Die Versklavung des Bewusstseins und einige Befreiungsversuche
Wenn man sich in die Außenperspektive begibt und sich gleichsam neben sich stellt, dann entdeckt man, dass einem nicht nur etwas bewusst ist, sondern dass einem immer etwas bewusst ist, sei es Wahrgenommenes, Erinnertes, Gefühltes, Gewolltes oder auch Bedachtes. Durch das Zusammenkommen der Außenperspektive mit der Tatsache, dass wir ununterbrochen Informationen verarbeiten, entdecken wir mit Schrecken, dass wir „versklavt“ sind: Unsere Antennen müssen immer offen sein für die erfolgreiche Regulation der Lebensprozesse; unser Gehirn muss fortwährend Informationen aufnehmen und diese im Hinblick auf das abwägen, was gut und was weniger gut für uns ist. In jedem Augenblick sind wir durch Informationen fremdbestimmt. Wir sind nicht frei und können nicht frei sein, denn diese Versklavung ist Teil des Lebensprogramms, das uns mitgegeben wurde. Versklavung in diesem Sinne ist ein Wesensmerkmal des Lebens und somit auch des Menschseins.
Wenn aber das Bewusstsein notwendigerweise versklavt ist, was ist dann eigentlich das Ich? Kann man überhaupt von einer Autonomie des Selbst sprechen? Im Rahmen der Versklavung, wie sie gerade dargestellt wurde, ist dies nicht möglich. Und das muss kein Problem sein, sofern man mit der Versklavung einverstanden oder sogar mit diesem Freiheitsentzug zufrieden ist. Doch ist es überhaupt möglich, sich aus dieser Versklavung zu befreien? Und wenn ja, wie?
Ein Versuch der Befreiung ist die Forschung selbst, und vielleicht betreiben Wissenschaftler nur deshalb Forschung, um nicht mehr der Ödnis des Alltäglichen ausgeliefert zu sein. Man begibt sich als Hirnforscher in eine „Schleife der Selbstreferenzialität“ und untersucht die Gründe, warum es zu dieser Art von geistiger Versklavung kommen musste und wie man ihr vielleicht entgehen könnte. Diese Suche nach Selbsttransparenz führt zum Verständnis der Motivationsstrukturen, die einen beherrschen. Ein Befreiungsversuch ganz anderer Art ist durch künstlerische Tätigkeit gegeben: Mithilfe der eigenen Kreativität ist es möglich, der Besetzung des Bewusstseinsstroms durch Geschehnisse in der Welt zu entgehen. Ein weitere Befreiungsmöglichkeit bietet die Konzentration: Durch die fokussierte Aufmerksamkeit auf einen Bewusstseinsinhalt verhindert man, dass ununterbrochen etwas durch das Bewusstsein wandert, das sich der eigenen Kontrolle entzieht. Die Meditation ist ein anderer Weg aus der Versklavung des Bewusstseins, zumindest eine Weise der Meditation, in der nur ein Bewusstseinsinhalt im Zentrum steht. Durch den meditativen Prozess versucht man, die evolutionären Randbedingungen hinter sich zu lassen, die uns in den kontinuierlichen Strom der Informationsverarbeitung hineinzwingen.
Eine wenig bekannte Form der Meditation oder der Selbstversenkung, die jedem offensteht, ist eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit (wir haben sie in Kapitel B5 als „Introspektion“ bezeichnet). Dabei ruft man sich Bilder aus seiner Erinnerung vor das geistige Auge. Von solchen Bildern haben wir in unserem episodischen Gedächtnis eine große Zahl aufbewahrt, die wir durch eine Zeitreise hervorsuchen können. Dieser psychische Akt, den jeder bereits gewollt oder ungewollt vorgenommen hat, ist mit Konzentration und Anstrengung verbunden, aber man kann ihn durch Übung stärken – und man kehrt von seiner Reise mit einem Gefühl der Befreiung zurück. Mit dieser Form der Meditation nimmt man Kontakt zu sich selbst auf. Das ist in einem durchaus realen Sinn gemeint, denn häufig entdeckt man sich selber in den Bildern der eigenen Vergangenheit; man ist sein eigener Doppelgänger und sieht sich selbst vor seinem geistigen Auge. Indem man sich als sein eigener Doppelgänger gegenübertritt, bestätigt man sich selbst; die personale Identität wird wesentlich davon getragen, sich in seiner eigenen Vergangenheit sehen zu können. Damit ein solches Doppelgängertum erfahren werden kann, müssen jedoch mehrere Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss ich eine Dissoziation vornehmen; ich muss mich tatsächlich gedanklich neben mich stellen, also eine Außenperspektive zu mir selbst einnehmen. Zweitens muss ich es auch wollen, in die eigene Vergangenheit zu reisen: Ich muss willentlich die Entscheidung treffen, Kontakt zu mir selbst aufzunehmen, und in einen empathischen Bezug zu mir selbst treten.
Damit ein solcher Prozess einer erfolgreichen Befreiung möglich ist, sind gewisse neuronale Randbedingungen zu berücksichtigen, wie vor allem die zeitliche Dynamik unseres Bewusstseins, auf die man immer wieder hinweisen muss. Die neuronalen Prozesse des Gehirns sind dadurch gekennzeichnet, dass für jeweils kurze Zeitstrecken ein Gegenwartsfenster geöffnet wird. In aufeinanderfolgenden Segmenten von wenigen Sekunden werden Informationen, die durch unser Bewusstsein ziehen, zu Einheiten zusammengefasst. Dieser neuronale Mechanismus ist notwendig, damit man überhaupt Informationen verarbeiten kann, damit man etwas in seinem Bewusstsein haben kann, damit etwas in unserem Bewusstsein Identität erlangen kann. Damit ich eine Tasse als Tasse sehe, eine Blume als Blume, müssen diese in ihrer Identität erst erzeugt werden, und dies ist keine triviale Aufgabe für das Gehirn. Wie dies geschieht, dass also im Abstand von nur wenigen Sekunden jeweils überprüft wird, ob es immer noch die jeweilige Blume oder die Tasse ist, die ich sehe, ist eine der ungelösten Fragen der Hirnforschung; wir wissen nur, dass es geschieht, doch wir wissen nicht, wie es geschieht. Etwas wird für eine gewisse Zeit in seiner Identität festgehalten, und diese Identität wird bestätigt. Wenn nicht, dann besetzt ein neuer Inhalt, etwas mit einer anderen Identität, das Bewusstsein.
Die Komplementarität von Stationarität und Dynamik, das Festhalten an einem Bewusstseinsinhalt und das Zulassen eines anderen Bewusstseinsinhaltes, ist ein Strukturmerkmal unseres Bewusstseins. Diesen natürlichen Fluss des wechselnden Bewusstseinsstromes kann man durch geistige Fokussierung überwinden; in der Konzentration versucht man, Kontinuität zu erzeugen, dass also das, was jetzt repräsentiert ist, dasselbe bleibt und nicht von etwas anderem abgelöst wird. Eine solche Kontinuität im Bewusstseinsstrom herzustellen, widerspricht allerdings den Bauprinzipien unseres neuronalen Gewebes. In dem Versuch der Befreiung aus der Versklavung des Bewusstseins muss man also evolutionäre Prinzipien durchbrechen, die dazu da sind, uns sicher an die Welt zu koppeln. Ist man in diesem Akt erfolgreich, dann ist man nicht mehr von dieser Welt – so beschreiben es zumindest viele Meister der Meditation.
Dass der Befreiungsversuch außerordentlich schwierig ist und vielleicht nie ganz erfolgreich sein kann, ergibt sich daraus, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Unsere Sprache verführt uns dazu anzunehmen, dass mentalen Geschehnisse wie Gefühle, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Absichten oder Denkvorgänge jeweils voneinander unabhängige Prozesse sind. Weil wir Begriffe wie „Bewusstsein“ oder „Gefühl“ entwickelt haben, die kulturgeschichtlich betrachtet sogar relativ neu sind, gehen wir leichtgläubig davon aus, es gebe in unserem Gehirn Module, bestimmte und voneinander abgegrenzte Arbeitsbereiche, die jeweils ein bestimmtes Gefühl oder das Bewusstsein repräsentieren.
Dieser Vorstellung widersprechen zahlreiche Erkenntnisse der Neurowissenschaften. Untersuchungen haben ergeben, dass jeder psychische Akt, jede Wahrnehmung, jedes Gefühl, jede Erinnerung, jede Absicht von einem raum-zeitlichen Muster von Aktivitäten neuronal getragen wird. Aus Gründen der Architektur des Gehirns sind sich alle Nervenzellen strukturell sehr nahe und beeinflussen sich gegenseitig. Alles ist aneinander gekoppelt. So ist zum Beispiel Sehen oder Hören nur möglich, weil es einen Bezug zu neuronalen Prozessen in den Gedächtnissystemen gibt; jeder Wahrnehmungsakt ist notwendigerweise in eine emotionale Bewertung eingebunden, jede Erinnerung ist immer auch emotional gefärbt; jede Handlungsabsicht, jedes Wollen ist nur vorstellbar, indem sensorische Rückmeldungen, die zu einer emotionalen Befriedigung führen, mitgedacht werden.
Unsere Sprache verleitet uns dazu, die einzelnen psychischen Akte als unabhängige Ereignisse zu betrachten. Diese Denkweise gilt es zu überwinden, denn in unseren Köpfen passiert etwas ganz anderes. Doch wenn man sich von dieser unzutreffenden Art, zu denken, zu befreien sucht, wird noch deutlicher, wie schwierig ein Befreiungsversuch aus der Versklavung des Bewusstseins sein muss; es geht eben nicht nur darum, jeweils nur einen bestimmten, klar abgegrenzten psychischen Sachverhalt gleichsam in den Griff zu bekommen. Man hat es immer gleich mit allem, mit dem gesamten Wirkungsgefüge des psychischen Repertoires zu tun.
Der Befreiungsversuch aus der Versklavung des Bewusstseins wird außerdem durch einen Umstand erschwert, der durch unsere persönliche Biografie bestimmt ist. Wir leben eigentlich zwei verschiedene Leben, nämlich eines in den frühen Phasen unserer Biografie, die etwa bis zur Pubertät reicht, und eines danach. Wir treten in die Welt hinein mit einer Vielzahl genetischer Programme, die uns Erfahrungen ermöglichen. Dann durchläuft das gesamte Repertoire des Psychischen in den frühen Phasen des Lebens einen Bestätigungsprozess. Nur das, was bestätigt wird, kann zur psychischen Wirklichkeit werden; was nicht bestätigt wird, geht verloren oder lässt sich später nur mühsam wieder erwerben. Wer mit „verfaulter Milch“ aufwächst, mit Käse, wird diesen später mögen; für andere ist er eben verfaulte Milch. Wer bis zu zehn Jahren keine Fremdsprache gelernt hat, wird diese nie akzentfrei sprechen. Mit diesen Prägungsprozessen wird auch eine persönliche Wirklichkeit aufgebaut, die eine Einbettung in den kulturellen Rahmen ermöglicht. Die Matrix des Gehirns wird als Struktur durch die Festlegungen überhaupt erst bestimmt. Kultur wird zur Struktur des Gehirns. In unserer neuronalen Informationsverarbeitung sind wir auch kulturell versklavt.
Die Kenntnis über die Prägung des menschlichen Gehirns und die Tatsache, dass kulturelle Randbedingungen zur persönlichen Wirklichkeit werden, bestimmen auch den Rahmen für interkulturelle Kommunikation. Wenn man weiß, dass man in seiner Persönlichkeitsbildung „ausgeliefert“ ist, nämlich zum einen den genetischen Programmen von Möglichkeiten und zum anderen deren Bestätigung oder Nichtbestätigung in einem kulturellen Rahmen, dann kann man respektvoll mit anderen umgehen. Denn jeder Mensch hat einen solchen Bestätigungsprozess durchlaufen. Kulturelle Unterschiede gehören somit bereits zu unserem evolutionären Programm.