Teil 4
Wissenschaftliche Kreativität in Gedichten

Warum gibt es überhaupt Gedichte?

Ein Patient, der bei einem Unfall eine schwere Hirnverletzung erlitten hatte, sagte einmal, dass seine Gedanken seine Sprache nicht finden würden. Er wisse genau, was er sagen wolle, könne es aber nicht mehr zum Ausdruck bringen. In seiner inneren Sprache sei noch alles verfügbar, doch könne sein Denken nicht mehr an gesprochene Wörter oder Sätze angekoppelt werden. Diese innere Sprache wird auch als „Mentalesisch“ bezeichnet, und wenn man dem Patienten Glauben schenken darf, so existiert es ohne die „Sprechsprache“. Doch ist das nicht bei jedem so? Sprechen wir nicht immerzu mit uns selbst, ohne dass wir uns äußern? Und machen wir dabei nicht auch die Erfahrung, dass das eigene Mentalesisch sehr viel richtiger ist, dem inneren Zustand sehr viel mehr entspricht, als das, was man dann tatsächlich in hörbarer Sprache sagt? Zwar stimmt auch, was Heinrich von Kleist geschrieben hat, dass die Gedanken sich erst beim Sprechen formen können, doch dies ist nicht immer so, sondern eher selten der Fall. Dass diese innere Sprache sehr viel reicher ist oder zumindest so erscheint, das kann wohl jeder bestätigen, der gelegentlich Vorträge oder Vorlesungen halten muss oder der seine Gedanken schriftlich zu formulieren hat. Die in Gedanken vorformulierten Sätze für einen schriftlichen Text mögen klar und deutlich sein oder zumindest so erscheinen, und man mag recht zufrieden mit sich sein. Doch dann kommt die Wirklichkeit, und für das, was man aufschreiben möchte, finden sich nicht mehr die richtigen Worte, und mit einem Mal ist es im Gedankengewühl nicht mehr auffindbar. Es gibt wohl kaum jemanden, der nur noch aus seinem Gehirn abschreiben muss, was schon vorgedacht wurde. Das gilt für den Wissenschaftler, das gilt für den Dichter und das gilt für jeden, der seine Gedanken zu Papier bringen muss. Eugen Roth hat diese missliche Situation in seinem Gedicht „Arbeiter der Stirn“ eingefangen:

Ein Mensch sitzt kummervoll und stier

vor einem weißen Blatt Papier.

Jedoch vergeblich ist das Sitzen –

auch wiederholtes Bleistiftspitzen

schärft statt des Geistes nur den Stift.

Selbst der Zigarre bittres Gift,

Kaffee gar, kannenvoll geschlürft,

den Geist nicht aus den Tiefen schürft,

darinnen er, gemein verbockt,

höchst unzulänglich einsam hockt.

Dem Menschen kann es nicht gelingen,

ihn auf das leere Blatt zu bringen.

Der Mensch erkennt, daß es nichts nützt,

wenn er den Geist an sich besitzt,

weil Geist uns ja erst Freude macht,

sobald er zu Papier gebracht.

Für einen Wissenschaftler wird das Problem heutzutage noch dadurch verschärft, dass er seine Gedanken meist in einer fremden Sprache formulieren muss, denn nicht für alle ist das Englische die Muttersprache. Wenn ich einen Gedanken auf Englisch formulieren muss, dann ist es nicht mehr genau derselbe Gedanke, wie wenn ich es in meiner Muttersprache, nämlich Deutsch, versuche. Die jeweilige Sprache gibt einen Rahmen für den Inhalt vor. Und manches lässt sich in der anderen Sprache gar nicht zum Ausdruck bringen. Eine noch größere Herausforderung entsteht dann, wenn man mit Forschern eines anderen Landes zusammenarbeitet, die wiederum eine andere Sprache wie etwa Chinesisch sprechen, und man dann versucht, gemeinsam auf Englisch das zu Papier zu bringen, was man für richtig hält. Beide haben dann oft das Gefühl, dass das Aufgeschriebene eigentlich nicht mehr genau das ist, was es in den eigenen Gedanken war, und man wird dem gemeinsamen Text entfremdet. Was man versucht, ist eine gemeinsame Teilmenge dessen zu finden, was es zu vermitteln gilt, auch wenn am Rand viel Ungesagtes und auch Unscharfes bleibt.

Da man sich also nicht mehr so in einem Text wiederfindet wie im Mentalesischen, wird man zu dem naheliegenden Gedanken geführt, einmal eine andere schriftliche Äußerungsform daraufhin zu prüfen, ob diese nicht auch geeignet sein könnte, einen wissenschaftlichen Gedanken zu vermitteln, nämlich Gedichte. Wenn es gelingt, zu zeigen, dass verschiedene Arten der schriftlichen Dokumentation das Gemeinte, das man vermitteln möchte, auf unterschiedliche Weise inhaltlich übereinstimmend widerspiegeln, dann könnte dies für die Richtigkeit des Gedankens sprechen, also dafür, dass die wissenschaftliche Prosa (und diese in verschiedenen Sprachen) und Gedichte (und diese auch in verschiedenen Sprachen) dasselbe sagen. Vielleicht sind Gedichte sogar notwendig, um die Validität eines wissenschaftlichen Gedankens zu sichern!

Eine mögliche Verbindung zwischen den beiden Welten herzustellen, das sei im Folgenden versucht, wobei die grundlegende These ist, dass diese Welten gar nicht so verschieden sind. Die Gedichte, die beispielhaft zu diesem Zweck ausgewählt wurden, sind eher von leichter Art, und ich bin mir nicht sicher, ob es sich bei ihnen um „gute Gedichte“ in den Augen der philologischen Zunft handelt; doch dies ist natürlich bei wissenschaftlichen Aufsätzen auch so: Nicht alles, was publiziert wird, kann mit dem Prädikat „gut“ versehen werden. Um den Weg des möglichen Gemeinsamen zu gehen, will ich mir zu Beginn selbst „ein Bein stellen“ und die einfache und vielleicht auch merkwürdig erscheinende Frage stellen: Warum gibt es überhaupt Gedichte?

Die Antwort ist schnell gegeben: Ich habe keine Ahnung. Warum-Fragen sind immer gefährlich. Es sind die typischen Kinderfragen, die man nicht beantworten kann. In der Warum-Frage drückt sich das ursprüngliche Kausalitätsbedürfnis des Menschen aus. Wir können offenbar nicht anders, als immer eine Begründung für etwas zu suchen, und wenn eine Begründung nicht auf der Hand liegt, eine zu erfinden oder gar zu erzwingen. Diese Erklärungsnot hat Erich Kästner in seinem Gedicht „Wieso? Warum?“ eingefangen:

Warum sind tausend Kilo eine Tonne?

Warum ist dreimal Drei nicht Sieben?

Warum dreht sich die Erde um die Sonne?

Warum heißt Erna Erna statt Yvonne?

Und warum hat das Luder nicht geschrieben?

Warum ist Professoren alles klar?

Warum ist schwarzer Schlips zum Frack verboten?

Warum erfährt man nie, wie alles war?

Warum bleibt Gott grundsätzlich unsichtbar?

Und warum reißen alte Herren Zoten?

Warum darf man sein Geld nicht selber machen?

Warum bringt man sich nicht zuweilen um?

Warum trägt man im Winter Wintersachen?

Warum darf man, wenn jemand stirbt, nicht lachen?

Und warum fragt der Mensch bei jedem Quark: Warum?

Also noch einmal die Frage: Wie kommen Menschen dazu, Sprache so zu verdichten, dass es dann Gedichte sind? Dies geschieht offenbar, seit man gesprochene Sprache verschriftlicht hat. Warum beobachtet man dieses erstaunliche Phänomen der Sprach-Verdichtung in allen Kulturen? Nüchtern betrachtet sind Gedichte überflüssig. Die Sprache, die wir sprechen, ist schon kompliziert und undurchsichtig genug. Sprachliche Kommunikation endet fast immer im Missverstehen. Oder etwas freundlicher ausgedrückt: Man versteht immer nur eine Teilmenge dessen, was in einer Kommunikation zwischen den Parteien ausgetauscht wird. Es bleibt zumindest immer der unsagbare Rest, der sich sogar vor dem Sprechenden selbst versteckt. Die schlimmste Frage in einem Gespräch lautet: „Hast du mich verstanden?“ Wie soll man darauf antworten? Man müsste immer Nein sagen, doch man sagt immer Ja. Nur mit einer solchen Einigung auf eine Teilmenge dessen, was gesagt wurde, kann man überhaupt miteinander auskommen – doch das ist eigentlich Heuchelei.

Und dann geschieht das Unerhörte, dass das Unhörbare noch stärker überdeckt wird und durch Unverstehbares hinter noch mehr Worten versteckt wird. Der weite Rahmen des Missverstehens wird erweitert, indem in verdichteter Weise das noch weniger verständlich ausgedrückt wird, was man sowieso nicht sagen kann. Aber vielleicht ist es auch eine menschliche Sehnsucht, unverstanden zu sein, sich und anderen ein Rätsel zu bleiben. Allerdings darf man sagen, dass Vertreter mit der Berufsbezeichnung „Dichter“ dieses Problem auch erkannt haben. So meint etwa Matthias Politycki in seinem Gedicht „Blaue Blume. Rudi Schachtlmacher schüttelt den Kopf über Gedichte“:

Also ma unter uns:

Son paar verhackstückte Verse aufn Mond oda aufs Meer

oda was die da sonst imma am Wochenende

inne Zeitung reinsetzn,

das mach ich dir auch,

wenn ich ma orntlich ein inner Krone hab,

aba mit links!

Is ja doch eh alles nur

verquirlter Quark,

wode ums Verreckn nich kapierst, was gemeint is,

und wennde dann trockn durchschluckst un

das ganze Gesülz noch ma von vorn liest

und wennde die Birne dabei auch orntlich schief hältst,

damit dir die Grütze im Hirn

bis aufn letztn Tropfn zusammnenläuft, dann –

kapierstes imma noch nich!

Dass man als Naturforscher oder sonstiger Laie nicht ganz allein ist mit seiner Ratlosigkeit gegenüber mancher verdichteten Sprache, das wird auch in „Lustiger Dichter“ von Robert Gernhardt deutlich, in dem er sich über seine eigene Zunft lustvoll lustig macht. Sein Gedicht ist auch durch genussvolle Selbstreferenzialität gekennzeichnet, indem mit unverstehbaren Worten („Schlödheit“) ein Gedanke verstehbar gemacht wird:

Das Gedicht verdichtet, sagt man.

Doch was machen, wenn es labert?

Wenn es, Sinn und Form verlassend,

fremdworts durch die Zeilen zabert?

Wenn es jeglichem Verstehen

grollgleich sich und muff entzitzelt

und durch immerblaue Schlödheit

vorderrücks zum Trübfall bitzelt?

Wenn es – aber halt! Der Kluge

hat schon nach der ersten Strophe

aufgehört zu lesen, ergo

ist, wer jetzt noch liest, der Doofe.

(Und der pflegt ja bei Gedichten

eh auf Sonn und Firm zu zichten.)

Dass es Probleme bei der dichterischen Aussage auf einer ganz anderen konzeptionellen Ebene gibt, insbesondere wenn es darum geht, den jeweiligen Augenblick mit seiner Erlebnisdichte einzufangen, das betont Hans Magnus Enzensberger in „Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen“: Worte kommen immer zu spät oder sie sind zu früh, fallen also aus Rahmen der Unmittelbarkeit heraus:

Weil der Augenblick,

in dem das Wort glücklich

ausgesprochen wird,

niemals der glückliche Augenblick ist.

Weil der Verdurstende seinen Durst

nicht über die Lippen bringt.

Weil im Munde der Arbeiterklasse

das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.

Weil, wer verzweifelt,

nicht Lust hat, zu sagen:

„Ich bin ein Verzweifelnder.“

Weil Orgasmus und Orgasmus

Nicht miteinander vereinbar sind.

Weil der Sterbende, statt zu behaupten:

„Ich sterbe jetzt“,

nur ein mattes Geräusch vernehmen lässt,

das wir nicht verstehen.

Weil es die Lebenden sind,

die den Toten in den Ohren liegen

mit ihren Schreckensnachrichten.

Weil die Wörter zu spät kommen

oder zu früh.

Weil es also ein anderer ist,

immer ein anderer,

der da redet,

und weil der,

von dem da die Rede ist,

schweigt.

Hier nimmt Enzensberger Bezug auf die zwei Formen des Bewusstseins: zum einen die rationale Reflexion über einen Sachverhalt und zum anderen das unreflektierte Erleben, das Eintauchen in den Augenblick der unmittelbaren Erfahrung. Aber natürlich sind wir auch keine Wesen, die nur der Gegenwart verhaftet sind. Beide Weisen des Bewusstseins sind wichtig, und beide sind komplementär; wir sind weder nur rationale Wesen, noch sind wir nur von unserer gegenwärtigen Gefühlsladung bestimmt. Eine solche konzeptionelle Trennung verbietet allein schon die Architektur unseres Gehirns, in dem es keine getrennten Schachteln für Rationalität und Emotionalität gibt.

Wenn es erstens aber so ist, dass es nicht nur das rationale Wissenssystem gibt, sondern dass es auch implizites oder intuitives Wissen gibt, das sich hinter Worten versteckt, und wenn es zweitens ein bildliches Wissenssystem gibt, und wenn drittens gilt, dass diese Wissenssysteme in unserem Gehirn miteinander vernetzt sind, da dort alles miteinander vernetzt ist, dann folgt daraus, dass unsere Sprache nicht immer klar und deutlich sein kann. Sie drückt nie nur das aus, was in ihr explizit gesagt wird, stets fließen implizites Wissen und bildliche Vorstellungen mit ein, und das entzieht sich der willentlichen Kontrolle. Man weiß also gar nicht ganz genau, was man alles sagt, und man kann es auch nicht wissen, weil die Struktur unseres Gehirns das nicht zulässt.

Diese innere Verbindung der Wissenssysteme gilt natürlich auch für das Gedicht. Es kann gar nicht ganz verständlich sein, es muss sogar in einem gewissen Maße unverständlich bleiben. Für den Leser (im Übrigen auch für den Dichter) stellt sich also die Frage, was noch alles in einem Gedicht verborgen sein mag, an das der Dichter gar nicht gedacht hat und das man als Leser oder Vortragender herausschälen oder kreativ missverstehen könnte. Und was kann man in Gedichten sonst noch finden, wenn man einmal eine naturwissenschaftliche Perspektive einnimmt? Oder gibt es gar Gedichte, die naturwissenschaftliche Sachverhalte klarer und überzeugender zum Ausdruck bringen als die Fachsprache des Forschers? Um sich der Sache zu nähern, seien zunächst einige Gedichte zusammengestellt, in denen sich Dichter mit der Sprache selber befassen, in denen also das Werkzeug, mit dem der Gegenstand hergestellt wurde, im Gegenstand selbst einer Analyse unterzogen wird.