Die Lust am Unmöglichen

Warum es sinnvoll ist, gegen seine Gewohnheiten und Bequemlichkeiten denken

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Nicht bequem sein. Das Unmögliche wagen. Pioniergeist zeigen. Das sind die Grundlagen, damit wir unser volles Potenzial an Kreativität ausschöpfen können, erklärt uns der Psychiater und Ballonfahrer Dr. Bertrand Piccard aus Lausanne in der Schweiz. Er hat gerade wieder etwas Neues gewagt, und es ist abermals etwas, von dem die Menschen sagen, es wäre unmöglich: Nachdem er die Welt mit einem Ballon bereits umrundet hat, will er diese Strecke nun in einem Non-Stop-Flug mit einem Ultraleichtflugzeug zurücklegen, ohne dabei auf Kerosin oder einen anderen fossilen Treibstoff zurückzugreifen – nur mithilfe von Solarenergie. Wann Piccard besonders kreativ ist und welche Tipps er speziell für die Leser dieses Buches hat, verrät er am Ende des Kapitels.

Als das Ultraleichtflugzeug Solar Impluse am 5. Juni 2012 in Marokko landete, hatte es den sicher langsamsten Interkontinentalflug der Neuzeit hinter sich. Gut 17 Stunden brauchte der Pilot André Borschberg, um mit dem Flugzeug zunächst vom Militärflughafen Payerne in der Schweiz nach Madrid zu gelangen. Und noch einmal 19 Stunden in dem engen Einpersonen-Cockpit brauchte Bertrand Piccard für die Strecke Madrid–Rabat (Marokko). Kein Wunder bei einer Geschwindigkeit von gerade einmal 50 Kilometern in der Stunde. Und doch strahlten die beiden Männer an ihren Zielorten: So also sieht das Glück aus.

Denn die Flüge waren eine Pionierleistung: Das Flugzeug hatte sich nur mit Solarenergie in der Luft gehalten, auch nachts. Während Antoine de Saint-Exupéry in seinem Roman „Nachtflug“ noch beschrieben hatte, wie die Piloten mit dem Nachtsichtproblem zu kämpfen hatten (im Erscheinungsjahr 1930 war das Fliegen bei Nacht eine Pionierleistung), bestand bei Bertrand Piccards Projekt die größte Herausforderung in der kontinuierlichen Energieversorgung: „Wenn einem Auto die Energie ausgeht, bleibt es stehen. Wenn ein Flugzeug keine Energie mehr hat, stürzt es ab.“ Doch dieser Testflug glückte. Piccard und Borschberg überquerten die Pyrenäen in einer Flughöhe von 7000 Metern und das Mittelmeer. Damit war eine weitere Probe für die geplante Non-Stop-Weltumrundung im Jahr 2014 bestanden. „Danach wird es keine Ausrede mehr dafür geben, auf der Erde nicht auf fossile Energieträger für Autos, Waschmaschinen oder Heizungssysteme zu verzichten“, erklärt „Captain“ Piccard.

Seine innere Mission besteht nämlich nicht darin, einen Weltrekord aufzustellen, sondern gegen den Klimawandel zu kämpfen. „Doch das klingt nach Problemen und nach Kosten. Beides mögen Menschen nicht so gerne“, und deswegen möchte Piccard mit dem Flugzeug Solar Impulse ein positives und attraktives Bild von erneuerbaren Energien zeichnen. Zudem will er den Menschen ein Vorbild sein, damit sie die richtige Einstellung bekommen, um wirklich kreative Lösungen für die immer stärker drängenden Umweltprobleme zu finden: „Wir haben uns in einer Bequemlichkeits- und Sicherheitszone eingerichtet. Viel zu schnell sagen wir, etwas wäre unmöglich, und wagen nichts. Doch in uns steckt mehr, als wir ahnen. Sobald wir akzeptieren, dass Unsicherheit und Ungewissheit zum Leben gehören, fangen wir an, unser gesamtes Potenzial zu aktivieren und die Lösungen in uns selbst zu finden.“

Nicht bequem zu sein, das Unmögliche zu wagen und Pioniergeist zu zeigen, das sind die Grundlagen, um unser volles Potenzial an Kreativität zu aktivieren und es von höchstens 50 Prozent im normalen Leben auf 100 Prozent in Ausnahmesituationen zu katapultieren. Dies haben vor Bertrand auch schon sein Großvater Auguste und sein Vater Jacques entdeckt.

Auguste Piccard hatte in den 1930er-Jahren die verwegene Idee, mit einem Heißluftballon bis in die Stratosphäre hinaufzusteigen. Er war Professor für Physik, befreundet mit Albert Einstein und Marie Curie, und er kannte die herrschende Lehrmeinung genau: Über 5000 Metern Höhe gäbe es nicht genügend Sauerstoff, um zu atmen, und zu wenig Luftdruck, um zu überleben. Die Stratosphäre aber ist eine Schicht der Erdatmosphäre, die zwischen 15 und 50 Kilometer über dem Meeresspiegel liegt, demnach galt es als unmöglich, sie lebendig zu erreichen. Wirklich? Augustes Lösung bestand darin, eine Druckkabine zu erfinden und damit aufzusteigen, erst auf 15785 Meter, dann auf 16201 und schließlich auf 23000. Damals ein Weltrekord, der den Flugverkehr bis heute beeinflusst, denn jedes Langstreckenflugzeug macht das vermeintlich Unmögliche wahr und sucht seine Flugbahn in der Stratosphäre. Mit Professor Bienlein übrigens (im Original Professeur Calculus) zeichnete Hergé in der Comicserie „Tim und Struppi“ ein Denkmal für Auguste Piccard und dessen Pioniergeist.

Der trieb Piccard immer weiter, und nachdem die Höhen erreicht waren, versuchte er es noch in den Tiefen. Dafür entwickelte er das legendäre Bathyskaph (das griechische Wort »bathos« bedeutet »tief«, »skaphos« heißt »Schiff«): ein Tiefseeboot mit einer druckfesten Tauchkugel, mit dem man tiefer als je zuvor und dann auch noch selbstständig auf dem Meeresgrund navigieren konnte. Im Bathyskaph ließ sich Auguste Piccard 3150 Meter ins Tyrrhenische Meer hinab, für das Jahr 1953 ein Rekord, der die vorherigen Leistungen verdreifachte. Schnell aber wurde auch dieser Rekord von Augustes Sohn übertroffen. Zusammen mit dem Forscher Don Walsh tauchte Jacques Piccard am 23. Januar 1960 auf den erst 1951 von den Forschern des Schiffs Challenger II entdeckten tiefsten Punkt der Erde (Challenger Deep). Und welch eine Überraschung erwartete sie dort: Am Meeresgrund, in 10740 Metern Tiefe, wo niemand mehr Leben vermutet hatte, bewegte sich ein Plattfisch, einer Scholle sehr ähnlich. Über 17 Jahre waren die Boote vom Typ Bathyskaph anschließend sehr erfolgreich im Einsatz.

Für Bertrand Piccard waren diese Leistungen nicht immer leicht zu verarbeiten, auch wenn er „Kapitän Nemo“, wie er seinen Vater manchmal insgeheim nannte, sehr bewunderte: „Man stellte mich vor: Das ist Bertrand, sein Großvater war als Erster in der Stratosphäre, der Vater als Erster in der tiefsten Tiefsee.“ – „Und wo warst du?“, bekam er dann manchmal zu hören. Doch Bertrand studiert zunächst Medizin, spezialisierte sich auf Psychiatrie und Hypnose und verwarf jeden Gedanken an eine Welteroberung. Bis schließlich doch ein Juniorwettbewerb der Chrysler Challenge lockte, an einer Ballonfahrt von den USA nach Spanien teilzunehmen. Bertrand konnte nicht widerstehen, flog 5000 Kilometer in fünf Tagen und fand Gefallen daran.

Heute denkt jeder sofort an die Weltumrundung mit dem Heißluftballon Breitling Orbiter 3 im Jahr 1999, wenn er den Namen Bertrand Piccard hört. Es war der längste Flug der Luftfahrtgeschichte, sowohl hinsichtlich der Dauer als auch in Bezug auf die Entfernung. Und es war eine Schulung in Sachen Kreativität: „Es war ein Traum, in der Natur zu sein, mit dem Wind durch die Welt zu fahren. Zusammen mit Brian Jones lebte ich 20 Tage in der Luft. Wir waren in einer total fremden Situation. Das hat uns dazu gezwungen, neue Mechanismen zu entwickeln, um mit unserer Situation zurechtzukommen“, erzählt Piccard. Nur so war es möglich, die Enge auszuhalten, die Unbequemlichkeit, die eingeschränkten Bewegungs- und Schlafmöglichkeiten, die karge Kost, die mangelnde Hygiene, die Gefahren, die Abhängigkeit vom Wetter und vieles mehr. Das ist alles nicht ohne Weiteres möglich, doch das Potenzial der eigenen Möglichkeiten potenziert sich mit dem Übergang von der Bequemlichkeit zur Herausforderung: „Um zu neuen Ufern aufzubrechen, muss man zuvor Ballast abwerfen. Wir müssen unsere Gewissheiten aufgeben, dann schaffen wir Platz für Kreativität und neue Lösungen“, so Piccard.

Aber fast hätte es auch beim dritten Anlauf nicht geklappt, als Erster die Erde mit dem Ballon zu umrunden. Denn als Piccard und Jones an ihrem Ziel in der ägyptischen Wüste ankamen, waren noch genau 40 Kilo Flüssigpropangas als Treibstoff vorhanden – gestartet waren sie mit 3,7 Tonnen. Wären die Winde über dem Atlantik nur ein kleines bisschen schwächer gewesen, hätte eine Notwasserlandung und nicht ein Weltrekord die Schlagzeilen der Presse dominiert, und das war der Moment, in dem ein Gedanke in Bertrand Piccard keimte: „Es einmal völlig losgelöst von fossilen Energieträgern zu versuchen. Eine Erdumrundung nur mithilfe von Solarenergie zu schaffen. Eine wahrhaft moderne Pionierleistung zu vollbringen, nämlich etwas für die Zukunft unseres Planeten zu tun.“

Heute, im Jahr 2012, nach dem Interkontinentalflug von der Schweiz nach Marokko, ist das Ziel einer solargetriebenen Erdumrundung ein ganzes Stück realistischer geworden. Auf die Frage, wie es ihm nun geht, nachdem ein wichtiges Etappenziel geschafft ist, meint Piccard: „Für mich ist es keineswegs verrückt, ein solargetriebenes Flugzeug zu fliegen. Verrückt ist, dass wir auf der Erde in jeder Stunde eine Million Tonnen Erdöl verbrennen. Das ist doch Wahnsinn. Dagegen müssen wir etwas tun.“

Ein Flug mit der Solar Impulse unterscheidet sich sehr vom Flug mit dem Ballon Breitling Orbiter 3: Der Pilot ist in eine enge Kabine eingezwängt, kann sich kaum bewegen, trägt eine Sauerstoffmaske und ist per Telemetrie hinsichtlich aller relevanten Variablen mit dem Bodenpersonal verbunden: von Geschwindigkeit, Höhe und Luftwiderstand bis hin zur Sauerstoffsättigung im eigenen Blut. Kein Vergleich zum vormaligen Gefühl von Freiheit. Vielleicht ist das Solarflugzeug aber auch einfach fehlersensibler als ein Ballon. Die Marge zwischen Falsch und Richtig ist sehr eng. Kleine Unaufmerksamkeiten können sofort einen Absturz des Flugzeugs zur Folge haben.

Viele Kritiker haben vermerkt, es sei recht unrealistisch, dass sich aus der Solar Impulse einmal ein solargetriebenes Passagierflugzeug entwickle. Aber wer weiß? Hat nicht jede Innovation einmal klein angefangen? Wie war das noch mit den Gebrüdern Wright, denen 1903 der erste Flug in einem motorisierten Flugzeug gelang? „Niemals wird je ein Flugzeug den Atlantik überqueren“, menetekelten die Stimmen damals. Und dann hat es Charles Lindbergh 24 Jahre später, im Jahr 1927, doch geschafft. Warum also könnte mit einen solargetriebenen Einpersonen-Ultraleichtflugzeug nicht doch irgendwann eine völlig neue Ära der Solarfliegerei beginnen?

Kommen wir wieder zurück zum Thema Kreativität und fragen wir hierfür einmal den Psychiater, der Bertrand Piccard schließlich auch ist. Er hat tatsächlich ein Resümee aus seinen Abenteuern gezogen und schlägt uns eine Übung vor: „Eine Art und Weise, kreativ zu sein, besteht darin, einmal genau und ehrlich zu beobachten, was wir tief im Innern glauben – und dann das Gegenteil davon anzunehmen. Diese Übung macht den Geist frei. Wenn ich überzeugt davon bin, dass es richtig ist, etwas in einer bestimmten Weise zu tun, dann frage ich mich anschließend, was passieren würde, wenn ich das Gegenteil machte. Dabei kann es sich um ein anderes Kochrezept handeln, um eine andere politische Meinung oder eine religiöse Überzeugung. Wenn diese Übung zu schwer ist, dann sprechen Sie mit einer Person, die eine andere Meinung vertritt, und hören Sie ihr mit der inneren Einstellung, dass sie vielleicht recht hat, genau zu. Mit dieser Übung katapultiert man sich sozusagen auch in die Stratosphäre, man gelangt in einen Bereich, den man zuvor für unmöglich hielt. Und wer weiß? Vielleicht finden Sie sogar Gefallen an der Einstellung der anderen Person. Auf jeden Fall aber trainieren Sie so, Ihre eigenen festgezurrten Meinungen zu hinterfragen, Gewissheiten abzuwerfen und offen zu werden für das wahrhaft Kreative.“