Teil
5
Kreativität in den Augen anderer
Dies ist eine besondere Art von Literaturverzeichnis, mit weiteren Ansichten dazu, „wie wir von Natur aus gemeint sind“, nämlich kreativ und stets ein Gleichgewicht suchend – und mit Anmerkungen dazu, was eigentlich von solchen Verzeichnissen über die Veröffentlichungen anderer zu halten ist.
Eine anarchistische Vorbemerkung
Hinweise auf die Veröffentlichungen anderer, Fußnoten, aus denen hervorgeht, von wem man etwas übernommen hat, das sind eigentlich sinnlose Unternehmen. Das gilt insbesondere bei einem Buch wie diesem hier, doch auch für die meisten wissenschaftlichen Artikel, die sich an ein Fachpublikum richten. Wo fängt man an mit den Hinweisen auf andere, wenn man der Auffassung ist, auch auf sehr allgemeine Erkenntnisse Bezug nehmen zu müssen? Wo hört man auf, bei welcher Ebene von Details meist technischer Art, auf die sich andere bezogen haben, um etwas zu erarbeiten?
Es geht immer darum, zu prüfen, wer etwas zuerst gesagt hat. Was aber heißt „gesagt“? „Gesagt“ heißt in diesem Zusammenhang etwas anderes, nämlich „schriftlich festgehalten“. Etwas muss irgendwo schriftlich, typischerweise in einer wissenschaftlichen Zeitschrift oder in einem Buch, festgehalten sein, um als Veröffentlichung zu gelten. Doch wenn jemand etwas in Anwesenheit anderer tatsächlich gesagt hat, ist das nicht auch „veröffentlicht“, und fordert der Betreffende dann nicht mit Recht, dass sein nur mündlich geäußerter Gedanke, eine Hypothese etwa, von anderen entsprechend gewürdigt wird? Da dies meist nicht geschieht, sprechen manche Forscher zum eigenen Schutz nicht mehr offen über ihre wissenschaftlichen Projekte, aus Angst, die Priorität der Publikation einer Entdeckung zu verlieren. Im Feld der Wissenschaft geht es immer um Priorität, darum, etwas zuerst zu veröffentlichen. Ein Weiteres: Ist das, was in den sozialen Medien verbreitet wird, als eine Veröffentlichung zu werten? Eigentlich schon, schließlich ist es ja öffentlich.
Daraus ergibt sich ein Problem, das die beiden Autoren dieses Buches betrifft, und eigentlich jeden Autor: Es ist einfach viel zu viel „öffentlich“. Wir können nicht mehr genau sagen, wo wir etwas aufgegriffen haben, woher wir möglicherweise einen Gedanken übernommen haben. Deshalb sei ganz allgemein und nicht einmal mit einem schlechten Gewissen festgestellt: Jede Idee, die wir hier ausbreiten, könnten wir von anderen übernommen haben – es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass manches von uns ist. Da sowohl das eine als auch das andere möglich ist, befinden wir uns in einer merkwürdigen, paradoxen Situation: Wir schreiben über Kreativität, und es könnte sein, dass wir selber dies mit sehr eingeschränkter Kreativität tun, dass also alles von anderen stammt. Dies ist aufgrund des permanent überforderten Gedächtnisses immerhin möglich. Niemand kann mehr im Detail nachvollziehen, wo er etwas zuerst gesehen oder gehört hat. Unser Gedächtnis ist nicht an „Zeitmarken“ interessiert, sondern an Inhalten.
Das wäre die Außensicht auf die Dinge, die man uns als Autoren vorhalten kann. Wir meinen, dass man solche Vorwürfe gegenüber allen Autoren von Büchern wie diesem erheben könnte, was aber die Sache für uns nicht besser macht. Doch es gibt auch die andere Perspektive, die Innensicht auf die Dinge, und in dieser erfreuen wir uns unserer eigenen „Kreativität“. Auch wenn manch andere etwas bereits gedacht haben, an das wir denken, so ist es doch immer ein Vergnügen und erfüllt mit Zufriedenheit, wenn einem selbst etwas einfällt. Und dann stört es gar nicht, dass andere schon einmal das Gleiche gedacht und erdacht haben. Im Gegenteil: Es erfüllt mit Genugtuung, dass der eigene Einfall keine Singularität ist, also nichts Besonderes, sondern dass man eingebettet ist in eine Welt, in der viele Menschen über ähnliche Dinge nachdenken und zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Wir fühlen uns dann als ein Teil eines größeren Ganzen, und was auch wichtig ist: Dass andere ähnliche Gedanken verfolgen und Einfälle haben, bestätigt einen darin, einigermaßen normal, also Herr seiner Sinne zu sein.
Dieses Gefühl, dazuzugehören, weil man ähnliche Gedanken wie andere hat oder ähnliche kreative Leistungen vollbringt, wird nicht von allen Künstlern, Forschern oder kreativen Menschen in anderen Bereichen der Gesellschaft geteilt. Allzu gerne verweist man auf die eigene, unübertroffene Kreativität, das noch nie Dagewesene, das Einmalige, das Großartige. Ich muss zugeben, dass ich mich auch und allzu oft dieser Illusion hingegeben habe. Und ich musste lernen zu erkennen und anzuerkennen, dass alles, was ich „entdeckt“ habe, immer schon entdeckt worden war, wenn auch manchmal mit anderen Worten gesagt oder dargestellt in künstlerischen Werken. Denn viele „Entdeckungen“ haben die Künste längst gemacht. Oft haben Künstler etwas vor-gedacht, was wissenschaftlich nach-gedacht wird. Es wird dann in der Sprache des Forschers umformuliert und als etwas Neues dargestellt. Diese Einsicht ist ein Grund dafür, warum so viele Gedichte in dieses Buch hineingeraten sind: Im Gedicht, und das gilt für alle Zeiten, seitdem es Dichtkunst gibt, werden oft Erkenntnisse vermittelt, die wir als Forscher mühsam nachkonstruieren. Bei der Auswahl der hier vorgestellten Gedichte haben wir uns allerdings – wenn auch nicht ausschließlich – auf solche konzentriert, in denen Witz oder Ironie vorherrschen. Dass wir Wissenschaftler meist den Erkenntnissen hinterherhecheln, zeigt sich in einer Bemerkung von Künstlern, die man oft zu hören bekommt, wenn man mit ihnen über wissenschaftliche Erkenntnisse spricht: „Aber das weiß man doch schon längst.“ Das ist auch die Erfahrung, die man mit sogenannten Laien macht, die sich darüber wundern, dass etwas, das als selbstverständlich gilt, erst noch „entdeckt“ werden musste. Ein Beispiel hierfür ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Er besagt, dass spontan ablaufende Prozesse irreversibel sind, und beschreibt eine Richtung der Zeit theoretisch. Für Laien aber ist es intuitiv verständlich, dass sich die Tasse, einmal zu Boden gefallen und zersprungen, nicht wieder zusammensetzt und auf den Tisch zurückstellt.
Dass Literaturangaben und Nachweise in Fußnoten recht fragwürdig sind, ergibt sich noch aus einer anderen Tatsache, die an die Grenzen wissenschaftlicher Moral oder sogar darüber hinaus führt. Nehmen wir nur einmal das Gebiet der Hirnforschung, auf dem jedes Jahr etwa 100000 wissenschaftliche Publikationen erscheinen; genau gezählt hat das niemand, doch die Größenordnung dürfte stimmen. Kein Hirnforscher kann das alles lesen. Wenn man sehr fleißig ist, dann studiert man mit Konzentration in einem Jahr vielleicht 100 Veröffentlichungen anderer und nimmt 1000 zur Kenntnis. Man kommt also gerade einmal an die Ein-Prozent-Grenze heran – viele studieren sehr viel weniger. Die fehlenden 99 Prozent enthalten aber auch wichtige Informationen. Trotz all der Intelligenz in den stolzen wissenschaftlichen Netzwerken gibt zurzeit keine Möglichkeit, die grundsätzlich verfügbaren Informationen in ihrer Bedeutung zu erfassen. Semantisch sensitive Verfahrensweisen, mit denen sich das verfügbare Wissen filtern ließe, gibt es nicht, trotz aller Verheißungen. Das meiste, was Wissenschaftler produzieren, wird für den Papierkorb geschrieben.
Wie aber wehrt sich die wissenschaftliche Welt gegen dieses Zuviel, wenn keiner zugeben mag, dass vieles, was sie oder er macht, bedeutungslos für den Gewinn von Wissen ist, für den Fortschritt also keine Rolle spielt und auf der Müllkippe der Belanglosigkeit landet? Jeder träumt davon, wenn nicht bedeutend, so doch mindestens ein „Arbeiter im Weinberg des Wissens“ zu sein. Aus diesem Grund entstehen lokale Netzwerke von Gleichgesinnten, die versuchen, durch bestimmte wissenschaftliche Publikationsorgane eine Richtung vorzugeben und so festzulegen, was bedeutsame Forschung ist. Es geht immer darum, die Meinungshoheit zu gewinnen, sei es an den Stammtischen der Wissenschaften oder auch in der Kunstrezeption. Das hat Konsequenzen: Es entstehen Zitationskartelle von geschlossenen Gemeinschaften, die alle wegbeißen, die nicht dazugehören, und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen.
Allein in dem Forschungsbereich, der sich mit visueller Wahrnehmung befasst, dürfte es ein Dutzend verschiedene Zünfte geben, die nicht miteinander sprechen und die kaum voneinander wissen. Um voneinander zu wissen, müsste man interdisziplinär denken und sich mit Fragen der Psychophysik, Neuroanatomie, Neurophysiologie, Neuropsychologie, mit kognitiver Informatik, mathematischer Modellierung, phänomenologischen Methoden und sogar der Philosophie beschäftigen, und wer will oder kann das schon. Aber notwendig wäre es, vor anderen Perspektiven nicht die Augen zu verschließen, wenn man das „Sehen“ insgesamt verstehen will.
Diese Aufsplitterung der Forschung wäre im Grunde völlig belanglos und für Außenstehende auch uninteressant, wenn sie nicht politische Konsequenzen hätte: Zitationskartelle erzeugen die Illusion, dass nur in ihnen das wahre Wissen erzeugt wird. So hält das Marketing Einzug in die Wissenschaft: Am wichtigsten wird, wer die besten Marketing-Strategien hat. Das kann selbst Ausdruck einer speziellen Kreativität sein, die aber mit wissenschaftlicher Kreativität nicht korrelieren muss. Die Folge sind politische Entscheidungen darüber, wer die besten Forscher, die besten Universitäten sind, die wiederum für ihre Arbeit finanziell besonders gefördert werden.
Eine nicht zu gewagte Hypothese: Jede empirische wissenschaftliche Arbeit, in der Bezug auf die Arbeit anderer genommen wird, könnte ein völlig anderes Literaturverzeichnis haben, das keinerlei Überschneidungen zum ersten aufweist, das mit dem gleichen Recht und der gleichen Expertise das Werk anderer würdigt. Warum kommt das nie vor? Es geht bei Hinweisen auf die Arbeit anderer überhaupt nicht um die Würdigung des Wissens. Es geht darum, auszudrücken, dass man dazugehört oder dazugehören möchte. Man schmeichelt den anderen, um deren h-Index zu erhöhen, in der Hoffnung, dass man von ihnen zitiert wird, und sich so der eigene h-Index verbessert. (Der h-Index wurde 2005 von Jorge E. Hirsch entwickelt und ist eine merkwürdige Erfindung. Er gibt mit einer Ziffer an, wie viele der eigenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der gleichen Höhe von anderen zitiert wurden. Wenn man also zehn Arbeiten publiziert hat, und von diesen zehn wurde jede mindestens zehnmal zitiert, dann hat man einen h-Index von 10.)
Wenn man das alles bei Licht betrachtet, dann muss man feststellen, dass die meisten kreativen Leistungen nicht in Zitationskartellen oder im Mainstream zu finden sind, sondern in den vielen Welten daneben – das gilt ebenso für die Wissenschaften wie für die Künste. Um diese aufzuspüren, muss man eine neue Optik entwickeln, die auch das erfasst, was kaum sichtbar ist. Man muss über den Tellerrand blicken und Verstecktes „entbergen“, und man darf sich nicht verrückt machen lassen von den jeweils aktuelle Hypes, insbesondere vom „Neuropop“, den wir gerade erleben.
Ein weiterer Mechanismus, sich gegen die Flut der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu wehren, besteht darin, dass man nur noch zur Kenntnis nimmt, was in den letzten Jahren veröffentlicht wurde. Was vor dem Jahr 2000 in der wissenschaftlichen Literatur niedergelegt wurde, wird in vielen Disziplinen bereits zur tiefsten Vergangenheit gezählt und deshalb nicht beachtet. So kommt es dazu, dass etwas, das eigentlich längst bekannt ist, vermeintlich neu „entdeckt“ wird.
Und dann gibt es natürlich noch die Sprachbarriere: Wenn man so töricht war oder ist, im Bereich der Hirnforschung nicht auf Englisch zu publizieren, dann existiert das in der „falschen“ Sprache Aufgeschriebene einfach nicht, zumindest nicht im internationalen Rahmen. Dann kann man noch so stolz auf die Kreativität des eigenen Kulturkreises sein, doch was auf Russisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch oder gar in einer asiatischen Sprache wie Japanisch oder Chinesisch geschrieben wurde, ganz zu schweigen von Arabisch, kommt auf der internationalen Bühne nicht vor.
Wenn irgendwann das Projekt, semantisch sensitive Suchmaschinen zur Erfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu entwickeln, ernsthaft angegangen werden sollte, dann muss man erstens das Zeitfenster in die Vergangenheit öffnen und zweitens die Sprachbarriere aufheben. Dass damit die Aufgabe, eine solche Suchmaschine zu entwickeln, nicht leichter wird, das ist offenkundig. Doch nur dann kann man auch noch etwas anderes erkennen, das sich durch die Sprache vermittelt: Zum einen ermöglicht es die Erweiterung des Zeit- und Sprachhorizonts, Erkenntnisse in das eigene Denken einzubeziehen, die man sonst übersehen hätte. Zum anderen aber bietet die Struktur einer jeden Sprache eigene Möglichkeiten, Dinge auszudrücken, Möglichkeiten, auf die nur sehr geübte Sprecher oder Muttersprachler zugreifen können. Und die Art, wie eine Erkenntnis in einer Muttersprache ausgedrückt werden kann, spannt einen eigenen inhaltlichen Rahmen auf, auch in den Naturwissenschaften, zumindest im Bereich der Hirnforschung und der Psychologie. Wir setzen unserer Welt durch einen zu engen Zeit- und Sprachhorizont Grenzen und machen uns so dümmer, als wir sind. Und in diesem Fall ist Dummheit eine Sünde.
Dass es zu solch merkwürdigen Entwicklungen wie den beschriebenen Zitationskartellen gekommen ist, hat auch etwas mit der Instrumentalisierung der Wissenschaft, wie vielleicht des ganzen modernen Lebens zu tun. Wir sind im Wesentlichen nur noch Kostenfaktoren in den Systemen der Gesundheit, der Bildung, der Umwelt und der Wissenschaft. Um diese zu kontrollieren, braucht man natürlich Zahlen, mit deren Hilfe die Controller ihre Arbeit verrichten können und schließlich die Entscheider ihres Amtes walten können. Dass diese Kontrolle nichts anderes als Freiheitsberaubung ist, das fällt schon gar nicht mehr auf. Wir alle sind auch adaptive Systeme, die im Laufe der Zeit als selbstverständlich hinnehmen, was nicht selbstverständlich ist. Man muss sich fragen, wie man uns in 50 Jahren rückblickend beurteilen wird. Werden wir in der Zukunft vor uns bestehen können?
Warum also fügen wir diesem Buch überhaupt ein Verzeichnis an, das sich auf Bücher und wissenschaftliche Artikel anderer bezieht? Ein Grund: Es ist ein Vergnügen, manchmal auch ein Missvergnügen, in den Werken anderer zu lesen, ihre Gedanken aufzugreifen, sie vielleicht in einen anderen Rahmen zu stellen, und die Möglichkeit hierzu wollen wir unseren Lesern nicht vorenthalten. Insbesondere aber glauben wir, dass durch die Auswahl und die Kommentare unsere eigenen Vorurteile deutlicher werden. Und es wird durch die Auswahl transparenter, dass immer bestimmte Gedanken herausgegriffen wurden, die vielleicht gar nicht die zentrale Thematik des zitierten Werkes sind. Womöglich stehen dem Spezialisten die Haare zu Berge, wenn er sieht, in welcher Weise wir uns auf den jeweiligen Text beziehen, was uns wesentlich oder interessant erscheint. „Habent sua fata libelli“ – die Bücher haben ihr eigenes Schicksal, und Gleiches gilt für wissenschaftliche Artikel. Dass man etwas in ihnen liest, was nur randständig angedeutet wurde, dass man etwas in einen Text hineininterpretiert, kann aber auch die Wurzel eines kreativen Prozesses sein. Etwas misszuverstehen, führt einen nicht selten auf eine neue Fährte – so ist es in der Forschung oft genug geschehen. Und natürlich haben wir in den Kommentaren – seien sie kurz oder lang – immer den Bezug der besprochenen Werke zu den zentralen Themen dieses Buches aufgezeigt: dazu, dass wir von Natur aus kreativ sind, zur Frage, wie wir mögliche Kreativitätsstaus umfahren können, wie unser Gehirn bei bestimmten Herausforderungen funktioniert, dazu, dass es uns als biologischen Wesen immer darum geht, ein inneres Gleichgewicht, eine Homöostase, herzustellen, und dazu, dass dies alles ohne Mut und eigenen Einsatz nicht zu erreichen ist.