Kommentierte Texte von A bis Z

Ralph Adolphs: „The Social Brain. Neural Basis of Social Knowledge“, in: Annual Review of Psychology 60 (2009), S. 693716.

Wenn wir uns fragen, wie wir als biologische Wesen von Natur aus „gemeint“ sind, dann ist eine Antwort, dass wir vor allem auch soziale Wesen sind. Die „sozialen Neurowissenschaften“ haben sich in den letzten Jahren besonders stark entwickelt, wobei auffällig ist, dass hier besonders Forscher aus dem ostasiatischen Raum wesentliche Beiträge leisten. Eine Grundfrage in diesem Forschungsbereich lautet: Was verbindet uns über kulturelle Grenzen hinweg miteinander und was macht uns aufgrund unterschiedlicher kultureller Prägungen verschieden? Was sind anthropologische Universalien, was kulturelle Spezifika? Wenn wir das soziale Miteinander betrachten, müssen wir zwischen zwei Prozessen unterscheiden: Einerseits sind wir bestimmt durch eher langsame rationale Prozesse, die meist in sprachliche Äußerungen eingebunden sind, etwa wenn wir Urteile über andere fällen. Andererseits steuern uns automatische, schnelle Prozesse, die emotional geprägt sind, wie zum Beispiel beim ersten Eindruck, den man von jemandem bekommt. Wenn wir Urteile über andere fällen, das zeigt die moderne Forschung insbesondere auf der Basis von Ergebnissen bildgebender Verfahren wie der funktionellen Kernspintomografie (fMRT), dann sind an solchen Urteilen vor allem Areale des orbitofrontalen Cortex, der Amygdala und des Temporallappens beteiligt. Doch dies sind sie nie nur allein, sondern immer als Teil eines neuronalen Netzwerks: Andere Strukturen kommen hinzu, so der insuläre Cortex, der bei empathischen Erlebnissen oder anderen Emotionen beteiligt ist. Und hierin findet Ralph Adolphs die Antwort auf seine Frage, worin sich die soziale Kompetenz des Menschen wohl gegenüber anderen Lebewesen unterscheiden mag: Er kommt zu dem Schluss, dass wir anders als andere Lebewesen in der Lage sind, uns in andere Zeiten und an andere Orte zu versetzen – und dass wir uns in das Seelenleben anderer hineinfühlen können. Das zeichnet uns aus. Und ist kreatives Handeln nicht immer auf andere gerichtet?

Al-Farabi: Über die Wissenschaften – De scientiis. Nach der lateinischen Übersetzung Gerhards von Cremona, Hamburg: Meiner 2005.

Im 10. Jahrhundert, also vor mehr als eintausend Jahren, waren Bagdad und Damaskus das Zentrum der geistigen Welt, und sie zeichneten sich durch eine Toleranz aus, die man sich für die heutige Welt wünschen würde. Eine besondere wissenschaftliche Herausforderung war es, die Wissens- und Glaubenssysteme der griechischen und der islamischen Welt zusammen zu denken, und dieser Aufgabe hat sich Al-Farabi gestellt. Sein Lösungsversuch hat heute noch Gültigkeit. Wie fruchtbar wäre es, wenn wir die Kreativität der verschiedenen kulturellen Welten heute zusammenbringen würden, und zwar nicht, um kulturelle Identitäten aufzugeben, sondern um sie als Kulturexperimente der Menschheit zu verstehen. Hieraus könnten sich neue kulturelle Trajektorien entfalten, die das Bewährte erhalten und mit Respekt dem Bewährten gegenüber das Neue mutvoll versuchen.

Jean-Christophe Ammann: Bewegung im Kopf. Vom Umgang mit der Kunst, Regensburg: Lindinger + Schmid 1993.

Ein faszinierendes Buch eines großen Kunst-Kenners. Zwar meint Jean-Christophe Ammann: „Über Kreativität kann man sich fusselig reden, ohne einen einzigen Schritt voranzukommen“, doch in seinen Beschreibungen der Künstler schwärmt er von deren Kreativität. Aber Paradoxien gehören zur Kunst und Wissenschaft. Ammann sagt: „Künstler sind auch nur Menschen, und das, was sie ausdrücken, ist in uns allen auch vorhanden.“ Inhaltliche Themen der Kunst sind nach seiner Auffassung Zeit, Angst, Tod und Sexualität, und er glaubt, dass es nur diese Themen sind; alles andere und auch alle „neuen“ Themen lassen sich darauf reduzieren. Zu den Inhalten, zu dem, was dargestellt wird, kommt bei jedem Kunstwerk etwas hinzu, das im künstlerischen Prozess steckt: Jedes Kunstwerk ist Ausdruck einer Suche nach generativen Prinzipien wie Ordnung und Unordnung oder Zufall und Notwendigkeit. Jeder Künstler schafft ein Stück Welt, und wie er dieses Stück Welt schafft, gibt Aufschluss darüber, wie die Gegenwart gedacht wird. Künstler sind gleichsam die Antennen, und zwar die sensibelsten Antennen für den jeweiligen Zeitgeist. Deshalb vertritt Ammann die folgenden Thesen: „1. Ich glaube an die Kunst als Forschung. – 2. Ich glaube, dass die Kunst Bilder schafft, die auch unsere Bilder sind. – 3. Ich glaube, dass wir auf die Ideen und Phantasie der Künstler angewiesen sind. […] – 4. Ich glaube an das fundamentale Bedürfnis nach Kunst, nicht als Ersatzwelt, sondern als reale Symbolwelt, in der das Nichtsagbare neben dem Sagbaren gleichwertig steht.“ Er betont, ganz ähnlich wie die Hirnforschung, dass wir auch in Bildern denken und damit neben dem begrifflichen Denken eine zweite Weise des Denkens nutzen. Aufgabe des Künstlers sei es heutzutage, „den Menschen klarmachen, dass wir uns in einer ungeheuren Umwälzung befinden und dass das schöpferische Denken von Gegenwart unabdingbar ist für ein, gelinde gesprochen, Erahnen dessen, was die Zukunft für uns bedeutet.“ Denn im Kunstwerk lassen sich die Regungen der Zeit, der Fußabdruck der Gegenwart ablesen; die Entwicklung der Gesellschaft kann ganz besonders in der Kunst beobachtet werden. Der Künstler ist zwar kein Wissenschaftler, er stellt keine Theorien auf, aber er ist Forscher, und zwar einer, der nicht anders kann – einer, der zur Kreativität verdammt ist.

Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. v. Olog Gigon, 8. Aufl., München: dtv 2010.

Im zweiten Buch betont Aristoteles die Bedeutung der „Mitte“, und er bestimmt damit eines der zentralen Themen dieses Buches: „Die Mitte im Bezug auf uns ist das, was weder Übermaß noch Mangel aufweist; dieses ist nicht eines und nicht für alle Menschen dasselbe.“ Tugend sei eine Mitte zwischen einem Zuviel und Zuwenig. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Sport; nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Mut. Das Gleichgewicht ist entscheidend, und das gilt vor allem auch für die Kunst und die Proportionen bei Bauwerken. Kreativität ist der Motor, sich immer wieder neu dieser Mitte zu versichern.

Aurelius Augustinus: Confessiones – Bekenntnisse, München: Kösel 1955 (verfasst 397/398).

Das 11. Buch der „Bekenntnisse“ ist immer noch die wichtigste Einführung in die Probleme der „Zeit des Menschen und der Zeit überhaupt“. Und es ist ein Beispiel dafür, wie jemand kreativ und auch emotional mit einer schwierigen Frage umgeht. Was ist überhaupt unser Zugang zu „Zeit“? Augustinus meint, dass man sich der Zeit über das Erleben des Gegenwärtigen nähert und dass Vergangenheit und Zukunft immer Abstraktionen vom gegenwärtigen Erleben („contuitus“ – Anschauung) sind. Vergangenheit ist Erinnerung („memoria“), Zukunft ist Erwartung („expectatio“).

In meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit habe ich versucht, eine experimentelle oder auch anschauliche Bestimmung von „subjektiver Gegenwart“ vorzunehmen. Dabei ist deutlich geworden, dass etwa drei Sekunden die „zeitliche Bühne“, das „Zeitfenster“ des jeweils Gegenwärtigen bilden. Zwar glaubt man selbst zumeist, dass das, was man gerade erlebt, was man also wahrnimmt, erinnert oder fühlt, die Größe der zeitlichen Bühne bestimmt. Dem ist nicht so. Die Bühne ist schon da, unabhängig vom Inhalt des Erlebens, sie ist prä-semantisch bestimmt. Das „Drei-Sekunden-Fenster“ ist eine logistische Funktion des Gehirns, die genutzt wird, um Inhaltliches überhaupt erst möglich zu machen. Diese Betrachtung geht über das von Augustinus entwickelte Konzept von Gegenwart hinaus, der den Unterschied zwischen dem Erlebten selbst, den Inhalten also, und seiner Bedingung der Möglichkeit offenbar nicht machte.

James H. Austin: Chase, Chance and Creativity. The Lucky Art of Novelty, Cambridge: MIT Press 2003.

Der Autor hat sich die Mühe gemacht, einmal zusammenzutragen, wie kreative Prozesse normalerweise ablaufen. Zunächst muss man Interesse an einer Sache haben; ist das gegeben, bereitet man sich vor und trägt sein relevantes Wissen im Gehirn zusammen; dann kommt es zu einer Phase der „Inkubation“: Es denkt in einem; wenn man Glück hat, kommt es dann zur Erleuchtung, einem Heureka-Erlebnis, wie es der griechische Mathematiker Archimedes beschrieben hat – doch damit ist der Prozess noch nicht beendet; nun gilt es aktiv zu verifizieren, was einem im vorherigen kreativen Prozess eingefallen ist; und wenn diese Bestätigung auf der expliziten Denk-Ebene erfolgreich war, dann sollte man zur Innovation schreiten und den kreativen Gedanken umsetzen, ihn ausbeuten.

Francis Bacon: Neues Organon, Hamburg: Meiner 1990 (zuerst 1620: Novum Organum).

Für Forscher – und nicht nur für sie – ist das „Neue Organon“ eine wichtige Lektüre: Der Text ist ein Markstein für den Aufbruch der modernen Wissenschaft, da man hier mit möglichen Fehlern des eigenen Denkens vertraut gemacht wird. Aber: Fehler können kreatives Denken auch erst anregen; eine falsch verstandene Theorie, ein sprachliches Missverständnis können Ausgangspunkte für Einfälle sein. Was sind die Fehler, auf die Francis Bacon hinweist? Wir machen Fehler aufgrund unseres evolutionären Erbes, weil wir Menschen sind; wir machen Fehler aufgrund unserer individuellen Prägungen und Vorurteile; wir machen Fehler, weil wir das, was wir denken und glauben, nicht angemessen in Sprache ausdrücken können; und wir machen Fehler, weil wir Theorien mit uns herumtragen und anwenden, die uns oft gar nicht bewusst sind – wir wissen häufig gar nicht, dass wir theoretisch „durchseucht“ sind. Neben diesen warnenden Hinweisen beschreibt Francis Bacon die Methode der Induktion, wie wir also auf der Grundlage vieler konkreter Beobachtungen zu allgemeinen Schlussfolgerungen kommen. Wissenschaftliche Kreativität beruht ganz wesentlich auf Induktionskompetenz, und hierfür ist Charles Darwin eines der besten Beispiele.

Yan Bao & Ernst Pöppel: „Two Spatially Separated Attention Systems in the Visual Field. Evidence from Inhibition of Return“, in: Cognitive Processing 8 (2007), S. 3744.

Wenn man umherschaut, dann ist man davon überzeugt, dass unser Gesichtsfeld homogen strukturiert ist; man glaubt, alle Dinge, die in unserem Gesichtsfeld liegen „stufenfrei“ erreichen zu können. Wer käme auf die Idee, etwas so Selbstverständliches wie die Gleichförmigkeit des Gesichtsfeldes in Frage zu stellen? Kreativität in der Forschung zeigt sich aber gerade darin, nicht alles als selbstverständlich hinzunehmen und sich über das Selbstverständliche ganz besonders zu wundern. Worüber man sich also beispielsweise wundern sollte: Warum bleibt die Welt gleich hell, wenn ich sie nur mit dem rechten oder nur mit dem linken oder mit beiden Augen gleichzeitig betrachte? Mit beiden Augen sollte sie doch heller sein, weil mehr Licht aufgenommen wird. Dass unser Gesichtsfeld nicht homogen strukturiert ist, ergibt sich aus den folgenden Beobachtungen: Wenn wir ein neues Blickziel in der Peripherie des Gesichtsfeldes ansteuern, dann kann dieses neue Ziel mit nur einer einzigen Augenbewegung (einer sogenannten Sakkade) erreicht werden, wenn es bis zu zehn Grad Sehwinkel von der Blick-Achse entfernt ist; darüber hinaus benötigt man zwei Augenbewegungen; ab einem Sehwinkel von etwa 30 Grad muss man zusätzlich eine Kopfbewegung machen. Für das Erreichen der jeweiligen Blickziele sind stets bestimmte neuronale Programme erforderlich, und der Zeitaufwand ist bei jeder der drei beschriebenen Situationen sehr verschieden. Das mag sehr akademisch klingen, und man mag sich fragen, wen das schon interessiert. Es sollte aber jeden interessieren, der Auto fährt. Die verschiedenen Instrumente und Spiegel sind für den Fahrer jeweils mit unterschiedlichem Aufwand zu erreichen. In den rechten Seitenspiegel zu schauen kann in bestimmten Fahrsituationen lebensgefährlich sein, weil es einfach zu lange dauert, dieses Blickziel zu erreichen. Wie schnell wir einer Sache unsere Aufmerksamkeit zuwenden, das hat sich in Yan Baos und meiner Arbeit gezeigt, ist davon abhängig, wo sie im Gesichtsfeld erscheint. Wenn etwas weiter von der Blickachse weg liegt, dann dauert es länger und ist mit mehr Aufwand verbunden, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken; näher Liegendes kann zügiger wieder in Augenschein genommen werden. Und für das Erreichen dieser unterschiedlichen Blickziele sind jeweils spezifische neuronale Strukturen verantwortlich.

Ellen Berscheid: „Love in the Fourth Dimension“, in: Annual Review of Psychology 61 (2010), S. 112.

Wenn es um die Einhaltung der Mitte geht, um das innere Gleichgewicht also, dann ist die romantische Liebe sicher ein Störfaktor, denn sie wirft einen aus der Bahn. Glücklicherweise dauert romantische Liebe aber nicht zu lange, sodass man seine Mitte finden kann, wenn man wieder zu sich kommt. Andererseits: Im Rausch der romantischen Liebe entstehen aus Kreativitätsschüben heraus wunderbare Werke der Kunst, denkt man nur an die Liebesgedichte von Goethe, der unter Liebesqualen gelitten haben muss, liest man seine Gedichte einmal unter einer neurowissenschaftlichen Perspektive. Berscheid beschreibt in ihrer Übersicht vier verschiedene Ausprägungen von „Liebe“, wobei die romantische Liebe nur eine Form ist. Die anderen Formen von Liebe passen durchaus dazu, wie wir als biologische Wesen gemeint sind: Sie haben einen viel weiteren Zeithorizont, so etwa die Bindungsliebe zu seinen Kindern, die Verantwortungsliebe zu seinen Partnern oder die altruistische, hingebende Liebe zu anderen Menschen („agape“), wie sie sich in der Fürsorge ausdrücken kann. Diese Formen der Liebe geben dem Liebenden innere Stabilität und Gleichgewicht. Sie „nutzen“ ihm also genauso wie oder vielleicht sogar mehr als dem Geliebten.

Peter Bieri: Wie wollen wir leben? St.Pölten, Salzburg: Residenz 2011.

Geht es wirklich hauptsächlich darum, wie der Philosoph und Schriftsteller Bieri meint, glücklich zu sein? Nein, es geht nicht um Glück; wer immer nach dem Glück strebt, der landet meist im Unglück oder zumindest in der bleibenden Unzufriedenheit, sein Ziel nicht erreicht zu haben. Wenn wir uns fragen, wie wir als biologische Wesen gemeint sind, dann ist die Antwort: Wir sind dazu gemeint, ein Gleichgewicht herzustellen, die Balance der Lebensprozesse zu sichern, unsere Mitte zu finden. Man kann dafür auch das altmodische Wort „Harmonie“ wählen. Schafft man dieses, Tag für Tag, dann mag sich jeweils retrospektiv ein Gefühl der Zufriedenheit einstellen, und dann mag man sagen, wenn man unbedingt ein Wort dafür braucht, dass man „glücklich“ gewesen ist. „Glück“ in diesem Sinne ist eine sprachliche Etikettierung eines vergangenen Zustandes, ein Wort für etwas, das einem gelungen ist, das aber bereits vorbei ist. Offenbar sind wir von Natur aus allerdings auch dazu verdammt, innere Zustände zu verbalisieren. Wenn wir als primäres Ziel „Glück“ bestimmen und uns pausenlos überprüfen, ob wir nun „glücklich“ sind, dann leben wir gegen unsere Natur. Nun geht es Peter Bieri in seinem Buch aber nicht nur um das Glück als Lebensziel, sondern auch um Würde, und ich kann seiner Position nur zustimmen. Als ich einmal von einer asiatischen Fachkollegin gefragt wurde, was eigentlich der Sinn meines Lebens sei, so war ich zunächst überrascht über die Offenheit der Frage, doch dann sagte ich nach einigem Zögern: „To survive“, und fügte dann hinzu: „In decency.“ In Würde zu überleben. Vielleicht war diese Frage überhaupt der Anstoß zu den Überlegungen, wie sie in diesem Buch ausgebreitet werden.

Edward de Bono: The Use of Lateral Thinking, London: Penguin Books 1967.

Kreativität hat nicht unbedingt etwas mit logischen Denkprozessen zu tun. Logisch gesteuertes Denken wäre „vertikales Denken“, doch de Bono empfiehlt, sich auf das „laterale Denken“ einzulassen und Probleme jeweils aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Jedoch schließen sich beide Denkformen nicht aus, man sollte sie als komplementär betrachten: Im vertikalen Denken bestimmt die Logik die geistige Tätigkeit; im lateralen Denken dient die Logik der geistigen Tätigkeit. Laterale Denkprozesse laufen folgendermaßen ab: Zunächst erkennt man, welches die bestimmenden Ideen bei der versuchten, aber erfolglosen Lösung eines Problems waren; dann versucht man, einen anderen Zugang zu finden, der mit dem ersten nichts zu tun hat. Hierzu muss man sich von der logischen Kontrolle seiner Gedanken befreien und neue Gedanken zulassen, die zunächst ungewöhnlich erscheinen mögen, einen aber auf eine neue Fährte bringen können; auch muss man den Zufall ausnutzen, denn manchmal stolpert man zufällig über Lösungsmöglichkeiten, an die man zuvor nicht gedacht hat – wenn man mit Zufallssensitivität ausgestattet ist und auf das zufällig Gegebene nicht sofort mit Misstrauen reagiert. Neue Ideen kann man nicht erzwingen; manchmal tauchen sie plötzlich aus dem Ozean des impliziten Wissens auf, und dann braucht man eine Antenne, sie zu erkennen, und sollte das Neue nicht zu schnell ablehnen, weil man schon zu wissen meint, dass etwas nicht funktionieren wird. Ich habe den Eindruck, dass manche Menschen in der Tat Angst haben vor einem kreativen Gedanken, der sie aus der Bahn des Gewohnten werfen würde.

John Brockman (Hrsg.): This Will Make You Smarter. New Scientific Concepts to Improve Your Thinking, New York: HarperCollins 2012.

Schon lange gibt es das Konzept der zwei Kulturen, dem zufolge sich die inzwischen hochspezialisierten Natur- und Geisteswissenschaften feindlich gegenüberstehen. Ihnen hat John Brockman aus New York sein Konzept einer „dritten Kultur“ gegenübergestellt: die verständliche Vermittlung wissenschaftlicher Ideen. Jedes Jahr stellt er seiner „Gemeinde“ eine Frage, die dann von über 100 Gemeindemitgliedern, zumeist Wissenschaftlern, in kurzer Form beantwortet wird. Die Frage für das Jahr 2011 war, welches wissenschaftliche Konzept jedermanns „Denkkasten“ („cognitive toolkit“) deutlich verbessern würde. Die „führenden“ Wissenschaftler, die Brockman zur Beantwortung seiner Frage einlädt, kommen allerdings fast ausschließlich aus dem angloamerikanischen Raum; aus dem asiatischen ist keiner vertreten. Ob zum Beispiel Anhänger einer Weltregion aus dem asiatisch-arabischen Raum ähnliche Themen aufgreifen würden und wie sie die Fragen beantworten würden, ist völlig offen. Hier zeigt sich wie überhaupt in der Wissenschaft die angloamerikanische Dominanz, vor allem auch, was den Anspruch betrifft, das Weltwissen zu repräsentieren. Diese kritischen Bemerkungen müssen sein, doch ohne Frage ist das neueste Werk von Brockman eine Fundgrube von Anregungen. Gleich der erste Beitrag von Martin Rees, dem ehemaligen Präsidenten der englischen Royal Society, gibt zu denken: Wir sind geneigt anzunehmen, dass wir gleichsam am Ende der Evolution stehen; etwas Besseres als den Menschen gibt es nicht, was Kreativität und intellektuelle Kompetenz anbelangt. Doch schauen wir uns einmal einige kosmologische Zahlenwerte an: Der Ursprung des Universums wird vor etwa 13,7 Milliarden Jahren angesetzt. Unsere Sonne ist etwa vor viereinhalb Milliarden Jahren entstanden. Leben auf der Erde gibt es seit etwa vier Milliarden Jahren. Aber: Es wird noch etwa sechs Milliarden Jahre dauern, bis unsere Sonne aufhört zu scheinen. Das bedeutet, dass wir noch nicht einmal in der zeitlichen Mitte der evolutionären Prozesse angelangt sind und dass eine unglaubliche Vielfalt weiterer evolutionärer Entwicklungen vor uns liegt. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Arten liegt bei etwa vier Millionen Jahren. Wir Menschen werden also in einigen Hundert Millionen Jahren längst verschwunden sein; neues Leben wird sich entfaltet haben, mit sehr viel höherer oder vielleicht auch sehr viel geringerer Kompetenz. Schon Charles Darwin hat darauf hingewiesen, dass keine der lebenden Arten unverändert in einer fernen Zukunft existieren wird. Mit Blick auf die Evolution der Arten ist der Mensch auf eine besondere Weise kreativ, wobei es sich allerdings um eine perverse Kreativität handelt: Durch uns Menschen gehen jedes Jahr etwa 4000 Arten verloren. Damit schaffen wir aber zugleich ökologische Nischen, also Lebensräume, in die hinein sich neues Leben entfaltet. Auch in diesem Sinn ist die menschliche Art, wenn man es langfristig betrachtet, kreativ. Der menschliche Einfluss auf die Umwelt entspricht den Einschlägen jener Meteoriten, die im Abstand von einigen zig Millionen Jahren das Leben auf der Erde vernichten, wie etwa vor 56 Millionen Jahren, als die Dinosaurier ausstarben, wodurch aber neue Lebensräume geschaffen wurden. Das Buch von Brockman endet mit dem Beitrag eines deutschen Gemeindemitglieds, nämlich von mir, in dem ich mich lustig mache über die Inhalte des „Denkkastens“ und diese Inhalte sogar als „mentalen Müll“ bezeichne. Wir verwenden laufend abstrakte Begriffe, die als Verkürzungen das Nachdenken ersparen. So ist der Begriff „Kreativität“ selbst ein solcher undefinierter Begriff: Was meinen wir eigentlich, wenn wir davon sprechen? Auch sind solche Begriffe wie „Evolution“ oder „Gen“ oder „Kultur“ und auch der Begriff „Abstraktion“ selbst Verkürzungen, die es erlauben, über etwas zu sprechen, ohne uns über die inhaltliche Tragweite Rechenschaft ablegen zu müssen. Wir haben eine natürliche Tendenz, Sachverhalte zu ontologisieren, also abstrakte Begriffe zu erfinden, die hauptsächlich der vereinfachten Kommunikation dienen. Mit ihnen reduzieren wir Komplexität, weil wir es gerne einfach haben. Sind diese Komplexitätsreduktionen aber angemessene Repräsentationen der Welt um uns und auch in uns, oder sind sie nur Ausdruck unserer Vorurteile? Dennoch: Wir können gar nicht anders, wir können auf die Begrifflichkeiten nicht verzichten. Auch dies ist unser evolutionäres Erbe.

Jacob Bronowski: The Origins of Knowledge and Imagination, New Haven: Yale University Press 1978.

Was unterscheidet den Menschen von anderen Arten? Bronowski betont, dass nur Menschen Kunst und Wissenschaft entwickelt haben. In diesen entfaltet sich eine besondere Art von Kreativität. Außerdem nennt er einige weitere Unterschiede, die sich auf die Sexualsphäre beziehen, dass beispielsweise nur Menschen sich beim Geschlechtsverkehr einander zuwenden – ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dies zutrifft. Die Künste sieht er im Wesentlichen in zwei sensorischen Systemen verankert, nämlich im Sehen und im Hören. Aus diesem Grund haben sich die „Raum-Künste“ (Malerei, Bildhauerei, Architektur) und die „Zeit-Künste“ (Musik, Dichtkunst, Theater) entwickelt. Dass diese Künste unser kulturelles Leben dominieren, steht außer Frage, doch wie verhält es sich mit den anderen sensorischen Systemen wie dem Riechen und dem Schmecken? Ist die Kochkunst nicht auch eine Kunst, und ist sie nicht offen für die Kreativität jedes Einzelnen? Nicht jeder malt Bilder oder spielt Klavier, doch essen müssen wir alle – deshalb bietet es sich geradezu an, das Kochen als einen kreativen Akt zu inszenieren, der nicht nur der Ernährung, sondern dem Speisen dient.

Michael von Brück (Hrsg.): Religion. Segen oder Fluch der Menschheit? Frankfurt (Main): Verlag der Weltreligionen 2008.

Die Beiträge dieser Textsammlung beleuchten verschiedene Religionen kritisch, und zwar Judentum, Christentum, den Islam, Hinduismus und Buddhismus. Bekannte Religionsgründer wie Buddha, Jesus oder Mohammed müssen nicht nur charismatische Persönlichkeiten gewesen sein, sondern waren jeweils auf ihre Weise ungewöhnlich kreativ. Doch niemand wird behaupten können, dass die Verkündigung des Friedens die Menschen in diesen Glaubensrichtungen zu friedfertigen Menschen gemacht hätte, von wenigen individuellen Ausnahmen abgesehen. Was im Rahmen der monotheistischen Religionen und im Namen des jeweiligen Gottes an menschlichem Leid geschehen ist, spricht eher dafür, dass die religiösen Welten ein Korrektiv benötigen. Dieses könnte in der biologischen Natur des Menschen begründet sein. Dass das nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, wird dadurch bestätigt, dass die „Goldene Regel“ in allen Kulturkreisen zu gelten scheint, auch in nicht-religiösen Gesellschaften wie dem Konfuzianismus. Das Buch enthält auch einen Beitrag von mir, in dem ich über die „Versklavung“ des menschlichen Bewusstseins nachdenke und die Meditation als eine Weise beschreibe, sich aus dieser Versklavung zu befreien. Warum versklavt? Aus Gründen des Überlebens müssen unsere Sinneskanäle immer offen sein; wir können gar nicht „abschalten“. Die Meditation, das Gebet, die konzentrierte Hingabe wie in der Liebe sind jedoch Wege, sich aus der Versklavung zu befreien – auch wenn das stets nur für kurze Zeit möglich ist.

Walter B. Cannon: The Wisdom of the Body, New York: Norton & Co. 1932.

Dieses ist eines der grundlegenden Werke, in denen die Bedeutung der Homöostase als biologisches Prinzip hervorgehoben wird. Es geht jedem Organismus seit der Erfindung des Lebens immer nur darum, ein Gleichgewicht sicherzustellen – wir folgen einer „Weisheit des Leibes“. Wenn wir in diesem Buch von Kreativität sprechen, dann gehen wir immer davon aus, dass diese genau jenem Zweck dient: unsere „Mitte“ herzustellen und zu bewahren. Und da man von der Einheit der Natur ausgehen kann, gilt das Prinzip der „Mittigkeit“ oder Harmonie nicht nur für das biologische Gleichgewicht, sondern ebenso für die psychische, soziale, kulturelle oder organisatorische Balance. Kreativität ist der Trick von Mutter Natur, dieses Lebensziel zu erreichen.

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bände, Berlin 19231929.

Cassirers Werk ist für mich die Verkörperung lebendiger Kreativität, die sich auf der Basis breiten Wissens entfaltet. Wenn wir heute über die Bedeutung von Interdisziplinarität sprechen, dann müssen wir uns Cassirer zuwenden. In den drei Bänden der „Philosophie der symbolischen Formen“ zeigt jemand mit nicht zu übertreffender Gedankenkraft, wie Wissen aus verschiedenen Bereichen integriert werden kann. Und man lernt etwas über die Verwandtschaft von Mythos, Religion, Sprache und Kunst, die jeweils unterschiedliche Trajektorien, unterschiedliche Pfade, des menschlichen Geistes repräsentieren und in dem ursprünglichen Antrieb des Menschen begründet sind, etwas zum Ausdruck zu bringen.

Lin Chen: „The Topological Approach to Perceptual Organization“, in: Visual Cognition 12 (2005), S. 553637.

Das Auge ist das Fenster zum Wissen; nahezu die Hälfte des menschlichen Gehirns befasst sich mit visueller Informationsverarbeitung. Also tut man gut daran, zu verstehen oder es zumindest zu versuchen, wie wir eigentlich „sehen“. Chens Beitrag stellt einen radikal neuen und kreativen Ansatz dar, visuelle Wahrnehmung zu verstehen. Seine Theorie repräsentiert eine Befreiung von den Vorurteilen, die sich in der westlich gefärbten Wissenschaft sich über Jahrhunderte entwickelt haben. Ich bin der Meinung, dass diese neue Theorie sich nur in einem anderen Kulturkreis entfalten konnte, denn Kulturkreise können einen Rahmen dafür vorgeben, welches Maß an Kreativität möglich ist. Das ist der Kerngedanke: Unser Seh-Apparat setzt Bilder nicht auf der Grundlage von punktförmigen Reizen zusammen, die auf der Netzhaut abgebildet sind, wie bisher angenommen wurde. Vielmehr werden zunächst topologische Invarianten wie Flächen oder Kanten aus der optischen Welt extrahiert. Diese bilden die Grundlage für das, was wir sehen. Wahrscheinlich weiß Lin Chen gar nicht, dass das künstlerische Werk des russischen Malers Kasimir Malewitsch, dem Begründer des Suprematismus, die visuelle Welt ganz ähnlich zu erfassen scheint.

Carl W. Cotman & Nicole C. Berchtold: „Exercise. A Behavioral Intervention to Enhance Brain Health and Plasticity“, in: Trends in Neurosciences 25 (2002), S. 295301.

Wenn wir so leben wollen, wie wir als biologische Wesen gemeint sind, dann sollten wir natürlich möglichst gesund leben. Es ist erstaunlich, wie zurückhaltend körperliche Aktivität von vielen Medizinern thematisiert wird, vielleicht aus Angst, dass man dann zu wenig Medikamente zu sich nimmt, wenn man Sport treibt. Es ist seit Langem bekannt, dass körperliche Aktivität nicht nur der Gesundheit generell förderlich ist, sondern vor allem auch den geistigen Funktionen, insbesondere bei älteren Menschen. Auch dass Sport eine antidepressive Wirkung hat, weiß man schon lange. Körperliche Aktivität erhöht den Spiegel neurotropher Faktoren im Gehirn, die für die Verbindung von Nervenzellen zuständig sind, und macht so widerstandsfähiger gegen Schlaganfälle und erhöht die Lernfähigkeit. Wenn wir etwas für die Gesundheit der Kinder tun wollen, wenn vermieden werden soll, dass viele in der nicht mehr ganz so fernen Zukunft wegen Übergewicht und mangelndem Sport am metabolischen Syndrom leiden werden (Diabetes, Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen), dann muss man sie zu körperlicher Aktivität bewegen. In manchen Ländern wie China, auf die wir gerne aus politischen Gründen herabsehen, wird das bereits systematisch getan. Also: Bewegen Sie sich! So sind wir Menschen gemeint!

António R. Damásio: Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain, New York: Avon 1994.

Damásio zufolge war der Fehler von Descartes, das Körperliche vom Geistigen zu trennen, beide als verschiedene Substanzen zu sehen. Dieser Dualismus steht dem Monismus gegenüber, wie er als Grundposition in den modernen Neurowissenschaften seit Langem vertreten wird. Philosophisch gesprochen kann man einen solchen pragmatischen Monismus auch als empirischen Realismus bezeichnen. Dass manche diese Position herablassend als „Materialismus“ bezeichnen, muss man sich als Hirnforscher gefallen lassen, wenn man darunter versteht, dass alles Psychische eine materiale Basis hat. Denn letzten Endes ist im Gehirn alles „Chemie“. Sowohl den Vertretern eines Dualismus, und das sind wohl die meisten Menschen, als auch den Vertretern eines Monismus muss klar sein, dass sie ihre Position nicht „beweisen“ können. Man kann also die Richtigkeit der Position eines pragmatischen Monismus ebenso wenig beweisen wie die Falschheit eines Dualismus. Das Leib-Seele-Problem ist nicht lösbar.

Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart: Reclam 1963 (zuerst 1859: The Origin of Species by Means of Natural Selection).

Am Ende schreibt Darwin, einer der kreativsten Wissenschaftler aller Zeiten: „In einer fernen Zukunft sehe ich ein weites Feld für noch bedeutsamere Forschungen. Die Psychologie wird sicher auf der von Herbert Spencer geschaffenen Grundlage weiterbauen: daß jedes geistige Vermögen und jede Fähigkeit nur allmählich und stufenweise erlangt werden kann. Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte.“ Und etwas später heißt es: „Nach der Vergangenheit zu urteilen, können wir annehmen, daß keine einzige lebende Art ihr unverändertes Abbild auf eine ferne Zukunft übertragen wird.“ Darwin steht als Begründer der evolutionären Biologie für mindestens vier Einsichten: das Konzept der Evolution selber, dass es also keine Konstanz der Arten gibt; die Idee, dass alle Organismen einen gemeinsamen Ursprung haben und sich in der Evolution in verschiedene Richtungen entfalten; die Überzeugung einer graduellen Evolution ohne Sprünge oder Diskontinuitäten; und schließlich die Theorie, dass der Mechanismus der Evolution die Selektion sei.

René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, Hamburg: Meiner 1990 (zuerst 1637: Discours de la méthode).

Für jeden Forscher ist dies eine notwendige Lektüre. Wir werden mit vier Regeln des Denkens vertraut gemacht, die wir bei der Lösung eines Problems immer im Blick haben sollten. Die Formulierung dieser Regeln durch einen damals jungen Mann, der nach Sicherheit in der Welt suchte, war selbst ein höchst kreativer Akt, und heute gilt es, kreative Leistungen auf der Grundlage der kartesischen Regeln zu überprüfen. In dem Werk von Descartes wird erstmals auf seinen später berühmtesten Satz hingewiesen: „Ich denke, also bin ich.“ Ein besonderes Merkmal dieses Diskurses „Discours“ ist auch, dass er sehr viel später aufgeschrieben wurde, als sein gedanklicher Inhalt entstand. Descartes war Söldner im bayerischen Heer zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, und währenddessen, im Winter von 1618 auf 1619, formte sich in ihm seine neue Gedankenwelt in einer besonders kreativen Weise.

Richard Feynman: The Character of Physical Law, Cambridge: MIT Press 1965.

Was bedeutet eigentlich „Gesetz“ in den verschiedenen Wissenschaften? Es scheint, dass der Gegenstand der Betrachtung auch einen Rahmen dafür vorgibt, was in dieser wissenschaftlichen Disziplin als ein Gesetz angesehen werden kann, sodass verschiedene Wissenschaften einen jeweils anderen Begriff davon haben können. Normative, mathematische und juristische Gesetze beispielsweise haben ganz unterschiedliche Grundlagen. Es scheint damit unmöglich zu sein, ein allgemeines „Gesetz der Kreativität“ zu formulieren; Gesetze sind den wirklich „harten“ Naturwissenschaften vorbehalten (und in einem anderen Sinn natürlich der Rechtslehre und der Politik). Dies mag auch ein Trost sein, das nämlich, was Kreativität ausmacht, nicht vollständig durchleuchten zu können. Künstler äußern sogar manchmal die Befürchtung, zu viel über das kreative Schaffen zu erfahren und so ihre Spontaneität zu verlieren.

Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Gesammelte Werke, Band 4, 3. Aufl., Frankfurt (Main): S. Fischer 1961 (zuerst 1904).

Für viele ist dieses im Übrigen auch sehr witzige Buch ein guter Einstieg in die Theorie der Psychoanalyse. Hier wird auch erläutert, was es mit dem sogenannten Freud’schen Versprecher auf sich hat. Im Grunde ist dieser „Versprecher“ eine kreative Leistung des Gehirns, bei der sich etwas aus der verborgenen Gedankenwelt vordrängelt und ungeschützt zeigt. Sich nie zu versprechen ist deshalb eher ein Zeichen zu starker Kontrolle, dafür, jenes nicht aus sich herauszulassen, das öffentlich werden möchte.

Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Band 15, 3. Aufl., Frankfurt (Main): S. Fischer 1961 (zuerst 1932).

Die 31. Vorlesung, „Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit“, sollte jeder Arzt oder Psychologe lesen. Sie enthält jenes Modell, in dem zwischen Ich, Es und Über-Ich unterschieden wird. Und sie endet mit dem berühmten Satz: „Wo Es war, soll Ich werden.“ Man kann aber auch eine ganz andere Auffassung vertreten, nämlich: „Wo Ich war, soll Es werden.“ Dies gilt vor allem für rituelle Abläufe, die das Leben erleichtern. Man muss nicht immer alles durchdenken. Es gibt Augenblicke, in denen man sich hingibt, es gibt Augenblicke, in denen man einfach nur staunt. Und Hingabe und Staunen sind Wurzeln der Kreativität.

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 7., durchges. Aufl., Frankfurt (Main): Athenäum 1962 (zuerst 1940).

Vielleicht ist es wirklich die Pause zwischen dem Auftreten eines Bedürfnisses und seiner Befriedigung, der „Hiatus“, wie ihn Arnold Gehlen beschreibt, der den Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, und wenn nicht qualitativ, so doch zumindest quantitativ. Dieses Intervall zwischen dem Auftreten eines Bedürfnisses und seiner Befriedigung schafft den zeitlichen Rahmen für individuelle und kulturelle Kreativität.

Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München: C.H. Beck 2000.

Dieses Buch begeistert mich. Aufgrund der Einsichten, die Gerhardt entwickelt, und aufgrund der Weise, wie es geschrieben ist. Es beginnt mit einer Abrechnung mit der eigenen Disziplin, der Philosophie, die ihr wichtigste Thema vernachlässigt habe, nämlich die Individualität: „Die praktische Philosophie hat vor dem Individuum vollkommen versagt.“ Gerhardt beschreibt Individualität als den elementaren Tatbestand unserer Welt: „Alles ist individuell, und alles will sich, sofern es wollen kann, in seiner Individualität erhalten. Daher ist das Individuelle schon in seinem puren Dasein der Ursprung des menschlichen Handelns.“ Im Hinblick auf die Frage, wie wir als biologische Wesen gemeint sind, heißt dies also, dass wir als Individuen gemeint sind. Doch sei hier hinzugefügt: Auch! Denn wir sind immer in einen sozialen Rahmen eingebunden, was aber nur als Individuum geschehen kann.

Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken, Berlin: Berlin 2002.

Man müsste sich eigentlich bei Mutter Natur darüber beklagen, dass wir nicht mit einem „statistischen Sinn“ ausgestattet sind. Wie man mit diesem Defizit umgehen kann, das erfährt man in diesem Buch. Es ist nicht nur ein Vergnügen, es zu lesen, man kann danach auch leichter durch den Alltag navigieren. Vor allem aber fängt man an, die Zeitungen kritischer zu lesen, die voll sind von Abbildungen, die einen irreführen (sollen). Kleinste Veränderungen etwa des Marktes können groß erscheinen, wenn man die Ordinate (die senkrechte Linie bei Histogrammen) nicht mit Null beginnen lässt. Hier sind sowohl Bild-Kompetenz als auch statistischer Sinn gefragt, wenn man nicht für dumm verkauft werden will.

Durs Grünbein: Aroma. Ein römisches Zeichenbuch, Berlin: Suhrkamp 2010.

Wenn es eine dichterische Darstellung dessen gibt, was wir in diesem Buch versuchen, nämlich das Konzept der Kreativität mit seiner Funktion der Herstellung und Sicherung des inneren Gleichgewichts in Verbindung zu bringen, dann ist es dieses Werk. Grünbeins Buch ist nicht nur ein Dokument dichterischer Kreativität, es ist gleichzeitig Ausdruck einer Suche nach der „Mitte“. 2000 Jahre unserer Geschichte werden in dem Kapitel „Carcer Mamertinus: Der Mann Paulus“ in erschütternder Weise offengelegt. Der Mann Paulus kommt einem sehr nah, und man versteht seine Verzweiflung aus dem Römerbrief, das Gute zu kennen, und es doch nicht zu tun.

Martin Heidegger: Gelassenheit. Pfullingen: Neske 1959.

Wenn man seine Bodenständigkeit verloren hat, dann empfiehlt Heidegger Gelassenheit und die Offenheit zu den Dingen. Ich muss bekennen, dass ich im Schwarzwald immer wieder zur Hütte in Todtnauberg gewandert bin, wo Heidegger offenbar sein bekanntes Werk „Sein und Zeit“ geschrieben hat. Einmal habe ich sogar nachgefragt, ob ich die Hütte kaufen könne, doch das war eine zu verwegene Anfrage. Wenn man in Freiburg ins Gymnasium gegangen ist, dann kam man in den 1950er-Jahren des letzten Jahrhunderts um Heidegger nicht herum. Einmal hat es mich sogar in eine Vorlesung des Philosophen verschlagen. Heidegger interpretierte ein Gedicht von Hölderlin. Ich verstand nichts. Vielleicht ging es manch anderen auch so. Aber man erlebte einen kreativen Geist in Aktion, nicht zuletzt was die Sprachgewalt anbelangt.

Hermann von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, 2., umgearb. Aufl., Hamburg/Leipzig: Voss 1896.

Dies ist eines der bedeutendsten Werke der Wissenschaftsgeschichte, das nach über einhundert Jahren immer noch grundlegend für die Erforschung des Sehens ist. Helmholtz fasst die wissenschaftliche Literatur mit 7833 aufgeführten Veröffentlichungen von 1600 bis 1894 zusammen, die er vermutlich alle gelesen hat. In seinem Handbuch formuliert er auch ein Problem, das uns Neurowissenschaftler bewegt und noch immer ungelöst ist: Warum erscheint uns die Welt stabil, wenn wir doch unsere Augen dauernd bewegen und das Abbild dieser Welt sich laufend ändert? Eigentlich müsste doch zusammen mit den Augenbewegungen auch das äußere Bild der Welt hin und her springen.

Harry Helson: Adaptation-Level Theory. An Experimental and Systematic Approach to Behavior, New York: Harper & Row 1964.

Hier wird eine außerordentlich interessante Theorie formuliert, die vermutlich sogar richtig ist, aber in der Psychologie irgendwie in der Versenkung verschwunden ist – auch die Wissenschaft unterliegt Moden. Helsons Theorie besagt Folgendes: Wann immer wir sensorische Reize verarbeiten, die sich innerhalb einer Wahrnehmungskategorie in ihrer Intensität unterscheiden, dann werden diese in unserem Gehirn derart integriert, dass ihr geometrischer Mittelwert (oder der arithmetische Mittelwirt ihrer Logarithmen) bestimmt wird. Diese Operation bringt den Vorteil mit sich, dass die Sensitivität für Unterschiede im Bereich des Mittelwerts, wo üblicherweise die meisten Beobachtungen liegen, verbessert wird. Was heißt das konkret? Wer zum Beispiel verschiedene Weine zu beurteilen hat, entwickelt hierfür eine feine Nase und ist schließlich in der Lage, auch kleinste Unterschiede zu bemerken. Besonders gut gelingt ihm dies im Bereich der aktuell mittleren Qualität, denn das Gehirn ist so optimiert, jeweils eine operative Mitte zu bestimmen, an der sich die Beurteilung orientiert. Doch gilt dieses Gesetz natürlich nicht nur für die Beurteilung von Wein, sondern für alle Wahrnehmungskategorien.

Beth A. Hennessey & Teresa M. Amabile: „Creativity“, in: Annual Review of Psychology 61 (2010), S. 569598.

Aus Hennesseys und Amabiles Übersichtsartikel wird deutlich, dass die empirische psychologische Forschung zum abstrakten Konzept der Kreativität noch in den Kinderschuhen steckt. Trotzdem wurden schon einige wichtige Dinge herausgefunden: So ist offenbar die rechte Hirnhälfte an kreativen Prozessen besonders beteiligt, etwa wenn man eine plötzliche Einsicht hatte, wenn sich also ein Aha-Erlebnis einstellt. Dies ist insofern interessant, als die rechte Gehirnhälfte besonders mit der räumlichen Vorstellung und dem emotionalen Bewerten assoziiert ist. Auf die Bildlichkeit, die Imagination und auf die emotionale Einbettung im kreativen Akt wird immer wieder hingewiesen. Darüber hinaus betonen die Autorinnen, dass der kulturelle Rahmen kreatives Verhalten ganz entscheidend prägt. In meinen Umfragen an der Peking University wurde mir sehr deutlich, dass das Konzept der Kreativität in diesem Kulturkreis eher negativ besetzt ist. Wenn das Ziel einer Kultur Harmonie ist, dann können kreative Vorschläge in der Tat ein Störfaktor sein.

Toshihiko Izutsu: Philosophie des Zen-Buddhismus, Hamburg: Rowohlt 1979.

Wer sich mit Hirnforschung befasst, muss immer auch Denkweisen anderer Kulturkreise kennenlernen, weil diese einen Rahmen definieren, der auf der Grundlage biologischer Randbedingungen die kulturelle Formbarkeit des Gehirns erkennen lässt. Izutsus Buch erlaubt genau das, und hat man sich eine Weile mit den asiatischen Kulturen beschäftigt, wird schnell deutlich: Wie Kreativität beurteilt wird, das ist in verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich. Zu viel Kreativität kann auch störend sein und das soziale Miteinander belasten, wie es in asiatischen Kulturen häufig gesehen wird.

Oliver Jahraus: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, Stuttgart: Reclam 2006.

Oft ist bereits der erste Satz ist die herausragende Leistung eines Schriftstellers. Wer ist nicht fasziniert von der Erzählung „Die Verwandlung“, in der sich Gregor Samsa eines Morgens „in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ sah! Jahraus verweist bei dieser Erzählung wie bei dem Roman „Der Prozeß“ auf die Bedeutung des ersten Satzes, in dem bereits die ganze Handlung implizit enthalten sei. „Der Prozeß“ beginnt mit den Worten: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas getan hätte, war er eines Morgens verhaftet.“ Diese Werke wie das Leben von Kafka selbst zeigen, wie jemand aus dem Gleichgewicht geworfen wird, seine Mitte verliert. Jahraus zeigt in seiner spannend zu lesenden Analyse, dass für Kafka das Schreiben der Ausweg war, seine verlorene Mitte zu finden, die Existenz zu bewältigen. So schreibt Kafka über sich selbst in einem Tagebuch: „In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehen, die sich auf die Freuden des Geschlechts, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens, der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab.“ Das Erleben der eigenen Kreativität im Schreiben ist eine Weise, die verlorene Identität wiederzufinden, sich vielleicht seiner Mitte wieder zu versichern. Zwar gelang Kafka selbst dies nicht, doch schaffte er mit seinem Werk einen ungeheuren, ungeheuerlichen Blick darauf, wie wir nicht gemeint sind.

William James: The Principles of Psychology, Cambridge: Harvard University Press 1983 (zuerst 1890).

Mit seinen weit über 1000 Seiten ist dies immer noch eines der bedeutendsten Werke der amerikanischen Psychologie: Hier findet man „alles“. Mit einem Problem in diesem Werk musste ich mich besonders auseinandersetzen, nämlich mit James’ Bestimmung der „subjektiven Gegenwart“. Und hier ist ihm meiner Einschätzung nach ein Denkfehler unterlaufen. James verwendet zwei anschauliche Bilder, um sein Konzept zu verdeutlichen: Gegenwart sei so, als ob man auf einem Pferd im Sattel sitze oder auf einem Segelboot durch die Wellen gleite, und man jeweils nach vorne und zurück schauen könne, während man sich fortbewegt. Es sei demnach so, als würde sich ein bestimmtes Zeitintervall gleichförmig durch die Welt schieben, wie ein Boot durch die Wellen. Die Gegenwart: ein „travelling moment“. Und dies ist das Problem: Eine solche subjektive Gegenwart hätte nur einen abstrakten Anfang und ein abstraktes Ende. Das Gegenmodell ist die „springende Gegenwart“: Bestimmte sensorische Reize – zum Beispiel etwas, was man plötzlich hört oder sieht – führen dazu, dass sich jeweils ein Gegenwartsfenster öffnet und nach einer bestimmten Zeit wieder schließt. Eine solche Gegenwart fließt nicht, sondern sie springt mit bestimmten und auch messbaren Zeitschritten. Aus meinen eigenen Untersuchungen geht hervor, dass die zeitliche „Schrittlänge“ des menschlichen Gehirns bis zu etwa drei Sekunden beträgt.

Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, New York: Farrar, Straus & Giroux 2011.

Kahneman, der als Psychologe den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten hat, unterscheidet zwei Denksysteme, mit denen wir auf der Grundlage unseres evolutionären Erbes durch die Welt navigieren: System 1 funktioniert automatisch und schnell. Es ist durch Anstrengungslosigkeit gekennzeichnet und unterliegt nicht der willentlichen Kontrolle. System 2 ist durch mentale Anstrengung gekennzeichnet, unterliegt der Kontrolle von Aufmerksamkeit und ist langsam, verglichen mit System 1. Subjektiv verbinden wir mit System 2 solche Begriffe wie „Konzentration“ oder auch „Kontrolle“ unseres Handelns. Einige Beispiele für anstrengungslose Handlungen, die System 1 zugeordnet werden können: ein Auto auf der leeren Autobahn fahren; emotionale Wärme in einer Stimme empfinden; zwei und zwei addieren können; sehen, welches von zwei Dingen weiter entfernt ist; den Gruß eines anderen erkennen. Beispiele für System 2, die mit mentalem Aufwand verbunden sind: der Cocktail-Party-Effekt, sich also auf eine Person zu konzentrieren, wenn alle durcheinanderreden; jemanden mit einem bestimmten Merkmal in einer Gruppe von Menschen ausmachen; sein Verhalten in einer ungewöhnlichen sozialen Situation kontrollieren; einen Preisvergleich von Produkten vornehmen; die Richtigkeit eines logischen Arguments überprüfen. System 1 ist durch Impulsivität, System 2 durch Selbstkontrolle und Aufmerksamkeit gekennzeichnet. System 1 ist kreativ, während System 2 das Ergebnis der Kreativität überprüft.

Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg: Meiner 1969, S. 19 (zuerst in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 481494).

Dies ist wohl die wichtigste Nennung in diesem etwas anderen Literaturverzeichnis. Kant schreibt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“ Nach Kant gibt es also eine klare Antwort auf die Frage, wie wir gemeint sind: Mutter Natur hat uns die Freiheit gegeben, mit Mut unser Leben zu gestalten.

Ivo Kohler: Über Aufbau und Wandlungen in der Wahrnehmungswelt, Wien: Rohrer 1951.

Ivo Kohler war sicher einer der unkonventionellsten Forscher in der Psychologie, und ich schätze mich glücklich, sein Doktorand gewesen zu sein. Er fand Fakultätssitzungen außerordentlich langweilig, und so nahm er in eine Sitzung einmal weiße Mäuse mit, die er während der langatmigen Ausführungen von Kollegen für seine anstehenden Experimente trainierte. Auf Frage des Vorsitzenden, warum er das mache, erwiderte er, dass dies wichtiger sei als das, was in der Sitzung verhandelt würde. So macht man sich natürlich nicht unbedingt Freunde. In der angegebenen Abhandlung wird das wohl am längsten dauernde Experiment beschrieben, das jemals in der Psychologie durchgeführt wurde: Es dauerte 124 Tage, vom November 1946 bis zum März 1947, und Kohler selbst war die Versuchsperson. Er trug eine Brille, die die Welt auf den Kopf stellte, und er wollte wissen, ob sich das Seh-System an die umgedrehte Welt anpassen kann. Das geschah in der Tat; die Welt richtete sich wieder auf und Kohler fuhr mit der Umkehrbrille sogar Motorrad und ging Skilaufen. Als er die Brille nach 124 Tagen abnahm, dauerte es wieder einige Zeit, bis er normal sehen konnte. Wenn man sich bewusst macht, dass dieses Experiment unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchgeführt wurde, dann wird deutlich, wie sehr hier jemand trotz schwieriger äußerer Umstände vom Wissensdurst getrieben war. Kohlers Experimente wurden zur Grundlage der modernen Untersuchungen zur Plastizität des Nervensystems, wie sie nun weltweit auch auf der Ebene von einzelnen Zellen im Gehirn durchgeführt werden.

Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter, 25. erg. Aufl., Berlin: Springer 1967 (zuerst 1921).

In Kretschmers Werk drückt sich die Sehnsucht aus, von der äußeren Erscheinung auf die innere Welt eines Menschen zu schließen. Man fragt sich allerdings, ob diese Sehnsucht nach Ordnung unserem kreativen Denkapparat nicht einen Streich spielt. Es könnte sein, dass unsere Wahrnehmung Kategorien erfindet, die nur unsere Erwartung bestätigen, also beispielsweise, dass untersetzte und eher rundliche Menschen (Kretschmer nennt sie „Pykniker“), eher gemütlich, gesellig und häufig sehr kreativ sind, während andere, die eher lang und dünn sind, eher kompliziert und sprunghaft sind. Bevor man diese Idee als absurd ablehnt, sei auf eine persönliche Beobachtung hingewiesen. Vor Kurzem begleitete ich Eva Ruhnau als Kofferträger zu einem Kongress in Paris, bei dem theoretische Physiker ihre Gedanken austauschten. Vom Inhalt des Vorgetragenen verstand ich nichts, sodass meine Aufmerksamkeit auf die äußere Erscheinung der Vortragenden gezogen wurde. Mir fiel auf, dass eine Mehrzahl der Redner eher lang und dünn war, in der Terminologie von Kretschmer also „leptosom“. Ich machte eine Strichliste und konnte etwa drei Viertel der Redner den Leptosomen zuordnen. Dann ging es zum „Kontrollexperiment“ in den Jardin du Luxembourg, und ich zählte, wie viele der zufällig vorbeikommenden Männer leptosom waren – etwa ein Viertel. Die Zahlen reichten aus, um einen Chi-Quadrat-Test, also eine statistische Bewertung, durchzuführen: Der Befund war hoch signifikant. Schlussfolgerung: Theoretische Physiker sind eher leptosom. Nun stellt sich die Frage: Ist die Weise des Denkens, wie sie vielleicht typisch für einen theoretischen Physiker ist, eher in einem langen und dünnen Körper zu Hause? Ist ihre Art der Kreativität auch eine Sache des Körperbaus?

Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2., rev. Aufl., Frankfurt (Main): Suhrkamp 1976 (zuerst 1962: The Structure of Scientific Revolutions).

In „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ führt Thomas Kuhn sein Konzept des „Paradigmas“ aus: Wissenschaftliche Arbeit findet jeweils in einem bestimmten Rahmen statt, den man auch als „Mainstream“ bezeichnen kann. Es ist unmöglich, wie Kuhn betont, die Vertreter innerhalb ihres Paradigmas von einem neuen, kreativen Gedanken zu überzeugen; sie müssen erst „wegsterben“, damit eine neue Kreativität sich durchsetzen kann. Wenn man davon ausgeht, dass die Schaffenszeit eines Wissenschaftlers, der in ein bestimmtes Paradigma eingebettet ist, etwa 30 Jahre beträgt, dann bedeutet dies, dass innerhalb eines Forschungsbereichs höchstens etwa drei Paradigmen in einem Jahrhundert wirksam sein können.

Edwin Land: „Recent Advances in Retinex Theory and Some Implications for Cortical Computations. Colour Vision and the Natural Image“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 80 (1983), S. 51635169.

Der Erfinder, Unternehmer und Forscher Edwin Land hat nachgewiesen, dass wir Farben anders wahrnehmen, als es in den Lehrbüchern auf Grundlage der klassischen Physik immer noch vertreten wird. Farben werden im Gehirn konstruiert und sind nicht einfach nur die Widerspiegelungen von bestimmten elektromagnetischen Wellen, wie es Isaac Newton in seinem Werk „Opticks“ beschrieben hat. Die Theorie von Land ist auch wesentlich für das Verstehen von Farbkonstanz, dass also bei verschiedenen Beleuchtungsbedingungen bestimmte Oberflächen ihre Farben bewahren, auch wenn sich die Reflexion des Lichts wesentlich geändert hat. Und Farbkonstanz, wie auch Helligkeitskonstanz oder Größenkonstanz von optischen Reizen, ist entscheidend dafür, dass wir „etwas als etwas“ wahrnehmen, es für uns also seine Identität behält.

Joseph Lengeler, Bernd S. Müller & Franco di Primio: „Neubewertung kognitiver Leistungen im Lichte der Fähigkeiten einzelliger Lebewesen“, in: Kognitionswissenschaft 8 (2000), S. 160178.

Es zeigt sich, dass einzellige Lebewesen bereits viele Funktionen aufweisen, die man üblicherweise nur bei mehrzelligen Organismen mit Gehirn erwartet. Das Überraschende ist, dass diese Funktionen in ganz unterschiedlicher Weise im Organismus verankert sind. Was kann man daraus lernen? Dass die natürliche Umwelt offenbar einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen Organismen Lebens- und Überlebensstrategien entwickeln, die unabhängig davon sind, auf welche Weise die Umwelt repräsentiert wird. Diese Übereinstimmung ist für mich einer der wichtigsten Belege für die Einheit der Natur, in die wir eingebettet sind. Die Umwelt gibt Randbedingungen vor, die in der Evolution des Lebendigen bestimmte Selektionen geradezu erzwingen.

Nikos K. Logothetis: „What We Can and What We Cannot Do With fMRI“, in: Nature 453 (2008), S. 869878.

Um wissenschaftliche Erkenntnisse zu ergattern, benötigt man bestimmte Methoden. Die Hirnforschung wie die Psychologie orientieren sich hierbei im Wesentlichen am Konzept der Induktion, wie es Francis Bacon vor nahezu 400Jahren formuliert hat. Aus Beobachtungen und Daten aus Experimenten kommt man – üblicherweise mithilfe von statistischen Verfahren – zu Schlussfolgerungen. Diese sind stets Aussagen über Wahrscheinlichkeiten und erheben nicht den Anspruch einer absoluten Wahrheit. Neuerdings spielen die bildgebenden Verfahren eine wichtige Rolle, so zum Beispiel die funktionelle Kernspintomografie (fMRI). Auf diesem Gebiet ist Nikos Logothetis einer der Großmeister, und nebenbei ist er auch noch ein genialer Pianist. In seinem Text zeigt er, was wir alles können, wenn wir dieses neue Verfahren anwenden – aber vielleicht auch lieber bleiben lassen sollten. Nikos Logothetis ist auch ein Beispiel dafür, wie viel kompetenter man als sein „Doktorvater“ sein kann (er war mein Doktorand).

Konrad Lorenz: „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (1943), S. 235409.

Dieser sehr lange Aufsatz ist grundlegend für die moderne Verhaltensforschung; jeder Leser muss selber bewerten, wie er die aus dem Geist der Zeit heraus geschriebenen Passagen beurteilt. Für mich hat sich aus dieser Arbeit überhaupt erst die Verhaltensforschung erschlossen. Ein wesentliches Argument von Lorenz war, dass sich die evolutionären Prinzipien nicht nur auf körperliche Merkmale beziehen, sondern dass sich auch tierisches und menschliches Verhalten als evolutionäres Erbe verstehen lässt. Ich habe nie verstanden, warum sich viele Zeitgenossen vehement gegen diese Argumentation wehren. Hinter dieser Opposition, oft mit großer Aggressivität vorgetragen, verbirgt sich wohl der nicht ausrottbare Dualismus, dem zufolge man das Psychische nicht auf ein evolutionäres Erbe beziehen könne. Aber auf was denn sonst?

A. R. Luria: The Mind of a Mnemonist. A Little Book about a Vast Memory, New York: Basic 1968.

Der bedeutende russische Neurologe und Neuropsychologe klärt darüber auf, dass ein zu gutes Gedächtnis jemanden lebensunfähig machen kann. Wenn man alles behält, dann kann die Fähigkeit, Abstraktionen zu bilden, unterentwickelt sein, wie dies in jenem Fall gegeben war, den Luria beschreibt. Abstraktionen vereinfachen das Leben entscheidend, und vor allem beschleunigen sie unser Handeln. Wer sich in Details verliert, und wir alle kennen solche Menschen, braucht oft sehr, sehr lange, um eine Entscheidung zu treffen. Abstraktionen haben auch etwas mit kreativer Müllbeseitigung von überflüssigen Informationen im Gehirn zu tun.

Christa Maar & Hubert Burda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004.

Dies ist eine Sammlung von Beiträgen, die Grundlage für eine zu entwickelnde „Allgemeine Bildwissenschaft“ sein können. Es ist eine wissenschaftliche Merkwürdigkeit, dass es eine Linguistik gibt, aber keine „Imaginistik“. Vielleicht kommt dadurch zum Ausdruck, dass wir in unserem Kulturkreis stärker am expliziten Wissen orientiert sind und weniger am bildlichen Wissen. Das ist aus neurowissenschaftlicher Sicht auch insofern merkwürdig, als etwa die Hälfte des menschlichen Gehirns sich mit der visuellen Informationsverarbeitung befasst, wir also eigentlich „Augentiere“ sind.

Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München: C. H. Beck 2010 (zuerst 2010: A History of the World in 100 Objects).

Was für ein grandioses Buch! Kreativität kann sich auch im Museum entfalten, und MacGregor macht deutlich, warum es überhaupt Museen gibt: An einfach erscheinenden Beispielen wird die Kreativität der kulturellen Entwicklung aufgezeigt. Aber es muss immer jemanden geben, der durch das Museum führt, um einem die Augen zu öffnen, so wie MacGregor durch das British Museum in London. Der Weg bringt uns von Mumien zu Kreditkarten. Und überall zeigt sich die Kreativität des Menschen. Hier kann jeder eine kleine Übung machen: Was alles ist von Menschen geschaffen worden, wenn man nur einmal um sich schaut wie ich jetzt gerade an meinem Schreibtisch? Es kommen Hunderte von kreativen Leistungen aus der Vergangenheit zusammen, deren Schöpfer in Vergessenheit geraten sind. Doch man kann zumindest symbolisch ihre Gegenwart herbeizaubern, indem man tief Luft holt und bei diesem Atemzug relativ sicher sein kann, dass man ein Sauerstoffmolekül einatmet, das auch sie schon einmal eingeatmet haben (das ergibt sich aus einigen Überlegungen der Chemie und der Mathematik).

Ernst Mayr: What Evolution Is, New York: Basic 2001.

Ernst Mayr war fast 100 Jahre alt, als er sein Werk schrieb, das eine klare Orientierung über Fragen der Evolution ermöglicht. Das Buch ist auch ein Beweis dafür, dass man noch im höchsten Alter kreativ sein kann – das Alter ist also keine Entschuldigung dafür, nicht kreativ zu sein.

Colin McGinn: Mindsight. Image, Dream, Meaning, Cambridge: Harvard University Press 2004.

Der analytische Philosoph McGinn verdeutlicht in „Mindsight“ den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Der schottische Philosoph David Hume sah zwischen Wahrnehmung und Vorstellung nur einen quantitativen Unterschied, sodass Vorstellungen „blassen“ Wahrnehmungen mit weniger Intensität und Lebhaftigkeit entsprechen. Demgegenüber betont McGinn den qualitativen Unterschied: Trotz aller Ähnlichkeit wie etwa dem offensichtlichen Bezug zum Sehen seien Vorstellung und Wahrnehmung prinzipiell verschieden. Vorstellungen haben einen notwendigen Bezug zu Erinnerungen. Wenn wir beispielsweise eine Zeitreise in unsere eigene Vergangenheit machen und dann Bilder vor unserem inneren Auge entstehen, so bestimmen diese Vorstellungen unser episodisches Gedächtnis. Vorstellungen haben sich von der unmittelbaren Wahrnehmung gelöst. Sie sind die operative Grundlage des Denkens und vor allem der Kreativität. Wenn wir uns etwas Neues ausdenken, dann verbinden wir bisherige Vorstellungen in einer Weise, die vorher nicht bestand, und diese neuen Verbindungen finden jenseits des ursprünglichen Wahrnehmungsprozesses statt. In der Vorstellung haben mentale Transformationen stattgefunden, und dabei sind Vorstellungen dem Willen unterworfen worden. Aber nicht nur: Der Traum lebt von der Aneinanderreihung im Gedächtnis gespeicherter Vorstellungen, die ihre eigene Geschichte inszenieren.

D. Q. McInerny: Being Logical. A Guide to Good Thinking, New York: Random House 2005.

Auch wenn die Logik nicht die treibende Kraft von Kreativität ist, so überspringt Kreativität nicht die logischen Gesetze. McInerny gibt einerseits einen Überblick über die Grund-Sätze der Logik: über den Satz der Identität („Etwas ist, was es ist“), den Satz vom ausgeschlossenen Dritten („Tertium non datur“ – „Etwas ist oder ist nicht; ein Drittes gibt es nicht“) oder den Satz der Kausalität („Alles ist begründet“). Besonders wertvoll sind aber seine Hinweise, was man jenseits der logischen Regeln alles falsch machen und so seiner eigenen Kreativität ein Bein stellen kann: Mangelnde Aufmerksamkeit; Tatsachen nicht genau bestimmen; Gedanken schlecht in Worten abbilden; Schlussfolgerungen inkompetent kommunizieren; neuen Gedanken gegenüber übermäßig skeptisch oder engstirnig sein; seinen gesunden Menschenverstand nicht gelten lassen.

Margaret Mead: Mann und Weib. Das Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt, Hamburg: Rowohlt 1958 (zuerst 1940: Male and Female).

Wenn man nur die biologischen Gesichtspunkte in den Blick nimmt, stellt sich die Frage, ob Mann und Frau jenseits der reproduktiven Gesichtspunkte noch in irgendeiner anderen Hinsicht unterschiedlich gemeint sind. In diesem Zusammenhang weist Mead darauf hin, dass der Orgasmus beim Mann eine biologische Notwendigkeit ist, was für Frauen aber in keiner Weise gilt. Menschen können sich reproduzieren, ohne dass eine Frau jemals einen Orgasmus erlebt hat. Doch die biologischen Vorbedingungen seien gegeben, dass der Orgasmus gelernt und sogar kreativ entfaltet werden kann. Ob dies gelingt, bestimmen vor allem kulturelle Randbedingungen. Dabei können Frauen qualitativ verschiedene Orgasmen erleben (worauf bereits Sigmund Freud hingewiesen hat): Der an der Klitoris ausgelöste Orgasmus entspricht in seiner Dauer eher dem männlichen Orgasmus, während der vaginal ausgelöste Orgasmus durch höhere Intensität und längere Dauer gekennzeichnet sein kann und offenbar eine rein weibliche Angelegenheit ist.

Stanley Milgram: Obedience to Authority. An Experimental View, New York: Harper & Row 1974.

Jeder kennt vermutlich die berühmten Experimente von Stanley Milgram, in denen er Versuchspersonen in die Situation gebracht hat, Anweisungen eines Versuchsleiters zu folgen, bei denen die Betroffenen annehmen mussten, anderen Versuchspersonen Schmerzen zuzufügen. Ursprünglich ging es wohl darum, zu prüfen, dass die Akzeptanz von Autorität und blindem Gehorsam spezifisch für bestimmte Kulturen sei. Es wurde aber festgestellt, dass es in allen Nationen, in denen diese Experimente durchgeführt wurden, zu ähnlichen Ergebnissen kam. Wird man in eine Situation gebracht, in der jemand anderes Kompetenz ausstrahlt und Verantwortung übernimmt, ist die Mehrzahl der Menschen in der Lage, sich in einer geradezu perversen Art und Weise gehorsam zu zeigen. Bemerkenswert an diesen Studien war, dass sich Psychiater bei der Voraussage des möglichen Gehorsams in solchen experimentellen Situationen völlig verschätzt hatten; man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Mehrzahl der Menschen ihnen gegebene Anweisungen blind durchführen würden. Was mag dahinterstecken? Üblicherweise werden die Experimente von Milgram unter einem negativen Aspekt des menschlichen Sozialverhaltens gesehen. Es gibt jedoch nichts in unserem evolutionären Erbe, das nicht eine positive Bedeutung hat. Als evolutionäres Erbe tragen wir in uns, dass wir in Gruppen leben und eine soziale Kohäsion benötigen: Gruppen sind typischerweise so organisiert, dass jemand anführt und andere gehorchen. Gehorsam ist der notwendige Klebstoff für soziale Gemeinschaften, damit man anstrengungslos miteinander umgehen kann. Kaum ein Stationsarzt käme auf die Idee, dem Chefarzt während der Patientenvisite bei einer Diagnose zu widersprechen. Ebenso ist es für Doktoranden außerordentlich schwierig, ihrem Professor zu sagen, dass er sich irrt. Zur akademischen Erziehung gehört genau dies aber auch: lehren und lernen, Mut zum Widerspruch zu entwickeln. Natürlich besteht in solchen Situationen immer die Gefahr, als Querulant zu erscheinen. Deshalb sollten Gemeinschaften, wenn sie den Anspruch erheben, kreativ zu sein, in komplementärer Weise strukturiert sein, nämlich sowohl hierarchisch als auch heterarchisch. Die Hierarchie bezieht sich auf organisatorische Bereiche, die Heterarchie auf die Kreativität, auf die Genese von Wissen. Und auf dieser Ebene sind alle gleich. Man muss herausspringen aus dem Rahmen des evolutionären Erbes, Führungspersonen einfach hinterherzulaufen, und mit Mut das Neue denken – man kann sich gegen das Ausgeliefertsein in sozialen Situationen wehren. Aber Kreativität verlangt immer auch Mut.

Arthur I. Miller: Insights of Genius. Imagery and Creativity in Science and Art, New York: Springer 1996.

Es ist vor allem die Imagination, die Verbildlichung eines Gedanken, die kreatives Denken ausmacht. Dies macht Miller an Persönlichkeiten deutlich, die üblicherweise für ihre theoretischen Einsichten bekannt sind, so zum Beispiel Albert Einstein, Werner Heisenberg oder Niels Bohr. Besonders intensiv widmet Miller sich Albert Einstein, dessen Denken bereits von dem Gestaltpsychologen Max Wertheimer genauer studiert wurde. Ein Ergebnis von Wertheimers Untersuchungen war, dass im kreativen Akt ein unwiderstehlicher Drang besteht, eine „gute Gestalt“ als Ergebnis des kreativen Denkprozesses zu erzeugen– und dies gilt für jeden Menschen, nicht nur für den genialen Physiker Einstein. Eine „gute Gestalt“, eine stimmige Konstellation von Einzelelementen, ist aber ein ästhetisches Kriterium. Dies führt zu dem Gedanken, dass Kreativität immer eine ästhetische Dimension hat. Die Richtigkeit eines Gedanken muss stets auch ästhetisch überzeugen.

Paul J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, München: Matthes & Seitz 1977 (zuerst 1900).

Vielleicht sollten Leserinnen diesen Kommentar aus gesundheitlichen Gründen überspringen, denn vermutlich dürfte ihr Blutdruck in die Höhe schnellen. Vor etwa 100 Jahren, und das ist noch gar nicht so lange her, betonte der Arzt Dr. Paul Möbius die Inferiorität des weiblichen Geschlechts. „Gleichmacherei ist überall vom Uebel“, stellte er fest, „aber die Geschlechtsgleichmacherei ist ein besonders großes Uebel.“ Schließlich habe man nachgewiesen, „daß für das geistige Leben außerordentlich wichtige Hirnteile, die Windungen des Stirn- und Schläfenlappens, beim Weibe schlechter entwickelt sind als beim Manne, und daß dieser Unterschied schon bei der Geburt besteht“. Man muss es leider sagen: Die Größe eines Hirnareals wird auch heute noch mit geistiger Kompetenz in Zusammenhang gebracht. Männer und Frauen unterscheide zudem, „daß der Instinkt beim Weibe eine größere Rolle spielt als beim Manne. […] Der Instinkt nun macht das Weib tierähnlich, unselbständig, sicher und heiter. […] Mit dieser Tierähnlichkeit hängen sehr viele weibliche Eigentümlichkeiten zusammen“, so zum Beispiel „der Mangel eignen Urteils“. Fazit: „Aller Fortschritt geht vom Manne aus.“ Und so geht es in einem fort. Das Buch wurde, das sei betont, auch damals schon sehr kontrovers diskutiert, erhielt aber viel Zuspruch, auch von Frauen. Warum taucht es in diesem „Literaturverzeichnis“ auf? Aus zwei Gründen: Von einer Gleichheit von Mann und Frau, etwa was die Bezahlung gleichwertiger Tätigkeiten anbelangt, kann auch heute noch keine Rede sein. Und an den Stammtischen werden noch immer solche Ansichten vertreten, wie sie Dr. Möbius ausgebreitet hat. Der andere Grund: Was sind eigentlich heute „schwachsinnige“ Hypothesen, die man uns in 100 Jahren vorhalten wird? Eine könnte jene sein, die hinter der Altersdiskriminierung steckt: zu meinen, dass man jenseits der 50, der 60 sowieso, der 70 aber allemal, automatisch dem „physiologischen Schwachsinn“ ausgeliefert sei. Natürlich ist das Alter der größte Risikofaktor, um eine Demenz zu entwickeln, aber die meisten Menschen entwickeln schlichtweg keine. Und Gegenbeispiele besonders hoher geistiger Kompetenz bei „alten“ Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern gibt es viele.

Thomas Morus: Utopia. Ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia, Stuttgart: Reclam 1983 (zuerst 1516).

Die Wortschöpfung „Utopia“ von Morus legt gleichsam das Wort „Syntopie“ in den Mund. „Syntopie“ ist auch das letzte Wort dieses Buches und sollte den unglücklichen Begriff „Interdisziplinarität“ ersetzen: Utopien beschreiben zukünftige Orte, die es noch nicht gibt und vielleicht niemals wirklich geben wird; „Syntopie“ bezeichnet dagegen einen neuen „Ort“, der dadurch geschaffen wird, dass zwei Dinge zusammengebracht werden, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Und dort entfaltet sich Kreativität, an Orten, an denen Verschiedenes zusammenkommt.

Armin Nassehi: Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Storys, Hamburg: Murmann 2010.

Armin Nassehi ist eine großartige Einführung in Themen der Soziologie gelungen, die dem Laien und vielleicht sogar manchen Spezialisten die Augen dafür öffnet, was eine Gesellschaft bestimmt und was sie bewegt. Ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht, ist das der „Perspektive“ und des Perspektivwechsels: „Warum erscheint die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen so unterschiedlich? Warum verfangen wir uns in unseren eigenen Sichtweisen? Warum erscheint uns diese Gesellschaft als nie abgeschlossen, nie fertig, nie stillstehend, nie sicher?“ Aus der Perspektive des Neurowissenschaftlers gibt es hierauf durchaus einige Antworten, wie oben dargestellt wurde. Von besonderem theoretischen Wert ist das Schlusskapitel mit dem Titel „Verdoppelungen. Warum sich die Welt unserer Beschreibung verdankt“, und hier ist der Neurowissenschaftler gefordert, Widerstand zu leisten. „Das Beschreiben der Welt ist selbst der Akt, der die Welt hervorbringt“, schreibt Nassehi. Schaffen wir die Welt wirklich „nur“ mit der Beschreibung, also aus einer Außenperspektive? In Nassehis These spiegelt sich der tiefe Glaube an das explizite Wissen, das die menschliche Natur ausmachen soll, und hier sind Zweifel angebracht. Ich bin bereits vor aller Reflexion „in der Welt“, und ich entdecke erst im Nachhinein, begabt mit der möglichen Außenperspektive auf mich selbst, dass ich verschiedene Perspektiven haben kann, die die Welt auf jeweils eigene Weise verdoppeln. Und dann erst sind unterschiedliche Beschreibungen überhaupt möglich. Aber vielleicht habe ich hier auch etwas missverstanden.

Walle J. H. Nauta & Michael Feirtag: Fundamental Neuroanatomy, New York: Freeman & Co. 1986.

Was für eine merkwürdige Konstellation: Walle Nauta, einer der führenden Neuroanatomen des 20. Jahrhunderts, arbeitete in einem Institut für Psychologie. Damit ist er auch eine Inkarnation der Idee von Interdisziplinarität oder „Syntopie“. Viele der führenden Neurowissenschaftler haben ihre Prägung durch ihn erfahren. Berühmt waren seine Vorlesungen dienstagabends am Massachusetts Institute of Technology, in denen seine Denkweise besonders deutlich wurde. Mit Bescheidenheit und Stolz, Unabhängigkeit im Denken und Wertschätzung der anderen führte er uns in sein Fach ein. Einer seiner zentralen Gedanken, der auch zu einem zentralen Gedanken dieses Buches wurde: Die Funktionen des Hirnstamms bis hinauf zum Mittelhirn (Mesencephalon) dienen dem fundamentalen Zweck, das „Gleichgewicht“ zu halten, „posture“ zu sichern, wobei „posture“ sich sowohl auf den Bewegungsapparat als auch auf das Innere bezieht. Es geht um „Standsicherheit“ und damit um die Möglichkeit, sich zielgerecht bewegen zu können, aber auch um die Herstellung der Homöostase oder des inneren Gleichgewichts. Der corticale Mantel, jenes großartige Gehirn, auf das wir so stolz sind, dient im Wesentlichen der Bewertung von Situationen und inneren Zuständen. Damit stellt der corticale Mantel auch jene Dienstleistungsfunktionen bereit, die notwendig sind, um „Haltung“ zu bewahren.

Donald A. Norman: Emotional Design. Why We Love (or Hate) Everyday Things, New York: Basic 2004.

Offenbar werden allerlei moderne Technologien von jungen, männlichen und rechtshändigen Ingenieuren entwickelt, die ihre Kreativität lieber nutzen, um das zu tun, was sie können, aber nicht für das, was Menschen brauchen, also anstrengungslos nutzen können. Gebrauchstauglichkeit und Design von Produkten müssen sich am menschlichen Maß orientieren, und hierfür scheint vieles von dem Wissen aus der Hirnforschung ganz nützlich zu sein. Denn wer kapituliert nicht angesichts der vielen Funktionen seines Computers, seines Handys, seines TV-Gerätes? Kreativität entfaltet sich überall, doch nicht überall ist sie nützlich oder entspricht dem menschlichen Maß.

José Ortega y Gasset: Gespräch beim Golf. Vier Essays, Wiesbaden: Insel 1957 (zuerst 1916 und 1925).

In den vier Essays des spanischen Philosophen geht es um personale Identität und um ästhetische Prinzipien, darum etwa, dass ein Gesicht auch als schön bezeichnet werden kann, wenn einzelne Elemente alles andere als schön sind; durch die Beziehung der verschiedenen Elemente kann eine Gestalt entstehen, die man als schön empfindet. Ortega y Gassets Essays zeigen auch, dass man aus jeder Situation kreative Potenziale schöpfen kann, in der Straßenbahn oder aus einem Gespräch beim Golf. Man muss nur bereit sein, seine kreativen Potenziale zu nutzen.

Rolf Pfeifer & Josh Bongard: How the Body Shapes the Way We Think. A New View of Intelligence, Cambridge: MIT Press 2007.

Endlich wird auch einmal aus einer ganz anderen Perspektive deutlich gemacht, dass wir nicht nur „Denkwesen“ sind, wie es die Philosophie von René Descartes nahelegt. Wir haben auch einen Körper, und aus der Körperlichkeit leiten sich kognitive Prozesse ab. Damit versetzt die Robotik der klassischen künstlichen Intelligenzforschung den Todesstoß, in der man meinte, man bräuchte nur das explizite Wissen, um uns zu simulieren. Wir sind mehr als nur Automaten, die Symbole verarbeiten. Es ist spannend zu beobachten, dass uns Hirnforschern gerade aus der Robotik Bündnispartner zuwachsen.

Ernst Pöppel: Lust und Schmerz. Über den Ursprung der Welt im Gehirn, 2. Auflage, Berlin: Siedler 1993 (zuerst 1982).

Sind Lust und Schmerz eigentlich Gegensätze? Könnte es nicht sein, dass in unserem Erleben, was immer es auch sei, stets beides gleichzeitig aber mit unterschiedlicher Intensität enthalten ist? Hierfür spricht in der Tat einiges. Deshalb sollten Lust und Schmerz nicht als Gegenpole angesehen werden, sondern als etwas Gemeinsames. Wenn am Erleben weder das Positive noch das Negative, weder das Lustvolle noch das Schmerzhafte beteiligt ist (und dies muss nicht auf einer bewussten Ebene der Fall sein), dann befindet man sich im Zustand der absoluten Gleichgültigkeit, wie es typisch für eine schwere Depression oder für ein Burn-out ist. Die Gefühle werden blass, man kann nichts mehr behalten, es fehlt der Antrieb, etwas zu tun, und auch die Wahrnehmungen verlieren ihre Intensität. Das ist alles kein erstrebenswerter Zustand. Unsere optimale „Erlebensmitte“ liegt nicht zwischen den Polen Lust und Schmerz, es sind beide Dimensionen in allem enthalten, was unser Seelenleben ausmacht. Verliert sich das Gleichgewicht zwischen Lust und Schmerz und kippt in die eine oder andere Richtung, dann entstehen Wollust oder Qual. Wollust und tiefer Schmerz sind Grenzerlebnisse, in denen die innere Balance aufgehoben ist. Bemerkenswert ist aber, dass diese Grenzerlebnisse manchmal nicht mehr zu unterscheiden sind, nämlich in der Qual der Lust und der Lust der Qual.

Ernst Pöppel: Grenzen des Bewusstseins. Wie kommen wir zur Zeit und wie entsteht Wirklichkeit? Überarb. Neuaufl., Frankfurt (Main): Insel 1997 (zuerst 1985).

Unser Weltbild ist beschränkt, unser Zugang zur Wirklichkeit eng. Dies ergibt sich allein aus der Tatsache, dass unsere Sinnesorgane nur kleine Ausschnitte der Welt erfassen können. Für den größten Teil dessen, was uns umgibt, sind wir blind und taub, und unsere Kompetenz beim Riechen ist beschämend verglichen mit unserem Hund. Forschung dient vor allem auch dem Zweck, diese Begrenztheit zu überwinden: Wir erfinden Mikroskope und Teleskope, damit wir besser, genauer sehen können. Trotz der offenkundigen Grenzen finden wir uns aber irgendwie in der Welt zurecht. Das gelingt insbesondere dadurch, dass das Gehirn zeitsensitive Programme entwickelt hat, die zum einen der Definition von Ereignissen dienen und zum anderen zeitliche Inseln der subjektiven Gegenwart schaffen. Solche Zeitfenster dauern beim Menschen etwa drei Sekunden, und in meinem Buch schlage ich vor, den Zustand „bewusst“, das „Bewusstsein“, auf der Grundlage dieser zeitlichen Mechanismen zu definieren. Meine Definition von „Bewusstsein“ ist also keine philosophische, sondern eine operative, die sich an Beobachtungen im Verhalten und Erleben orientiert.

Ernst Pöppel: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München: Hanser 2006.

Dieses Buch hat fast ausschließlich schlechte, sehr schlechte Kritiken bekommen, doch damit muss ein Autor leben, auch wenn er etwa 15 Jahre daran gearbeitet hat. Begonnen hat dieses Buchprojekt mit dem Ziel, eine Klassifikation psychischer Funktionen zu entwickeln, eine Taxonomie des Erlebens zu entdecken oder zu erfinden. Nach etwa zehn Jahren merkte ich, dass ich gescheitert war, dass aus dem Projekt nichts wird, und einige Hundert Seiten Geschriebenes wurden dem Müll übergeben. Danach habe ich das genaue Gegenteil versucht, also ein Buch ohne jede Ordnung zu schreiben, ein Buch, das man in alle Richtungen lesen kann, das man irgendwo aufschlagen und zu lesen beginnen kann. Jedes „normale“ Buch gibt durch sein Inhaltsverzeichnis einen expliziten Rahmen vor. Das dient der Orientierung, der Leser findet sich leichter zurecht, es schreibt sich natürlich auch leichter, doch verbirgt sich dahinter zumeist eine Theorie, die dem Autor selbst gar nicht bewusst ist. Man tut dann so, als sei das Wissen, das ausgebreitet wird, auch in dieser ordentlichen Reihenfolge entstanden. Das ist natürlich Unsinn. Wissenschaftliche Arbeit, sofern sie kreativ ist, gleicht eher einem chaotischen Prozess, denn die Suche nach Erkenntnissen in einem Forscher folgt selten einem geraden Weg. Woher weiß man, was einem morgen einfällt? Dieser Prozess der Unordnung, des Zufälligen ist in diesem Buch simuliert worden, wobei für manche Leser noch besonders störend hinzukommt, dass plötzliche Assoziationen, die mir beim Schreiben gekommen sind, nicht unterdrückt wurden. Das Buch hat, wie manche Leser sagen, zu viele Sätze in Klammern. Wenn das Buch überhaupt neue inhaltliche Aspekte hat, dann ist es die Entwicklung des Gedankens, dass wir uns bei der Erklärung von Prozessen des Gehirns und Phänomenen des Erlebens von monokausalen Erklärungen verabschieden müssen. Nie hat etwas nur eine Ursache. (Allerdings gab es auch positive Kommentare zu diesem Buch, und einer meinte sogar, man solle wissenschaftliche Bücher stets aus der „Innenperspektive“ schreiben.)

Ernst Pöppel: Zum Entscheiden geboren. Hirnforschung für Manager, München: Hanser 2008.

Wenn man sich fragt, wie wir gemeint sind, dann ist eine Antwort, dass wir uns notwendigerweise immerzu, von Augenblick zu Augenblick, entscheiden. Dabei gilt es zwischen zwei Arten von Entscheidungen zu unterscheiden, nämlich solchen, die wir bewusst treffen, und solchen, die gleichsam mit uns geschehen, also ohne bewussten Eingriff erfolgen. Das ergibt sich alleine daraus, dass wir über ein explizites und ein implizites Wissenssystem verfügen. Im Rahmen des impliziten Wissens entscheidet das Gehirn für uns und belästigt uns gar nicht erst mit längeren Überlegungen. Im Gegensatz zum Buch „Der Rahmen“ ist dieses Buch sehr ordentlich in zehn Kapitel gegliedert, wobei jede Kapitelnummer einen neurowissenschaftlichen Sachverhalt repräsentiert: die Einheit des Bewusstseins (1. Kapitel), zwei Gehirnhälften mit ihren verschiedenen Kompetenzen (2. Kapitel), drei Weisen des Wissens (3. Kapitel), vier Fehler bzw. Regeln des Denkens (4. Kapitel), fünf grundlegende Merkmale der Persönlichkeit (5. Kapitel) und so weiter. Im zehnten Kapitel wird eine „Entscheidungspyramide“ mit zehn Elementen und vier Schichten vorgestellt, die den Rahmen abstecken, innerhalb dessen Entscheidungen getroffen werden. An der Spitze der Pyramide steht das Ziel, dem letzten Endes alle Entscheidungen dienen, nämlich ein Gleichgewicht, ein Equilibrium, eine Homöostase herzustellen, eine dynamische Mitte zu finden, die für jeden Einzelnen, aber auch für Institutionen gilt.

Ernst Pöppel & Eva Ruhnau: „Psychologie als eine auf Modelle angewiesene Angelegenheit ohne Taxonomie – eine Polemik“, in: Nova Acta Leopoldina NF 110 (2011), S. 213–233.

Man darf es eigentlich gar nicht laut sagen, aber die Psychologie und die Hirnforschung sind gar keine Wissenschaften, wenn man einen strengen Maßstab anlegt. Ein Fachgebiet gilt dann als eine Wissenschaft, wenn seine Inhalte einer klaren Klassifikation unterliegen, wenn es eine Taxonomie gibt. Danach sucht man in unserer Zunft vergebens, was auch die mathematische Physikerin Eva Ruhnau bemängelt. Hirnforschung ist ohne Frage interessant, ja sogar spannend, sie hat für die Forscher einen hohen Unterhaltungswert und die Öffentlichkeit ist gar zu oft fasziniert von neuen Beobachtungen. Doch eine solide Wissenschaft zur Erklärung des menschlichen Erlebens oder Verhaltens ist sie eigentlich nicht. Verglichen mit Physik, Chemie oder Biologie sind wir eine „Wissenschaft des Werdens“. Deshalb ist es eine wichtige Herausforderung, gültige Klassifikationen zu entwickeln, vielleicht sogar eine allgemein verbindliche Taxonomie zu schaffen. Im Augenblick ist es noch ganz anders: Manche Modelle, an denen wir uns orientieren, kommen aus der Linguistik, andere aus der traditionellen Philosophie, wieder andere aus der Physik (daraus wurde dann die „Psychophysik“), weitere aus der Verhaltensforschung oder aus Alltagsbeobachtungen, schließlich solche aus der Neurologie und Psychiatrie und – von mir bevorzugt – aus der Neuropsychologie; und jedes Modell transportiert seine eigenen Vorurteile. Das ist alles sehr spannend, aber auch sehr unverbindlich. Trotzdem scheint es die wenigsten Forscher in der Psychologie oder Hirnforschung zu stören, denn es gibt genug Details, die es zu erforschen gilt und an denen man sich erfreuen kann.

Ernst Pöppel & Beatrice Wagner: Je älter desto besser, München: Gräfe und Unzer 2010.

Es ist keine neue Einsicht, dass das Älterwerden auch Vorteile mit sich bringt. Vor etwa 2000 Jahren hat der römische Staatsmann und Philosoph Cicero in einem seiner wichtigsten Texte („Cato maior de senectute“) einen Vorteil des Alters beschrieben, den vielleicht heute nicht jeder unterschreiben mag: dass wir nämlich nicht mehr unseren sexuellen Bedürfnissen ausgeliefert sind. Moderne Studien zeigen, dass dies für viele gilt, aber sicher nicht für alle. In diesem Buch beschreiben wir in zehn Kapiteln, unterstützt durch aufschlussreiche Gespräche mit Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, welche Chancen sich im Alter, in der „Generation plus“, für jeden auftun. Dafür gibt es allerdings eine Bedingung: Man muss den Willen aufbringen, sein Leben selber zu leben, man muss Verantwortung für sich selbst übernehmen. Dann kann man immer noch lernen, etwas Neues beginnen, die Gegenwart genießen, mit seinem Scheitern fertigwerden, denn natürlich gehört das Scheitern auch zum Leben und zum Älterwerden. Wir leben in einer Zeit, in der das Alter im Wesentlichen unter dem Gesichtspunkt das Abbaus, der Krankheit, des endgültigen Verfalls gesehen wird. Natürlich bringt das Alter viele Risiken mit sich, doch die Mehrzahl der Menschen ist bis in das hohe Alter gesund. Und manche erlangen im Alter sogar Weisheit, wobei man natürlich nicht versuchen sollte zu definieren, was Weisheit ist.

Tomás Radil: „Zeit in Auschwitz – Zeit nach Auschwitz“, in: Ernst Pöppel & Max Kerner (Hrsg.): Zeit und Mensch, Aachen: Thouet 1996, S. 6575.

Der tschechische Neurowissenschaftler Tomás Radil war als Jugendlicher in Auschwitz. „Zeit in Auschwitz – Zeit nach Auschwitz“ ist der erschütternde Bericht über die Lebensbedingungen im Lager, und es ist die Schilderung eines Lebens danach, in dem ein Forscher wichtige Beiträge zum Verständnis des menschlichen Gehirns geleistet hat. Außerordentlich wichtig sind die Hinweise über ethische Prinzipien des Lagerlebens. Trotz der grauenvollen Bedingungen bewahrte die „Goldene Regel“ ihre Gültigkeit, wie sie philosophisch im kategorischen Imperativ von Immanuel Kant formuliert wurde. Eine weitere Einsicht Radils: Vergeben ist nicht möglich; man sollte sich hier keinen Illusionen hingeben. Was aber im weiteren und neuen Zusammenleben nach einer solchen Katastrophe möglich ist, das ist die Versöhnung, die „reconciliation“, wie sie auch politisch tatsächlich verwirklicht wurde.

David M. Raup: Extinction. Bad Genes or Bad Luck? New York: Norton & Co. 1991.

In Raups Buch erfährt man unter anderem, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von Arten nur etwa vier Millionen Jahre beträgt, dass also die meisten jemals entstandenen Arten auf dieser Erde schon wieder ausgestorben sind. Wäre es unter dem Gesichtspunkt der Evolution dann eine solche Katastrophe, wenn die Menschheit als Ganzes wieder von der Erde verschwinden würde? Denn schließlich gibt es uns ja schon einige Zeit. Durch das Verschwinden der Menschen auf diesem Globus würde in der biologischen Evolution eine unglaubliche Kreativität freigesetzt werden. Wenn wir also Spielball anderer Mächte wären, und vielleicht sind wir es ja sogar, dann könnte es im Interesse dieser Mächte liegen, die Menschen recht bald wieder aussterben zu lassen. Und dann wären alle Bemühungen der Menschheit, durch Wissenschaft und Technologie die Lebenserwartung der Menschheit zu verlängern, ein störendes Element im kreativen Plan dieser Mächte.

Ingo Rentschler, Barbara Herzberger & David Epstein (Hrsg.): Beauty and the Brain. Biological Aspects of Aesthetics, Basel: Birkhäuser 1988.

Dies ist offenbar das erste Buch, in dem auf einer breiten Basis neurowissenschaftliche und psychologische Aspekte mit den Künsten in Beziehung gebracht und ästhetische Prinzipien in einem biologischen Rahmen erörtert werden. Das Buch basiert auf einer Reihe von Tagungen einer Studiengruppe, die von der Werner Reimers Stiftung in Bad Homburg finanziert wurde. Es gab zunächst erhebliche Widerstände, die Studiengruppe überhaupt einzurichten. Eine Besonderheit der Tagungen war, und dies muss man im Rückblick betonen, dass die Kommunikation zwischen den eingeladenen Künstlern und den Naturwissenschaftlern völlig problemlos war. Man hatte ein gemeinsames Grundverständnis und teilte einen gemeinsamen Enthusiasmus. Das war mit den Geistes- und Kulturwissenschaftlern ganz anders, oft gekennzeichnet durch die unterschiedlichen „Sprachspiele“ – man verstand einander einfach nicht. Ein Grund für die gute Kommunikation zwischen Künstlern und experimentellen Wissenschaftlern mag auch der sein, dass beide Gruppen praxisorientiert arbeiten; es entstehen Werke, in denen etwas zum Ausdruck gebracht wird oder in denen neues Wissen erzeugt werden soll. Ein experimenteller Aufbau kann auch als ein Kunstwerk verstanden werden, und manche Künstler der Moderne wie meine Freunde Olafur Eliasson oder Igor Sacharow-Ross experimentieren mit dem Betrachter.

Eva Ruhnau, Susanne Kridlo, Bernd Busch & Kurt Roessler (Hrsg.): Ethik und Heuchelei, Köln: DuMont 2000.

Im Jahre 1998 fand in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ein Symposium mit diesem Titel statt, bei dem Themen aus Medizin, Gentechnik, Kerntechnik und Umweltforschung behandelt wurden; die Diskussionen waren naturgemäß kontrovers. Besonders interessant war, dass offizielle Vertreter von Ethik-Institutionen geradezu „Schaum vor dem Mund“ hatten, weil es überhaupt gewagt wurde, den Begriff „Ethik“ mit dem der Heuchelei in Zusammenhang zu bringen. Die Veranstaltung zielte darauf, Vertreter mit kontroversen Positionen zu den genannten Bereichen miteinander ins Gespräch zu bringen. Des Weiteren waren eher fachnahe und fachferne Repräsentanten der einzelnen Bereiche eingeladen. Es zeigte sich, dass eine kreative Diskurskultur nur sehr schwer zu verwirklichen ist, denn sie verlangt, den Argumenten der Gegenseite offen und aufmerksam zuzuhören. Offenheit gegenüber den Argumenten anderer bedeutet auch, die eigenen Argumente in Frage zu stellen. Das fällt jedem Menschen schwer, und Wissenschaftler sind auch nur Menschen. Und auch wenn ihre Argumente im Rahmen wissenschaftlicher Kreativität entstanden sind, führen unterschiedliche disziplinäre Rahmenbedingungen doch oft zu gegenläufigen Auffassungen. Man kann in seiner Kreativität also auch ein Opfer impliziter Annahmen sein, wenn man sich diesen nicht bewusst ist. Zudem reagiert man üblicherweise emotional auf Argumente anderer, die die eigenen in Frage stellen, was man regelmäßig in Fernsehdiskussionen beobachten kann. Und so liegt es nicht fern, anderen den Vorwurf der Heuchelei zu machen und ihnen unlautere Motive zu unterstellen – eine bekannte Maßnahme, Kritik abzuwehren.

Bertrand Russell: The Art of Philosophizing, New York: Philosophical Library 1968.

Besonders hilfreich ist, dass Russell auf die „Sprachfalle“ hinweist, in die wir stürzen können, wenn wir ohne Nachdenken Begriffe der Alltagssprache verwenden und diese unreflektiert in wissenschaftlichen Kontexten anwenden. Dies ist eines der größten Probleme der modernen Hirnforschung. Begriffe werden kritiklos übernommen, und manche Forscher suchen nach dem „Sitz“ des Bewusstseins im Gehirn, nach dem „Ort“ der Intelligenz, der Zeit, des Geldes, der Liebe oder Gottes. Von solchen Absurditäten kann man sich bewahren, wenn man einfach nur die Fakten zur Kenntnis nimmt: Jeder subjektive Akt, alles, was explizit oder implizit unser Erleben ausmacht, wird von raum-zeitlichen Mustern neuronaler Aktivitäten getragen. Das heißt, es gibt nie nur den einen Ort, an dem eine Vorstellung, eine Erinnerung, ein Gedanke oder das Erleben sitzt. Dieser ist zwar notwendig aber nicht hinreichend für die wissenschaftliche Beschreibung unseres Selbst, wenn man so will: unserer Selbst-Analyse.

Erwin Schrödinger: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild, München: Oldenbourg 1962.

Schrödinger analysiert, wie wir denken, und geht dazu weit in die Antike zurück. Es fällt beim Vergleich zwischen der Physik und den Lebenswissenschaften auf, dass wir im Grunde eine falsche Bewertung vornehmen, wenn wir von der Physik als der „Paradedisziplin“ der Naturwissenschaften sprechen. Die Physiker, falls Physiker dies lesen sollten, werden vielleicht entsetzt sein, wenn man sagt, dass viele Schriften der Physik eher geisteswissenschaftlich sind und die Lebenswissenschaften die eigentlichen Naturwissenschaften repräsentieren. In den Texten von Physikern wie Galilei, Newton, von Helmholtz, Mach, Einstein, Bohr, Heisenberg, Schrödinger, von Weizsäcker, Feynman, Wheeler und einigen mehr geht es in erster Linie um die Analyse der Denkwerkzeuge und wie man mit diesen messend die Natur verstehen kann. Denn wenn wie in der Quantenmechanik der Messprozess analysiert wird, wird eine Außenperspektive gegenüber dem Objekt eingenommen. Dabei wird die Natur vom Subjekt her analysiert. Somit müssen notwendigerweise subjektive Vorgänge im Gehirn des Betrachters berücksichtigt werden, da diese die Art der Analyse beeinflussen. In den Lebenswissenschaften geht es um die Natur selbst. Das wichtigste Beispiel ist Darwin, der in die generativen Prinzipien der Natur einzudringen suchte, also aus der Natur selbst heraus dachte, als deren Teil er sich sah. In einem solchen Rahmen, der vielen befremdlich erscheinen mag, kann man sagen, dass die Physik eine idealistische, die Lebenswissenschaften eine realistische Denkweise repräsentieren.

Raoul Schrott & Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren, München: Hanser 2011.

Was ist er nun eigentlich, Raoul Schrott, ein Dichter, Übersetzer, Sachbuchautor, Romanschriftsteller, Komparatist? Zunächst einmal ist er vor allem er selbst, dem diese Kategorisierungen wohl ziemlich gleichgültig sind, und er zeichnet sich aus durch eine herausragende Kreativität. In diesem Buch, das eigentlich zwei Bücher sind, wird man von Arthur Jacobs mit großer Sachkunde in Ergebnisse der modernen Psychologie und der kognitiven Neurowissenschaften eingeführt, und Raoul Schrott erläutert, was es mit der menschlichen Sprache auf sich hat und wie diese in Gedichten lebt.

Burrhus F. Skinner: About Behaviourism. London: Cape 1974.

Skinner wird von psychologischen Forschern in manchen Kreisen gerne unterschätzt. Immerhin zählt er zu den Gründern der modernen Verhaltenstherapie, ohne die moderne Psychotherapie nicht vorstellbar ist, und seine Überlegungen zum operanten Konditionieren bei evolutionären Prozessen, die er in seinem Aufsatz „Selection by Consequences“ von 1981 ausführt (SCIENCE 213, S. 501–504), sind außerordentlich anregend. Man kann aus seinen Überlegungen auch ableiten, warum evolutionäre Prozesse so schnell ablaufen konnten. Denn es mag viele erstaunen, wie sich die Vielfalt des Lebendigen in den nur vier Milliarden Jahren und bei mehrzelligen Organismen in den letzten etwa 800 Millionen Jahren entfalten konnte. Wenn Organismen lernfähig sind, dann haben jene einen selektiven Vorteil, die besser lernen können, indem sie beispielsweise günstigere Umgebungen aufsuchen. Bessere Lernfähigkeit ist also mit evolutionärer Kreativität verbunden – und warum sollte dies nicht auch für die kreativen Potenziale des Menschen gelten?

Stanley S. Stevens: Psychophysics. Introduction to Its Perceptual, Neural and Social Prospects, New York: Wiley 1975.

Aus der psychologischen Forschung wurden nur wenig mathematische Gesetze abgeleitet. Eines davon ist das sogenannte Potenzgesetz, das die Beziehung zwischen der Stärke physikalischer Reize und der Intensität einer subjektiven Empfindung beschreibt; Stevens hat auf diesem Gebiet die wichtigsten Beiträge geleistet. Dieses Gesetz beschreibt ein „Wunder der Natur“: Wann immer man etwas hinsichtlich seiner Intensität bewerten kann, dann entspricht der Logarithmus der subjektiven Intensität der Wahrnehmung dem Logarithmus der objektiven Intensität multipliziert mit einem für das Wahrnehmungssystem typischen Faktor. Der Unterschied der wissenschaftlichen Beschreibung von subjektiven Erfahrungen ist also nur in der Größe dieses Faktors gegeben, der zwischen 0,3 (Helligkeitsbeurteilung) und 3 (Schmerzintensität) liegt. Die Kreativität der Natur zeigt sich auch darin, einfachste Prinzipien so oft wie möglich einzusetzen.

Leslie Stevenson: Seven Theories of Human Nature, New York: Oxford University Press 1974.

Sieben Theorien über die menschliche Natur stellt Leslie Stevenson vor, nämlich jene von Plato, Marx, Freud, Sartre, Skinner, Lorenz und das christliche Menschenbild. Mit Verwunderung habe ich festgestellt, dass diese philosophische Betrachtung der menschlichen Natur die biologischen Wurzeln dessen, wie wir gemeint sind, nicht stärker berücksichtigt (abgesehen von einem Hinweis auf Konrad Lorenz, dessen gedankliche Welt aber eher als Karikatur dargestellt wird). All diese Theorien, die von den Stiefbrüdern und Stiefschwestern in den Geisteswissenschaften entwickelt werden, sind jedoch schlichtweg zu „kopflastig“. Gründe hierfür mögen bestimmte Vorurteile sein, die sich aus unserer Geistesgeschichte ergeben; der Hauptgrund ist aber mangelndes Wissen über die biologischen Grundlagen der menschlichen Natur.

James Surowiecki: Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne, München: Goldmann 2007 (zuerst 2004: The Wisdom of Crowds).

„Für gewöhnlich bedeutet Durchschnitt Mittelmaß“, stellt Surowiecki fest, „bei Entscheidungsfindungen dagegen oft Leistungen von herausragender Qualität. Allem Anschein nach sind wir als Menschen also programmiert, kollektiv klug und weise zu sein.“ Hierzu kann jeder ein einfaches Experiment durchführen: Man frage bei einem Abendessen, welche Temperatur der Raum habe, und jeder schreibt unabhängig voneinander seine Schätzung auf einen Zettel. Aus diesen Angaben bestimmt man den Mittelwert. Man wird feststellen, dass dieser die Raumtemperatur sehr viel besser wiedergibt, als die meisten einzelnen Schätzungen. Allgemein müssen vier Bedingungen erfüllt sein, damit sich die „Weisheit der Massen“ tatsächlich realisieren kann: Meinungsvielfalt (dazu müssen jedem Einzelnen zumindest ein paar Informationen zugänglich sein), Unabhängigkeit, Dezentralisierung und Aggregation (die Möglichkeit also, dass Meinungen aufeinandertreffen).

Hans-Lukas Teuber: „Perception“, in: John Field (Hrsg.): Handbook of Physiology. Neurophysiology III, Washington: American Physiological Society 1960, S. 15951668.

In dieser umfassenden Darstellung von Phänomenen und Problemen der Wahrnehmung entwickelt Teuber unter anderem das Konzept der „corollary discharge“, das dem „Reafferenzprinzip“ entspricht und für die Erklärung menschlichen Verhaltens grundlegend ist. Die Grundidee dieses Prinzips ist recht einfach: Wann immer wir etwas tun – sei es eine kurze Bewegung, eine längere Zeit in Anspruch nehmende Handlung, ein langfristiger Plan, den es zu verwirklichen gilt –, werden zwei parallele Prozesse im Gehirn in Gang gesetzt. Erstens wird die Aktion gestartet (Efferenz), doch gleichzeitig wird zweitens das Programm als Kopie gespeichert (Efferenzkopie). Hierdurch werden zwei Dinge gleichzeitig erledigt: Das Gehirn ist mit einem Monitoring-System ausgestattet, und mit einem weiteren Mechanismus wird festgestellt, wann etwas zum Abschluss gebracht wurde. Im Verlauf der Aktion gibt es Rückmeldungen von den Sinnessystemen (Reafferenz), die jeweils mit der gespeicherten Efferenzkopie verglichen werden; man weiß also, wie weit man schon gekommen ist. Und wenn schließlich die Reafferenz der Efferenzkopie entspricht, dann wird ein Signal gegeben, dass etwas zum Abschluss gebracht wurde. Das Gefühl, das sich dann einstellt, ist das, was man Zufriedenheit nennt. Diese Parallelaktion unseres Gehirns ist also eine wesentliche Komponente für die Herstellung und den Erhalt des inneren Gleichgewichts, der Homöostase.

Niko Tinbergen: Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens, Berlin: Parey 1952.

Dieses Buch hat die moderne Ethologie entscheidend geprägt; bekanntlich haben Niko Tinbergen und Konrad Lorenz zusammen den Nobelpreis erhalten, der dritte im Bunde war Karl von Frisch mit seinen Entdeckungen über das Navigationsverhalten der Bienen. Auf einen Aspekt im Buch von Tinbergen sei besonders hingewiesen: das Phänomen der Übersprungshandlung. Wenn ein Lebewesen in eine Konflikt-Situation gerät, dann mag es geschehen, dass die aufgestaute Energie sich in ganz anderer Weise äußert; sie springt in einen anderen Handlungskontext. Typisch ist etwa eine Situation, in der man nicht recht weiß, was man sagen soll, und beginnt, sich am Kopf zu kratzen. Als Übersprungshandlung kann auch das Rauchen angesehen werden, wenn durch diese Tätigkeit eine innere Spannung abgebaut wird; hinzu kommt beim Rauchen natürlich seine antidepressive Wirkung. Alle Übersprungshandlungen dienen dem biologischen Zweck, ein inneres Gleichgewicht zu sichern.

Mario Tokoro & Ken Mogi (Hrsg.): Creativity and the Brain, Hackensack: World Scientific 2007.

Im April 2004 traf sich in Bertinoro, nicht weit von Bologna, eine Gruppe von Wissenschaftlern, um sich Gedanken über Kreativität in der Wissenschaft zu machen. Das Eindrucksvollste war eigentlich der Ort, an dem die Veranstaltung stattfand: Hier hatte schon Friedrich Barbarossa übernachtet und Dante in die Ferne geblickt. Einer der Stars war Allan Snyder, ein Kreativitätsguru aus Australien, der stets eine Ledermütze schräg auf dem Kopf trägt. Doch seine Kernthese zur Kreativität ist nach meiner Einschätzung grober Unfug. Er meint, dass bestimmte autistische Kinder besonders kreativ wären, weil sie die Welt so bildlich darstellen, wie sie optisch charakterisiert sei. Was diese Kinder aber eigentlich kennzeichnet, das ist ihre mangelnde Fähigkeit zur Abstraktion. Ihre Kreativität ist also aufgrund eines neuronalen Problems eingeschränkt, denn ohne sich vom Detail lösen zu können, kann es keine Kreativität geben.

Siegfried Unseld: „Das Tagebuch“ Goethes und Rilkes „Sieben Gedichte“, Frankfurt (Main): Insel 1978.

Unselds spannende Analyse, wie die erotischen Gedichte von Goethe und Rilke nur mühsam den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, liest sich wie eine Kriminalgeschichte. Und man erfährt, welchen inneren Weg Rilke ging, um sich von Goethe zu lösen und ihn dann wieder zu finden: Unseld meint, dass die erotischen Gedichte Rilkes durch „Das Tagebuch” von Goethe wesentlich beeinflusst wurden. Zur Entfaltung der Kreativität, sei es in den Künsten, den Wissenschaften, der Wirtschaft oder der Politik, gehört aber auch, sich von den Denkwelten anderer und von Vorbildern zu lösen.

Lew S. Vygotskij: Arbeiten zu theoretischen und methodologischen Problemen der Psychologie, Berlin: Volk und Wissen 1985.

Vygotskij hat in seinem nur kurzen Leben (1896–1934) der Psychologie, Philosophie und Linguistik entscheidende Impulse gegeben. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit befasste er sich insbesondere mit der „Psychologie der Kunst“ und legte 1925 eine Dissertation zu diesem Thema vor. Besonders interessierte ihn, wie Kunst rezipiert wird und welche Gefühle durch Kunst hervorgerufen werden. Im Bereich der Psychologie betonte er die Bedeutung der praktischen Tätigkeit und verwies dazu auf jene Szene in Goethes „Faust“, in der die Bedeutung das praktischen Handelns betont wird: „Im Anfang war die Tat.“ Vygotskij unterschied zwei Ebenen psychischer Prozesse, nämlich jene der sich selbst überlassenen Vernunft und jene der mit Werkzeugen ausgestatteten Vernunft. Die erste Ebene kann als natürliche Ebene angesehen werden; auf ihr sind nach moderner Sprechweise anthropologische Universalien repräsentiert. Die zweite Ebene ist offen für kulturelle Wirkungen; auf ihr können sich also kulturelle Spezifika entfalten. Lange bevor sich in den modernen Kognitionswissenschaften eine interdisziplinäre Denkweise etablierte, wies Vygotskij darauf hin, dass man drei Zugänge zum Verständnis höherer Funktionen nutzen sollte: die phylogenetische Betrachtung, die ontogenetische Analyse und die neuropsychologische bzw. pathologische Vorgehensweise. Wir können also von anderen Lebewesen lernen (eine Grundvoraussetzung dieses Buches), wir können aus der Entwicklung des menschlichen Erlebens und Verhaltens lernen (also von Kindern), und wir können von Patienten mit selektiven Störungen lernen. – Hier zeigt sich, wie jemand in vielen verschiedenen Bereichen kreativ sein kann, was es allerdings schwieriger macht, ihn einem davon eindeutig zuzuordnen.

Martin Walser: Meßmers Reisen, Frankfurt (Main): Suhrkamp 2003.

Was mag der Hinweis auf das Buch eines Schriftstellers in dieser Liste suchen? Weil viele Sätze in dieser Sammlung von Gedanken wissenschaftlichen Thesen von Hirnforschern entsprechen. Das ist ein Indiz für die „Einheit“ gedanklicher Welten von Künstlern und Wissenschaftlern, nur bringen die Sätze des Schriftstellers das Gemeinte meist sehr viel klarer auf den Punkt. So hält Walser zum Beispiel fest: „Vergessensleistungen sind verlangt zur Fortsetzung des Lebens.“ Eine der wichtigsten Leistungen des Gehirns ist die kreative Beseitigung von Informationsmüll; der häuft sich nicht nur im Internet an, sondern auch in unserm Gehirn. An anderer Stelle heißt es: „Tatsächlich ist die Identität am wenigsten problematisch beim Geschlechtsverkehr“ – sofern man bei dieser Tätigkeit nicht nebenbei noch in einen reflexiven Zustand gerät. Viele weite bemerkenswerte Äußerungen und Gedankenanregungen lassen sich nennen: „Wie weit muß man fahren, um fort zu sein?“ – „Ihm war alles recht, außer er selbst.“ – „Wenn es einem schlecht geht, denkt man an das Leben. Wenn’s einem gut geht, an den Tod. Die Waage.“ – „Ich sähe mich gern anders, als ich bin, werde aber dadurch nicht so, wie ich mich gern sähe.“ – „Schuldfähigkeit ist die höchste Fähigkeit, zu der ein Mensch sich entwickeln kann.“ – „Ich bewundere Menschen, die wenig Zustimmung brauchen.“ – „Ich bin nicht, der ich bin.“ – „Wir sind nicht die, die wir scheinen. Jeder verstellt sich dem Nächsten zulieb.“ – „Hätte man doch, als man lebte, gelebt.“ Das Buch endet mit dem Satz: „Alles, was ich mir sagen kann, ist nichts gegen das, was ich mir nicht sagen kann.“ Immer wieder wird das Grundproblem der Neurowissenschaften angesprochen, wie nämlich „Identität“ erzeugt und erhalten werden kann, sei es die Identität dessen, was sich gerade in meinem Bewusstsein beim Sehen oder Denken abspielt, sei es die Selbst-Identität. Woher weiß ich, wer ich bin?

John A. Wheeler: „Bohr, Einstein, and the Strange Lesson of the Quantum“, in: Richard Q. Elvee (Hrsg.): Mind in Nature, Cambridge: Harper & Row 1982, S. 130.

Komplementarität wird von mir als ein generatives Prinzip gesehen; Vorgänge des menschlichen Erlebens und Verhaltens, Prozesse des menschlichen Gehirns, erklären sich nach diesem Prinzip: Es müssen immer mindestens zwei Prozesse zusammenkommen, damit sich unsere subjektive Welt aufbauen kann, so zum Beispiel das genetische Repertoire und seine Bestätigung durch Umwelteinflüsse. In der Quantenmechanik dagegen ist Komplementarität ein deskriptives Prinzip. Zwischen der Beschreibung eines Sachverhalts und seiner Erzeugung besteht ein kategorialer Unterschied.

Norbert Wiener: Invention. The Care and Feeding of Ideas, Cambridge: MIT Press 1994.

Wenn man am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, im Hauptgebäude einen etwa 300 Meter langen Gang entlanggeht („the eternal hallway“), dann trifft man meistens jemanden, den man kennt, auch wenn man Jahre nicht dort war. Außerdem kann man an einer der Wände der Lebensgeschichte Norbert Wieners folgen, des Begründers der Kybernetik. Wiener war eines jener Genies des 20. Jahrhunderts, die einfach alles wussten und konnten. Er war mit Kreativität in der Mathematik und Statistik gesegnet, voller Ideen für Erfindungen und auch noch schriftstellerisch begabt. Zudem hielt er seine Meinung über andere, meist eine schlechte, nie zurück. Wiener geht in seinem Buch „Invention“ auf ein Problem ein, das viele kreative Wissenschaftler plagt: Oft werden nämlich Entdeckungen, die zu praktisch verwertbaren Innovationen führen könnten, von der Industrie nicht aufgenommen, um sich mit einem schlechteren Produkt vor einem besseren zu schützen, denn schließlich ist das schlechtere schon auf dem Markt. Kreativität kann also auch in die Frustration oder sogar Depressionen führen, weil Märkte von anderen Kräften beherrscht werden.

Semir Zeki: Inner Vision. An Exploration of Art and the Brain, Oxford: Oxford University Press 1999.

Semir Zeki, ein guter Freund, ist einer der kreativsten Neurowissenschaftler unserer Zeit. „Inner Vision“ ist ein ungewöhnliches und sehr erhellendes Buch darüber, wie man künstlerischen Werken auf andere Weise entgegentreten kann. Kunstwerke werden in einen Rahmen gestellt, der für manche Kunsthistoriker ungewöhnlich sein mag. Ist es überhaupt erlaubt, Werke der Kunst aus neurowissenschaftlicher Perspektive zu betrachten? Es gibt in der Tat ein Verbotsschild, aufgestellt von unseren Stiefschwestern und Stiefbrüdern aus den Kunstwissenschaften, mit dem uns der Zugang zu ihren Gegenständen wegen mangelnder Kompetenz und unserem laienhaftem Gerede verweigert werden soll. Es ist sicher richtig, dass Naturforscher manchmal über das Ziel hinausschießen, wenn sie Aspekte von Kunstwerken erklären wollen, und mit Recht kann man Semir Zeki den Vorwurf machen, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Doch es gibt eine andere Perspektive, die nicht uns Naturforscher, sondern Kunsttheoretiker als Laien dastehen lässt. Denn über manche Aspekte der Künste – sei es Musik, Dichtkunst oder bildende Kunst – können sie nicht angemessen sprechen. Wir sehen Dinge, die sie nicht sehen können. Wenn man etwa die zeitliche Gestaltung musikalischer Motive untersucht, ist das ohne ein Wissen darüber, wie zeitliche Wahrnehmung im menschlichen Gehirn strukturiert ist, nicht möglich. Bücher wie das von Semir Zeki sind ein Aufruf, bidirektional zu denken. Was können wir Naturforscher von den Künsten lernen? Was können wir im Sinne einer Perspektiverweiterung zum Verständnis der Künste beitragen? Damit ist im Grunde die Aufgabe einer jeden Universität angesprochen, sich nämlich um das universale Wissen zumindest zu bemühen, wissenschaftliche Disziplinen miteinander in Verbindung zu bringen, über die Fachgrenzen hinwegzuschauen, sich in seiner Kreativität anregen zu lassen, gemeinschaftlich und mit Respekt gegenüber anderen einen Denk-Ort zu gestalten, der beschrieben werden kann als „Syntopie“.