Teil
1
Vom Sinn der Kreativität
Nein, im Leben geht es nicht darum, glücklich zu sein. Das empfiehlt zwar der Dalai Lama, und die amerikanische Verfassung verspricht es. Man sollte sich aber keine Ziele wie das Glück, das Paradies oder die Liebe vorgeben, weil diese so nicht zu erreichen sind – und weil häufig über sie vergessen wird, was im Augenblick zählt. Denn oft erkennen wir erst im Nachhinein, dass etwas gut war, dass wir glücklich waren. Und dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, uns dorthin führen würde, das hätten wir in vielen Fällen nicht gedacht. Wer aber sagt: „Jetzt bin ich glücklich“, der riskiert bereits mit diesem Satz, den zauberhaften Moment vorbeiziehen zu lassen. Wer das Paradies auf Erden will, muss immer die Wünsche anderer übergehen, denn jeder hat sein eigenes Bild paradiesischer Utopien, weshalb diese oft genug mit Gewalt durchgesetzt werden wollten. Wer immerwährende Liebe fordert, überfordert den anderen, und der Wille zur Liebe wird zur Freiheitsberaubung.
Liebe und Glück sind hehre Ziele, die nur die wenigsten erreichen. Aber zum Glück wurden uns Menschen andere Hilfsmittel mitgegeben, ein gelingendes Leben zu führen. Was uns vor allem anderen ausmacht, ist das Prinzip der Homöostase: der Drang, die eigene Mitte zu entdecken, das Gleichgewicht zwischen extremen Gefühlszuständen zu finden, eine Balance zwischen zu viel Energie und lähmender Tatenlosigkeit zu halten. Das schaffen wir nur dank einer Kreativität, die jedem von uns biologisch mitgegeben ist, auch wenn sie manchmal verschüttet ist.
Was ist diese Homöostase, die hier so wichtig wird? Der Begriff aus der Medizin meint das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen und die Stabilität des Verhältnisses von Blutdruck, Körpertemperatur, pH-Wert des Blutes und Ähnlichem. Wie wir unten noch genauer erläutern werden, gehen wir davon aus, dass die Natur eine Einheit bildet, dass Biologie und soziokulturelle Lebenswelt miteinander verbunden sind. Den Begriff der Homöostase verwenden wir deshalb für ein allgemeines Lebensprinzip. Unsere Kreativität besteht nun darin, in Extremzuständen Lösungen zu finden, um die Homöostase wieder zu erreichen.
Wir sind von Natur aus kreativ, doch müssen wir auch den Mut haben, unsere Kreativität zu nutzen, sie einzusetzen. Sapere aude – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, so schreibt Immanuel Kant 1784 in seinem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“. Ebenso gilt: Habe Mut, deiner Kreativität zu vertrauen, und habe Mut, zu handeln – agere aude.
Icking. Ein kleines bayerisches Dorf südlich von München. Die „Nackerten“ aus der Berliner Kommune I haben hier Zuflucht gesucht, ebenso der Schauspieler Gert Fröbe. Und Rainer Maria Rilke hat hier gewohnt, im Haus Schönblick in der Irschenhausener Straße 87, von 1911 bis 1915. Die wenigen Menschen, die Icking kennen, ahnen vielleicht, dass Rilke die folgenden Zeilen mit Blick auf die wunderbare Alpensilhouette am Horizont gedichtet hat:
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Wir, die beiden Autoren, sitzen im Rittergütl im Ickinger Ortsteil Irschenhausen, wo auch Rilke oft hingegangen ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein Molekül Sauerstoff einatmen, das Rilke vor etwa 100 Jahren hier sitzend ausgeatmet hat? Es sind weit über 90 Prozent. So ist man über die Zeiten hinweg durch die Luft und das Atmen miteinander verbunden. Auch eine Form von „Unvergänglichkeit“. Mutter Natur – oder wen immer man für die Schöpfung verantwortlich machen will – hat seit jeher für Unvergänglichkeit gesorgt.
Dies ist das Thema unseres Buches: Kreativität und Leben gehören zusammen. Von der Ursuppe, wo inmitten rein chemischer Prozesse Leben entstand, durch die gesamte Evolutionsgeschichte hindurch bis in unsere Gegenwart. Von den Einzellern bis zur angeblichen Krone der Schöpfung, von den Stammesgesellschaften bis zur heutigen Hochzivilisation.
„Jeder Mensch ist kreativ!“ Es war eine Sensation, als Joy Paul Guilford, Präsident der American Psychological Association, dies 1949 in seiner Antrittsrede sagte. Als kreativ hatte man bis dahin nur die herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte bezeichnet. Doch das Leben an sich ist kreativ, und jeder einzelne Mensch ist es auch. Und was sind Merkmale einer kreativen Person, die für jeden gelten oder zumindest gelten können, wenn man gleichsam rauslässt, was in einem steckt? Natürlich Neugier und eine Sensitivität für ungelöste Probleme; ein ungehemmter Gedankenfluss, der sich nicht durch Banales unterbrechen lässt; die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und mit ganzem Herzen bei der Sache zu sein; die Fähigkeit, Dinge zusammenzufassen und sich nicht in Einzelheiten zu verlieren; Flexibilität, um seine Ziele zu erreichen, also nicht krampfhaft an einem Weg festzuhalten; die Fähigkeit zur Abstraktion und dazu, einen Sachverhalt analysieren zu können; eine lebendige Vorstellungskompetenz, denn häufig entwickeln sich kreative Gedanken in einer bildlichen Welt. Und was ganz wichtig ist: Man muss an sich selbst glauben, man muss unabhängig sein und man muss eine hohe Frustrationstoleranz haben, denn alles Neue wird zunächst von anderen als störend abgelehnt.
Wir sind also nicht kreativ um der Kreativität willen, sondern um unsere Ziele zu erreichen. Wir können gar nicht anders. Wir Menschen sind zum Entscheiden geboren, doch vor der Entscheidung findet im Gehirn ein häufig unbemerkter kreativer Prozess statt. Dass sich unsere Kreativität oft versteckt, heißt nicht, dass sie nicht da ist. Will man sie nutzen, muss man sie also erst „entbergen“, um einen Begriff des Philosophen Martin Heidegger zu verwenden. Wir können uns selbst entdecken, ein Ventil für unsere Kreativität finden und herauslassen, was in uns steckt. Die Methoden hierfür werden im nächsten Teil dieses Buches beschrieben.
Kreativität dient immer dazu, dass wir in unsere Mitte, zu innerer Balance, gelangen. Konkreter: Wer in seiner Arbeit frustriert ist und aufgerieben wird, sucht sich in seiner Freizeit einen Ausgleich, der idealerweise das Gegenteil von dem darstellt, was in der Arbeit verlangt wird: Motorradfahren etwa oder alpines Bergsteigen, Aktivitäten, die Konzentration auf den Moment und Selbstverantwortlichkeit erfordern. Zwischen Frust (Arbeit) und Erfolg (Risikosport) gibt es eine gedachte Mitte, ebenso zwischen Liebeskummer und Wolke sieben oder zwischen Abenteuer und Langeweile. Um diese Mitte herum rankt sich unser Leben. Und auch wenn wir gelegentlich die Extreme ausleben, so ist doch der Platz zwischen den Extremen unser Lebensbereich. Um dort immer wieder hinzulangen, benötigen wir die Kreativität, sie lässt uns Lösungen finden. Die biologisch in uns angelegte Kreativität ermöglicht erst und beschleunigt das Finden und das Erhalten unserer Mitte.
Mit diesem Buch wollen wir zeigen, dass das kreative Herstellen einer Mitte für jeden Lebensbereich gilt. Für das Denken, das Bewerten, die Bewegung, das Handeln. Ein gelangweilter Mensch öffnet Büchsen und Tüten, um sich zu sättigen. Ein kreativer Mensch stellt sich an den Herd und entdeckt die Geheimnisse der Zubereitung von frischen Lebensmitteln. Ein erschöpfter Mensch schlurft abends von der S-Bahn nach Hause. Ein kreativ-dynamischer Mensch geht mit Schwung und gönnt seinem Körper die Bewegung, die er braucht. Ein reservierter Mensch betreibt Sexualität nach dem Prinzip: Acht Minuten Missionarsstellung sind genug. Ein sinnlich-kreativer Mensch belässt es nicht dabei, sondern sucht nach neuen Ausdrucksformen für seine Lust. Und so ist es in allen Bereichen unseres Lebens. Wir sind so gemeint, kreativ zu sein, um ein ausgeglichenes Leben zu leben und zu erleben. Und wir sind nicht so gemeint, immer nur Extreme wie das höchste Glück zu erleben. Deswegen sind alle Bücher über Glück gut fürs Altpapier, aber nicht fürs Leben. Wir können für einen Augenblick glücklich gewesen sein und wir können traurig gewesen sein. Doch das Ziel des irdischen Seins liegt in der Mitte, trotz oder sogar mithilfe glücklicher und trauriger Momente.
Diese notwendige und uns aufgegebene Mitte ist natürlich individuell verschieden und immer auch von den Situationen abhängig, an die wir uns anpassen (oder auch nicht). In der Biologie kennzeichnet die Homöostase das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen und ist genau definiert – in Bezug auf die Psyche jedoch ist sie nicht normiert. Jeder Mensch hat seine eigene Mitte zwischen extremen Gefühlen und Zuständen. Dahinter verbirgt sich ein weiteres Prinzip des Lebens: Wir haben zwar unsere vorgegebenen Muster, nach denen wir leben, aber wir sind auch dazu in der Lage, diese an die realen Umstände anzupassen. Der Sollwert richtet sich nach dem Ausgangswert. Wer krank ist, entwickelt andere Ziele, als der, der gesund ist. Und so kann der Kranke, der seine (heruntergeschraubten) Ziele erreicht, lebenszufriedener sein als der Gesunde, der seine (hochgesteckten) Ziele verfehlt.
Die Natur war schon kreativ, als sie aus der Ursuppe das Leben erschuf. Wie dies geschah und warum, das versteht kein Mensch, außer jenen Gläubigen aus Religion und Wissenschaft, die mit dem Anspruch auftreten, für alles eine Erklärung zu haben. Aus dem einfachen Einzeller heraus entfaltete sich die ganze unfassbare Natur, mitsamt Rilke und seinen Gedichten und Gottfried Benn, der dieses Prinzip des Lebens wiederum in einem Gedicht zur Ursuppe beschrieben hat. Überhaupt tritt in Gedichten viel verborgene Wissenschaft zutage, in ihnen versteckt sich oft das Wissen der Naturforscher oder kündigt sich an. Künstler können Sinnschöpfer, Wissensschöpfer sein, die aufdecken, was dem rationalen Verstand erst nach anstrengender Reflexion bewusst wird.
Gottfried Benn: Gesang I
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.
Die Natur wirkt kreativ, indem sie Zustände in der Zeit von früher für später in Form von Erbsubstanz gleichsam einfriert und somit Erfahrungen für die Zukunft festhält. Das konnte schon die Urbakterie und das können wir. Über Jahrmilliarden hat sich dieses Prinzip gehalten, und zwar ohne dass die Natur weiß, ob ihr das Eingespeicherte später einmal von Nutzen sein wird. Wir sammeln Erfahrungen wie Eichhörnchen Nüsse – ob die Nager sie jemals wiederfinden werden, wissen sie nicht. Im genetischen Speicher bilden sich aus den aufbewahrten Erfahrungen die Möglichkeiten zu neue Kombinationen. Und auch das entspricht einem Grundprinzip der Kreativität: Je mehr Erfahrungen, desto mehr Möglichkeiten, neue Wege zu gehen und neue Ideen zu entwickeln. Dies kennzeichnet übrigens auch einen Vorteil des Alters gegenüber der Jugend. Unerfahrenere Menschen haben allerdings die Möglichkeit, unkonventionell in alle Richtungen zu denken. Dieses „wilde Denken“ ist aber zumeist noch kein kreativer Prozess. Kreativität entfaltet sich immer auf der Grundlage von realen Gegebenheiten.
Auch wird Kreativität manchmal mit Innovation verwechselt. Kreativität ist eine persönliche Angelegenheit, denn das einmalig Neue kann immer nur einem Gehirn entspringen. Auch wenn man in einer Gruppe zusammensitzt, etwa in einem Think Tank, dann mag die Gruppe die Bedingung dafür sein, dass jemandem etwas einfällt, aber es fällt immer einem Einzelnen ein. Eine Innovation dagegen ist ein soziales Gebilde: Ein kreativer Gedanke kann noch so genial sein, doch erst in Relation zu den Ideen anderer kann er eine Innovation sein. Und wenn er schließlich an die Öffentlichkeit gelangt und von anderen aufgenommen wird, dann gelten andere Gesetze, insbesondere Marktgesetze, wenn es um neue Produkte oder Dienstleistungen geht.
Machen wir uns also auf die Reise durch die Lande der Kreativität. Welches sind die Bedingungen dafür, dass wir kreativ sind oder sein können? Was mag unserer Kreativität, die in jedem steckt und aus jedem heraus will, im Wege stehen? Was meinen andere über ihre Kreativität, die sie durch ihr Lebenswerk beweisen und bewiesen haben? Wie konnte sich Kreativität überhaupt in uns entfalten, was also sind die Vorgaben unseres Gehirns, das auf eine Geschichte von einigen Milliarden Jahren zurückblicken kann? Wie äußert sich wissenschaftliche Kreativität, an die Autoren vielleicht gar nicht gedacht haben, in ihren Gedichten? Aus allem, was um uns und in uns geschieht, was sich unserem Bewusstsein zeigt und anderen sichtbar wird, aus allem können neue Wege der Kreativität entstehen. Man muss sie nur gehen.