Komplementarität als kreatives Prinzip

Dies führt zum Konzept der Komplementarität. Die Idee der Komplementarität als generatives oder kreatives Prinzip ist nichts Neues, sondern sie wurde schon zu Beginn unserer Geistesgeschichte entdeckt. Es war der griechische Philosoph Heraklit, der vor etwa zweieinhalbtausend Jahren zuerst über Komplementarität als generatives und nicht als deskriptives Prinzip nachdachte. Heraklit hatte die Idee, dass alles eins sei, dass Gegensätze zusammenfallen: Das eine ist nie ohne das andere, wie Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Entstehen und Vergehen, Alt und Jung, Männlich und Weiblich, Gut und Böse, oder sogar Lust und Schmerz. Die Welt der Gegensätze wird harmonisch zusammengebunden, da sich die Pole, die sich entgegenzustehen scheinen, gegenseitig bedingen. Und es sind Komplementaritäten, die unser Erleben und Verhalten erst möglich machen, die das erzeugen, was unser geistiges Leben bestimmt. Komplementarität, das Zusammenfügen des Verschiedenen, ist Grundlage von Kreativität.

Komplementär sind der Rahmen und das, was im Rahmen erscheint; was immer wir im Bewusstsein haben, ist in einen Rahmen gestellt; weder gibt es einen leeren Rahmen noch gibt es ungerahmte Inhalte des mentalen Geschehens. Komplementär sind das explizite und das bildliche Wissen; wir machen uns Bilder von Worten und Worte über Bilder. Komplementär sind mentale Kategorien wie Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen und neuronale Aktivitäten, die es als Informationsmüll zu unterdrücken gilt; mentale Kategorien entstehen nicht aus dem Nichts, sondern werden aus neuronalen Aktivitäten herausgefiltert. Komplementär sind Inhalte des Erlebens und jene logistischen Funktionen des Gehirns, die Inhalte erst ermöglichen (das Was und das Wie). Komplementär beim Sehen sind das Was und das Wo; etwas ist immer irgendwo und irgendwo ist immer etwas. Komplementär sind unmittelbares Erleben und die Reflexion darüber, was man erlebt. Komplementär sind identitätserhaltende und identitätsablösende Prozesse des Gehirns; für eine gewisse Zeit bleibt ein Gedanke oder eine Wahrnehmung mit sich identisch, doch nicht für immer; Stationarität und Dynamik bedingen sich gegenseitig. Komplementär sind egozentrische und allozentrische Positionen; man betrachtet etwas aus der eigenen oder aus der anderen Perspektive, wobei jedes Mal der Gegenpol die Bedingung dafür ist, überhaupt eine Position einnehmen zu können. Komplementär sind selbstreferenzielle Vorgänge und weltreferenzielle Vorgänge; wir sind immer auf uns selbst, aber wir sind immer auch auf die Welt um uns bezogen. Komplementär sind Autonomie oder Selbstbestimmung und Eingebundensein in einen sozialen Kontext; wir sind nicht nur für uns und wir sind nicht nur für andere. Komplementär sind Wissen und Unwissen; wenn ich weiß, dann weiß ich auch, dass ich nicht weiß, und wenn ich nicht weiß, dann weiß ich auch, dass ich weiß.

Alles geistige Geschehen aus nur einem Prinzip erklären zu wollen, scheint unmöglich zu sein. Hier öffnet sich ein neuer Rahmen, besonders kreativ in der Hirnforschung tätig zu werden. In unserem Bedürfnis, Dinge zu erklären, unterliegen wir dem Wahn, immer nach nur einer Ursache zu suchen. Alle Menschen scheinen an der Krankheit der „Monokausalitis“ zu leiden oder sind zumindest in unserem Kulturkreis in dieser Richtung geprägt, denn man kann den Eindruck gewinnen, dass insbesondere asiatische Kulturen offener sind für die Multikausalität allen Geschehens. Mit der Komplementarität als kreativem Prinzip ist eine besondere Weise der Multikausalität angesprochen, dass nämlich jeweils zwei oder auch mehrere Elemente zusammenkommen müssen, die sich selbst aus ihrer Bezogenheit auf ihr anderes bestimmen. Diese Verflechtungen im Einzelnen zu entflechten, dies verlangt wissenschaftliche Kreativität. Dazu muss man aber bereit sein, die Perspektive der Komplementarität als generatives Prinzip zu akzeptieren. Doch wäre das wirklich etwas Neues? Immer wieder ist man mit der Vergangenheit konfrontiert, mit der biologischen und der kulturellen. Auf Heraklit wurde schon hingewiesen, und auf Aristoteles muss man hinweisen: Er unterscheidet verschiedene Arten von Ursachen, zum Beispiel dass alles, was existiert, eine materiale Basis hat (causa materialis) und dass es irgendwie gestaltet ist (causa formalis), dass man also ohne die notwendige Komplementarität von Was und Wie nichts erkennen könnte.