur so lange, bis mir bewusst wurde, dass mir noch mein Biologieunterricht bevorstand. Ohne Noah. Zumindest brachte der mich bis zur Tür und ließ erst dort meine Hand los.

„Also dann“, sagte er. Ich wünschte mir, er würde mich in seine Arme ziehen und halten, am liebsten küssen – was natürlich nicht geschah.

„Bis nachher?“, fragte ich hoffnungsvoll. Er senkte schweigend seinen Kopf. „Noah, bitte lass uns reden“, flehte ich flüsternd.

„Okay“, sagte er endlich. „Reden wir. Ich warte an deinem Wagen auf dich.“ Damit drehte er sich um und ließ mich mit einem dumpfen Gefühl im Bauch und der ketzerischen Stimme in meinem Kopf zurück. Willkommen zurück auf der Gefühlsachterbahn, wir starten in Runde zwei – für Fortgeschrittene.

Ach, halt doch die Klappe!

 

Beim Betreten des Biologieraums blieb mir ein kurzer unbeobachteter Moment, den ich nutzte, um mich zu Adrian herabzubeugen und ihn zu umarmen. „Danke!“

Ich spürte sein Schmunzeln gegen meine Schulter, als seine Überraschung nachließ.

„Nicht für mich. Für Noah! Danke, dass du dich für ihn eingesetzt hast“, erläuterte ich und umfasste dabei seinen Hals mit meiner Hand, sodass ich das starke Pulsieren in seiner Schlagader spürte. Adrian war wesentlich gefasster als ich, aber das war auch nicht schwer.

Für einen Moment erschrak ich über die Ernsthaftigkeit, die in seinem Blick lag. „Er ist mein Bruder, Emily.“

„Ich weiß“, antwortete ich und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. „Trotzdem, danke!“

Ich nahm neben Kathy Platz, die mich ein wenig argwöhnisch ansah.

„Entschuldige“, murmelte ich und musste mir ein Lachen verkneifen, als mir bewusst wurde, dass ich Adrian und mich mit dieser Umarmung und dem Kuss schon wieder in eine missliche Lage gebracht hatte. „Ich wollte mich nur für etwas bedanken.“

Aha!“, sagte Kathy, lächelte aber schon wieder.

Dennoch glühten meine Wangen vor Scham. Ich musste mehr auf meine Aktionen achten, was Adrian anging. Niemand konnte erahnen, auf welcher Ebene ich für ihn fühlte und dass er mittlerweile fast wie ein Bruder für mich war.

Verlegen entzog ich Kathy meinen Blick und sah stattdessen aus dem Fenster. Von meinem Platz aus konnte ich unsere alte Buche sehen. Die Zweige des großen Baums wiegten sich nur unwesentlich, der schwache Wind konnte der dichten Krone nichts anhaben. Ich stellte mir vor, wie die spätsommerlichen Stürme in meiner Heimat bereits durch die Bäume fegten und einige der Blätter schon jetzt mit sich rissen, bevor die restlichen im kommenden Monat von allein herabfallen würden. Hier hingegen ...

... rieselten in genau diesem Moment auch einige Blätter aus dem satten Grün der Baumkrone herab. Kurz darauf bewegten sich ein paar Äste. Sie bogen sich und federten dann ruckartig zurück in ihre Ursprungsposition. Noah!

In diesem Moment ahnte ich, wo er die vergangenen Tage gesteckt hatte. Und ich wusste auch, wie ich meine Mutmaßung überprüfen konnte.