Teil 3
Vier Milliarden Jahre Kreativität

Lebens- und Erlebensprinzipien

Menschen sind zur Kreativität geboren; Kreativität ist ein Teil unserer Natur. Doch wie ist Kreativität überhaupt möglich? Welche Prinzipien stecken dahinter? Um eine Antwort zu erhalten, ist es notwendig, in der Geschichte zurückzugehen, und zwar nicht nur einige Tausend Jahre in der Kulturgeschichte, sondern einige Milliarden Jahre in der biologische Geschichte. Natürlich ist auch die kulturelle Geschichte wichtig, doch unsere biologische Geschichte gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die kulturelle Geschichte überhaupt erst entfalten konnte.

Vor etwa vier Milliarden Jahren wurde das Leben erfunden, zumindest auf der Erde. Ob es woanders Leben gibt, wissen wir nicht. Wenn es so wäre, warum wissen wir nichts davon? Verstecken sich alle vor uns, oder sind wir vielleicht wirklich einmalig? Wenn man sagt, das Leben wurde erfunden, ist dann „erfinden“ überhaupt das richtige Wort? Ist das Leben nicht vielleicht „entdeckt“ worden, war also immer schon irgendwie vorhanden, nach einem geheimnisvollen Plan, den wir nicht kennen und der nur auf seine Erfüllung wartete, darauf, dass die notwendigen Bedingungen in der Umwelt gegeben wären? Oder wurde Leben aus dem Nichts „geschaffen“, auf der Grundlage einer „höheren“ Absicht, und wer war dann der Schöpfer? Für Gläubige in manchen Religionen erledigt sich diese Frage von selbst, ist also gar keine Frage. Doch was meint der Naturforscher ohne ein solches zuverlässiges Netz des Glaubens? Wie dieser erste Schritt geschehen konnte, was die treibende Kraft dahinter war, dies bleibt zumindest für mich das größte Rätsel. Wie war es möglich, dass aus leblosen chemischen Bausteinen etwas entstand, das wir „Leben“ nennen und das die Grundlage unseres „Er-Lebens“ bildet?

Es waren einzellige Organismen, die in die Welt hineintraten und die unerhört erfolgreich waren: Sie schufen die Atmosphäre, die Luft, die wir atmen. Die ersten Lebensformen haben erst die Natur geschaffen, die für uns so selbstverständlich geworden ist. Fragt man sich, wie diese einfachsten Lebewesen aufgebaut waren (und immer noch sind), dann stellt man etwas Bemerkenswertes fest: Von Anbeginn des Lebens sind Organismen durch Funktionen gekennzeichnet, die für alle Lebewesen gelten, also auch für die weiterentwickelten, die mit Gehirnen ausgestattet sind, also auch für uns. Wenn man es genau nimmt, dann sind nur wenige Funktionen im Laufe der Evolution hinzugekommen, auch wenn dies uns vielleicht in unserem Stolz kränkt. Die Prinzipien des Lebens und auch des Erlebens sind mehrere Milliarden Jahre alt.

Auf abstrakter Ebene kann man eine Zelle, einen einzelligen Organismus, als einen umschlossenen Raum betrachten, in dem Zeit gleichsam „eingefroren“ ist. Denn was ist eigentlich die Erbsubstanz? Sie besteht aus chemischen Verbindungen, die Zustände von früher für später festhalten, also im übertragenen Sinn „einfrieren“. In der Erbsubstanz wird etwas festgelegt und aufbewahrt, was in Zukunft benötigt werden könnte.

Nebenbei bemerkt: Damit beweist Mutter Natur, dass es „Zeit“ gibt, denn sie plant für die Zukunft; Überlegungen, dass es die „Zeit“ vielleicht gar nicht geben mag, sind also biologisch widerlegt oder sie gehören zu einem Gedankengerüst, das zumindest biologisch irrelevant ist.

Damit dies geschehen kann, damit etwas bewahrt werden kann, muss ein eigener Raum geschaffen werden, der sich heraushebt aus dem sonst überall wirkenden Zerfall. Zellen haben deshalb eine Membran. Sie stellt sicher, dass die chemischen Abläufe innerhalb der Zelle nicht mehr den Gesetzen des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik unterliegen, dass also alles zerfällt und vergeht. Die Membran schafft einen neuen Raum, aber sie schafft kein abgeschlossenes System, denn sie ist in beiden Richtungen für bestimmte Stoffe und vor allem für Information durchlässig. Mit dem Entstehen von Zellen, mit dem Beginn des Lebens auf der Erde, geschieht etwas völlig Neues: Es findet eine Befreiung statt von der Auslieferung an den Zerfall und den Verfall in der Welt; lebende Organismen schützen sich durch ihre Struktur davor, in ein ungeordnetes Gleichgewicht zu zerfließen.

Um ihr Ziel zu erreichen, nämlich ein geordnetes Gleichgewicht zu schaffen, eine Homöostase aufrechtzuerhalten, sind Lebewesen mit Fähigkeiten ausgestattet, die es bereits seit Anbeginn des Lebens gibt. Die Panzeralge Gonyaulax polyedra etwa, ein winziger Organismus, der im Meer zu Hause ist und für das Meeresleuchten verantwortlich ist, hat bereits Wahrnehmungen. Die einzelligen Lebewesen können mit bestimmten chemischen Verbindungen in ihrer Zellmembran verschiedene Wellenlängen im elektromagnetischen Spektrum unterscheiden – sie können also „sehen“. Und sie können sich wie viele andere bewegen, um Orte aufzusuchen, die für die Regulation ihrer Lebensprozesse besonders günstig sind. Damit ist ein Grundmotiv des Lebens überhaupt angesprochen, nämlich sich immer dorthin zu bewegen, wo die Lebensbedingungen optimal sind. Ohne zielorientierte Bewegung ist eine solche Ortsverlagerung nicht möglich, doch will man sich bewegen, muss man hierfür mit den notwendigen Strukturen ausgestattet sein, seien es Beine oder – am Anfang der Evolution – die Cilien, die auch wir Menschen noch besitzen: die Spermien, die sich zu dem zu befruchtenden Ei hin bewegen. Um ein Ziel zu erreichen, muss das einzellige Lebewesen, im Grunde aber jedes Lebewesen, vorher den jetzigen Zustand bewerten. Nur wenn klar ist, wo ich bin, kann bestimmt werden, wohin ich will. Und damit sind wir bei einem weiteren Grundprinzip des Lebens, der Bewertung nämlich.

Damit etwas bewertet werden kann, muss eine weitere Operation eingesetzt werden: Es muss ein Vergleich zwischen verschiedenen organismischen Zuständen vorgenommen werden. Um jedoch etwas vergleichen zu können, muss etwas verfügbar sein, das verglichen werden kann. Dieses Etwas sind funktionelle Zustände. Nur wenn ein Zustand bestimmt ist, kann dieser mit einem anderen in Beziehung gesetzt werden, was dann erst den Vergleich ermöglicht. Dieses Herstellen und Nutzen einer Relation gilt jedoch nur für einen bestimmten Zeitraum. Jeder Organismus hat ein für ihn typisches „Zeitfenster“, es ist also für einen Einzeller vermutlich anders als für den Menschen. Wie groß dieses Zeitfenster jeweils ist, dies ist eine empirische Frage, mit der sich Forscher zu beschäftigen haben; bei Menschen sind es oft nur wenige Sekunden, die für Vergleiche genutzt werden, um zu einem angemessenen Urteil zu kommen. Solche schnellen Entscheidungen trifft zum Beispiel jeder, der beim Fernsehen durch die Kanäle „zappt“ und innerhalb von drei Sekunden weiß, was er nicht anschauen will.

Was auch erstaunen mag, ist die Tatsache, dass viele einzellige Lebewesen bereits durch Sozialverhalten gekennzeichnet sind. Abhängig von Bedingungen der Umwelt schließen sie sich zu Verbünden zusammen und lösen diese wieder auf. Sie bilden dabei Muster, die wir mit unserem Blick als ästhetisch empfinden. Allein dies könnte uns beunruhigen, dass die Grundlagen des ästhetischen Sinns vielleicht auch schon ein paar Milliarden Jahre alt sind. Auch dieses spricht für die Einheit der Natur, der wir angehören, und der wir nicht entfliehen können und schon gar nicht sollten.

Somit lässt sich festhalten: Innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters findet ein Vergleich statt, damit eine Bewertung vorgenommen werden kann, die die Grundlage dafür ist, sich dorthin zu bewegen, wo die Bedingungen vermutlich optimal sind, auf jeden Fall aber besser. Um die Bedingungen zu kennen, müssen die Ergebnisse der Wahrnehmung genutzt werden, und zwar im Rahmen einer Kontrollfunktion: Bereits die einfachsten Lebensformen müssen antizipieren können, ob eine Bewegung hin zu einem bestimmten anderen Ort besser wäre, als am aktuellen Ort zu bleiben. Wir können also bei der Analyse von Prinzipien des Lebens nicht davon ausgehen, dass die einfachsten Lebensformen nur reaktive Wesen sind. Zielgerichtetes Bewegen (oder Handeln), Bewerten auf der Grundlage gespeicherter und in einem Gegenwartsfenster aufgenommener Information, Wahrnehmen also, einen Zustand in seiner Identität bestimmen und für eine gewisse Zeit festhalten, dies alles in einem umschlossenen Raum, den man „Zelle“ nennen kann, sind Grundoperationen von Organismen, die seit Anbeginn der Zeiten gelten, seit es also überhaupt Leben auf dieser Erde gibt.

Es ist nun bemerkenswert, dass diese Prinzipien, die den Lebenserfolg der einzelligen Organismen garantierten, in der Evolution von Organismen mit Gehirnen noch einmal erfunden wurden. Vor etwa 700 Millionen Jahren schlossen sich einzellige Organismen zu mehrzelligen Verbünden zusammen, und es entstanden mehrzellige Organismen. Damit diese als Ganzes funktionierten, mussten mehrzellige Organismen ein Informationssystem aufbauen. Diese Notwendigkeit für Informationssysteme ist der Grund für die Entwicklung von Nervensystemen oder Gehirnen. Sie sind erforderlich geworden, um einzelne Zellen, die mit CAMs (cell adhesion molecules) gleichsam verklebt wurden, miteinander kommunizieren zu lassen, sodass sich der Organismus als Ganzes bewegen oder handeln kann.

Es begann die unglaubliche und sich immer mehr beschleunigende Entwicklung neuen Lebens, angetrieben vor allem durch die sexuelle Fortpflanzung mehrzelliger Organismen. Diese Entwicklung erfolgte parallel zur weiteren Entfaltung des Lebens bei einzelligen Organismen, die auch heute noch die Welt beherrschen. Lebewesen mit Gehirnen machen, was die Biomasse auf der Erde betrifft, nur einen kleinen Bruchteil aus. Wir sind in der Minderzahl. Das Erstaunliche ist nun, dass in diesen Organismen mit höherer und vor allem anderer Komplexität dieselben Prozesse der Informationsverarbeitung noch einmal erfunden wurden.

Machen wir den Sprung vom Einzeller zum Menschen, wobei uns das Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“ von Erich Kästner zunächst einmal Orientierung geben mag:

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt,

bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.

Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.

Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.

Die Erde ist ein gebildeter Stern

mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.

Sie jagen und züchten Mikroben.

Sie versehn die Natur mit allem Komfort.

Sie fliegen steil in den Himmel empor

und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übrig läßt,

das verarbeiten sie zu Watte.

Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.

Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,

daß Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

Wir tragen das evolutionäre Erbe immer noch mit uns, und wir haben wenig zusätzlich mit auf den Lebensweg bekommen, das uns über andere Lebewesen erhöhen könnte. Wir sehen und hören wie sie; wir haben über unsere Sinnesorgane Zugang zur Welt um uns, genau wie sie. Es haben sich in uns und für uns Bewertungssysteme entwickelt, die wir Gefühle nennen. Wir bilden Kategorien, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, damit wir Vergleiche vornehmen können. Vergleichen zu können ist die Grundlage von mentalen Prozessen, des Denkens, überhaupt. Alle diese Operationen dienen wiederum dazu, die Homöostase sicherzustellen, unser inneres Gleichgewicht.

Auch die sogenannten „höheren“ Funktionen, die komplexen Denkfunktionen, dienen letzten Endes nur dem Erhalt des homöostatischen Gleichgewichts – auch wenn wir das Denken als Freiheit und die Freude des Denkens erleben und wie die Welt um uns durch das Denken einen Sinn bekommt. Die grundlegenden Operationen des Lebendigen haben sich entwickelt, damit wir unser Gleichgewicht aufrechterhalten können.

Das Entscheidende aber ist: Lebensprinzipien sind Erlebensprinzipien. Für die genannten Operationen und Prinzipien des Lebendigen verwenden wir aus psychologischer Sicht solche Begriffe wie „Wahrnehmung“, „Gefühl“, „Absicht“, „Erinnerung“. Mit diesen Begriffen beziehen wir uns auf mentale Sachverhalte, die wir üblicherweise mit Bewusstsein in Verbindung bringen – doch diese Sachverhalte lassen sich auf biologische Prinzipien zurückführen.

Damit wir fühlen, Absichten haben und uns erinnern können, ist eine kontinuierliche Informationsverarbeitung, insbesondere Wahrnehmung, notwendig. Die fortlaufende Aufnahme und Verarbeitung von Information stellt für den Organismus den Bezug zur Welt sicher. Durch ununterbrochene Aufnahme von Information über die Sinneszellen, über die „Antennen“, die in die Welt ragen, wird ein Bezug zur Realität sichergestellt; wir sind über sinnliche Informationen an die Welt um uns gekoppelt, die wir dann wahrnehmen und interpretieren. Kontinuierliches Wahrnehmen von Innenzuständen und von Außenereignissen ist schon in die einzelligen Organismen hineinprogrammiert. Jeder lebende Organismus, alles Lebendige, ist derart strukturiert, dass er seinen Innenzustand mit der von außen kommenden Information abgleicht; auch im Schlaf wird dieser Abgleich nur marginal unterbrochen.

Nun geschah etwas Ungewöhnliches in der Evolution, das insbesondere auch den Menschen betrifft: Es wurde die Außenperspektive entdeckt. Es treten Lebewesen in die Welt wie wir Menschen, die bemerken, dass sie etwas bemerken können, denen also etwas bewusst werden kann und die gleichzeitig wissen, dass ihnen etwas bewusst werden kann. Sie entdecken, dass sie sehen können, und damit, dass auch andere sehen oder hören, sich etwas wünschen oder sich an etwas erinnern können. Man kann sich in andere hineinversetzen und sich selbst beobachten. Wenn man aber eine Außenperspektive zu sich selbst einnehmen kann, dann ist es auch möglich, gemeinsam über etwas zu sprechen, gemeinsam etwas zu betrachten, weil beide einen Referenzpunkt außerhalb ihrer selbst einnehmen können. Man kann die eigene Perspektive mit der anderer vergleichen; man kann das Gleiche und das Verschiedene an anderen erkennen.

Dies ist ein großartiger Fortschritt, und doch ist die Fähigkeit, eine Außenperspektive zu sich selbst einnehmen zu können, gleichzeitig die Wurzel allen Übels. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie leicht verlieren wir unsere Spontaneität und unseren empathischen Bezug zu anderen, wenn stets alles reflektiert wird und wir uns andauernd auf die Ebene der Abstraktion begeben. Der Dichter Hans Adler beschreibt das in einem Sonett so:

Wie glücklich sind die Tiere auf der Weide!

Ein Stier sieht eine junge blonde Kuh,

Sie schwenkt kokett den Schweif, er springt hinzu

Und selig durch die Liebe werden beide,

Denn kein Bedenken stört ihr Rendezvous.

Der Mensch jedoch in seinem Liebesleide

Durchforscht betroffen Hirn und Eingeweide

Nach dem Rezept zu dem Gefühlsragout.

Er zwängt sich mühsam durch ein dichtes Netz

Beachtenswerter Gegenargumente,

Philosophiert bis an den Rand des Betts

Und denkt im physiologischen Momente

Noch an den Arzt und an das Strafgesetz

Und an die etwaigen Alimente.