Die Gelassenheit der Verwegenen
Warum neue Ideen Mut brauchen
Auch Wissenschaftler sind kreativ, wenn auch manchmal ganz anders, als man sich das vorstellt. Dies zeigt die Geschichte eines Professors, der mit kreativen Mitteln gegen seine Studenten im Squash gewann. Ein Akt, der Verwegenheit und Gelassenheit erfordert.
Es war ein ungleiches Spiel, das sich den nicht wenigen Zuschauern bot, die sich vor dem Squashcourt im damaligen Bavaria Squash-Center in München versammelt hatten. Ein 20-jähriger durchtrainierter Student und sein mehr als doppelt so alter Professor traten gegeneinander an. Der Ausgang schien schon von vorneherein festzustehen. Squash ist ein schnelles Spiel, und es ist unbestreitbar, dass die Reaktionszeiten eines 20-Jährigen denen eines 40-Jährigen überlegen sind. Für den Studenten stand zudem ein interessanter Anreiz auf dem Spiel. Wenn er es schaffte zu gewinnen, würde ihm eine medizinische Examensarbeit erlassen. Der Professor hatte dem Anschein nach nichts weiter zu gewinnen oder zu verlieren – außer vielleicht seinen Ruf: Seit Jahren hatte es kein Student geschafft, ihn zu besiegen.
Das Aufschlagrecht wurde ausgelost, der Student begann. Er stellte einen Fuß in das Aufschlagviereck des Spielfeldes und wollte gerade den Ball hochwerfen, um ihn aus der Luft zu schlagen, da sagte der Professor etwas zu ihm. Der Student legte wieder ab, entgegnete etwas, holte tief Luft und begann dann zu schlagen. Doch der Aufschlag missglückte, der Punktgewinn ging an den Professor. Die Zuschauer raunten.
Im Laufe des Spiels machte der Student seine Eingangsschlappe wieder wett. Er reagierte schnell, drückte dem Spiel zusehends seinen Stempel auf. Als er sich – mittlerweile wieder siegesgewiss – sein Handtuch holte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, zog der Professor seine Jacke an, so als ob ihn fröstelte. Wer einmal Squash gespielt hat, der weiß, dass es ein sehr schweißtreibender Sport ist, bei dem man schnell hohe Körpertemperaturen erreicht. Der Student war verunsichert, die nächsten Punkte gingen an den älteren der beiden Spieler.
Für die Zuschauer war das Spiel hochspannend. Der Professor war zwar fit, aber der Student eindeutig schneller. Ihm unterliefen aber immer wieder unerklärliche Patzer. Beim Squash geht es darum, zuerst elf Punkte zu erreichen, und zwar mit mindestens zwei Punkten Vorsprung. Doch bis zum Stand von elf zu zehn für den Professor konnte sich keiner der Kontrahenten absetzen. Der Student war mit dem Aufschlag an der Reihe. Plötzlich begann der Professor zu humpeln und sich wie ein gebrechlicher alter Mann aufzuführen. Der Student wurde aggressiv, er schlug mit voller Wucht auf, und der Ball kam in seinem eigenen Spielfeld wieder auf. Ungültig! Spiel, Satz und Sieg.
Was hatte sich zugetragen? Zunächst war der Student siegesgewiss, sich der Vorteile seiner Jugend bewusst gewesen. Doch während des Spiels setzte eine schleichende Verunsicherung ein. Gleich zu Beginn des Spiels stellt ihm sein Professor die Frage, ob er beim Aufschlag eigentlich ein- oder ausatme, woraufhin der Student so sehr auf seinen Atem achtete, dass sein Aufschlag danebenging. Auch schaute der vergleichsweise alte Mann seinem Gegner permanent auf einen Fuß. Der machte sich plötzlich Gedanken, ob etwas mit seinem Schuhwerk nicht stimme, und war abgelenkt, kam aus dem Konzept. Den vorläufigen Rest gab dem Student, dass der Professor zwischendrin seine Jacke anzog, als ob ihn das schweißtreibende Spiel völlig kaltlassen würde.
Weitere Tricks des Professors: den jugendlichen Spieler in Sicherheit wiegen, im Vorfeld den Altersunterschied betonen. Denn wer siegesgewiss ist, macht Fehler. Am wichtigsten war jedoch das Herausstellen seiner Gebrechen. Denn wer sich gegen einen deutlich älteren Gegner nicht durchsetzen kann und dann noch ostentativ mit dessen Alter konfrontiert wird, der wird sauer und verliert die Konzentration.
Der Professor der Geschichte lehrte medizinische Psychologie. Es handelte sich, Sie ahnen es, um den Autor selbst. Damals ließ ich meine Studenten alle psychologischen Tests selbst durchführen, die sie später mit ihren Patienten machen würden: solche zur Messung einer Depression, zur Feststellung des IQ und der Persönlichkeitsmerkmale. Die Tests hatten ein äußerst verblüffendes Resultat: Ein Drittel meiner Studenten war im klinischen Sinne depressiv. Sie brauchten im Grunde ärztliche Hilfe. Eine Erklärung mag der Kulturschock gewesen sein, den sie durch den Übertritt von Schule zur Uni erlebten. In der Schulzeit waren sie herausragend gewesen, gehörten zu den Besten der Klasse. Und nun, da sie mit ihrem guten Abi-Durchschnitt ein Studium mit einem anspruchsvollen Numerus Clausus belegen konnten, gingen sie plötzlich in der Masse unter.
Sport ist das beste antidepressive Mittel überhaupt, das hat gerade erst wieder eine Vier-Jahres-Studie aus Dallas gezeigt, die im Journal of Clinical Psychiatry erschienen ist. Sport hilft gegen schwere Depressionen genauso effektiv wie eine medikamentöse Behandlung. Viele Leute bevorzugen Sport als Therapie, vor allem weil Bewegung nachweislich Gesundheit und Wohlbefinden fördert. Mit Urs Zondler, dem damaligen Betreiber des Bavarian Squash-Center, habe ich deshalb einen Rabatt für meine Studenten ausgehandelt, für nur vier Mark konnten sie einen ganzen Vormittag trainieren und den Hörsaal schwänzen.
Ich selbst hatte fünf Jahre zuvor mit Squash begonnen, und um auch meine Studenten zu aktivieren, versprach ich ihnen das schon erwähnte erlassene Examen – rechtlich nicht ganz unbedenklich, ich gebe es zu. Zufällig führte ich zu dieser Zeit Messungen von Reaktionszeiten durch. So stellten wir damals etwa fest, dass akustische Signale 30 bis 40 Millisekunden schneller im Bewusstsein ankommen als optische Signale. Der Grund hierfür liegt in den unterschiedlichen Verarbeitungsmechanismen von optischen und akustischen Signalen. Und trotzdem verwischt dieser Unterschied im Gehirn. Warum? Die Grenze der zeitlichen Auflösung im Gehirn liegt bei 30 bis 40 Millisekunden. Alles, was innerhalb dieser Zeit an Signalen eintrifft, wird deshalb als gleichzeitig erkannt. Die Ungenauigkeit ist ein großer Vorteil für die Übersichtlichkeit. Denn so kann das Gehirn Verbindungen zwischen den vermeintlich gleichzeitig eintreffenden Informationen herstellen. Ansonsten würde es in Einzelinformationen ertrinken.
Im Rahmen dieser Reaktionszeitenmessung haben wir unter anderem Squashspieler untersucht, auch die weltbesten. Einer davon war der Australier Geoff Hunt, der damalige Weltmeister, der, so besagten es unsere Testergebnisse, im Millisekundenbereich deutlich langsamer reagierte als der Pakistani Jahangir Khan, auch einer der Weltbesten. Aber auch wenn Geoff Hunt nicht der Schnellste war, so war er doch der Präziseste. Er konnte im Labor mit einer Varianz von zwei Millisekunden auf akustische Reize reagieren – so lange dauert gerade mal das Aktionspotenzial einer Nervenzelle. Hunt spielte präzise wie eine Maschine, ein fast übermenschliches Phänomen. Präzision ist im Squash mindestens genauso wichtig wie Schnelligkeit. Und da auch ich die angeborene Fähigkeit zum präzisen Spiel besitze und diese mit dem Alter nicht verloren geht, sah ich hier einen Vorteil gegenüber den schnelleren Studenten. Ich wechselte zunächst einmal klassisch von hohen und kurzen Bällen, um das Spiel zu verlangsamen. Hierauf aufbauend überlegte ich mir ein paar Tricks aus der Psychologie, um meine Gegner zu verwirren und zu verunsichern, sie zu Leichtsinn und aggressiver Spielweise zu verführen. Heute ist diese Art von psychologischem „Matchplan“, wie es Thomas Tuchel, der Trainer des Bundesligisten FSV Mainz 05, ausdrückt, eher normal. Damals habe ich es als kreativ empfunden, meine armen Studenten mit Tricks zu besiegen, die mir als Psychologe vertraut waren, ihnen aber nicht.
Mir war nach den Labortests zudem klar, dass man beim Squash nicht nur nach dem Ball schauen, sondern auch nach ihm hören muss. Wie schon angemerkt, verarbeitet das Gehirn akustische Reize schneller als optische. Also gewinnt man einen Vorteil, wenn man sich auch auf die Töne konzentriert. Von denen kommen beim Ballwechsel einige zustande: der Aufschlagston am Schläger und der Aufprallton an der Stirnwand. Daraus lässt sich, zusammen mit den optischen Signalen, die Flugbahn des Balles berechnen und ein winziger zeitlicher Vorteil herausschlagen. Der ist wichtig, um rechtzeitig dort zu sein, wo der Ball aufkommen wird.
Doch alle Überlegungen zu psychologischen Tricks und schneller verarbeiteten akustischen Signalen hätten kein erfolgreich bestrittenes Spiel herbeiführen können, wenn ich mich nicht getraut hätte. Ohne den Mut und die Gelassenheit, sich den Jüngeren zu stellen und die sportliche Niederlage einzukalkulieren, hätte sich die Kreativität in der Spielgestaltung nicht ausgezahlt. Ohne den Mut, sie umzusetzen, ist die Idee leider nichts wert ist. Was aber ist eigentlich „Mut“? Es ist die Fähigkeit, in einer gefährlichen, riskanten oder auch nur herausfordernden Situation seine Angst oder seinen inneren Widerstand zu überwinden. Auch die grundsätzliche Bereitschaft, angesichts von zu erwartenden Nachteilen das zu tun, was man für richtig hält, wird als mutig bezeichnet. Hormonell gesehen erfordert mutiges Handeln einen Anstieg des Testosteron- und ein Sinken des Cortisolspiegels. Doch Mut ist nicht einfach nur ein Drauflosstürmen, sondern setzt Risikobewusstsein voraus. Man wägt die Risiken und die Vorteile gegeneinander ab und antizipiert den erfolgreichen Ausgang. Der wird dann mit einem Dopaminausstoß eingeleitet, was sich als ein Gefühl der Belohnung und der Befreiung bemerkbar macht.
Deswegen ist es auch wenig erfolgversprechend, wenn man im stillen Kämmerlein kreative Ideen ausbrütet und sich damit nicht nach draußen traut. Eine kreative Leistung hat auch etwas von einer Selbstoffenbarung, dazu gehört Mut. Man zeigt etwas, das in einem schlummert, es wird nicht nur die Leistung bewertet, sondern immer auch die Persönlichkeit. Mut und Kreativität bilden eine wichtige partnerschaftliche Koalition, um größere und kleinere Ziele zu verfolgen.
Mut hat zum Beispiel Christa Maar aufgebracht, als sie sich traute, öffentlich über Darmkrebs zu sprechen, als das Thema noch streng tabuisiert war, womit sie bereits vielen Menschen das Leben gerettet hat. Mut war auch die Eigenschaft, die bei Maria Reinisch herausstach, als sie sich mit uns über Kreativität unterhielt. Sie wagte sich an die Spitze des Marketings in einem von Männern dominierten Weltkonzern, um dort nicht nur kreativ zu sein, sondern Entscheidungen auch mutig umzusetzen.