Ich kann viel erklären, aber das wäre einfach falsch

Ein Gespräch mit Igor Sacharow-Ross

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Das Atelier befindet sich einem neoklassizistischen Haus in Köln-Ostheim mit hohen hellen Räumen und weiten Hallen, ehemals war hier ein Umspannungswerk für Straßenbahnen untergebracht. Den Künstler Igor Sacharow-Ross zu besuchen ist eine Freude für die Sinne. Gerade hat er mit Pflanzenextrakten herumexperimentiert, es liegt ein eigentümlicher Duft in der Luft. „Huflattich“, erklärt er. Die Wände sind bis unter die Decke mit seinen Kunstwerken vollgehängt. Der Boden: ein Labyrinth aus Abertausenden von Exponaten. Er bietet an, etwas zu kochen, mindestens einen starken russischen Kaffee. Dann gerät er ins Reden, über seine Vergangenheit in Sibirien, über Kreativität, darüber, was er mit der Kunst ausdrücken will, er zeigt ein Werk nach dem anderen – und gleich, nein, jetzt sofort werde er den Kaffee kochen. Nach einer Stunde ist es dann tatsächlich so weit: Dampfende Tassen und russisches Gebäck stehen vor uns, außerdem eine Flasche Wodka, ausgewählt aus mindestens 50 Sorten. Das Gespräch mit einem der kreativsten und interessantesten Künstler der Gegenwart wird kurzweilig. Hier ein Auszug.

Wagner: Du bist in der sibirischen Verbannung geboren und aufgewachsen, in Chabarowsk, nahe der chinesischen Grenze. Welchen Einfluss hat das auf deine heutige Kreativität?

Sacharow-Ross: Großen Einfluss, denn ich habe oft schon als kleines Kind Zuflucht in der Taiga gesucht. Die Erlebnisse in der Natur waren für uns ungefährlicher als die Menschen. In der Taiga gab es so viele Geräusche, überall lagen sie in der Luft, erzeugt von Tieren und dem Wind, eine Rhythmik. Und dann bin ich dort oft schamanischen Ritualen begegnet und sibirischen Nomaden, die um das Feuer tanzten. Immer war die Trommel im Einsatz. Diese Eindrücke haben in mir eine formale Spur hinterlassen. Meine ersten Kompositionsversuche begannen mit Klavier und Trommel.

Wagner: Du bist aber kein Komponist geworden, sondern bildender Künstler.

Sacharow-Ross: Als Sohn von Verbannten hatte ich keine Chance, auf das Konservatorium zu gelangen. Deswegen fing ich an, die Taiga zu visualisieren, die lichtgeladene Atmosphäre, die dort selbst bei Nacht oder im Schnee und Regen herrscht. Aber wie sollte ich mit dieser Vielfalt konkurrieren? Die erste Hilfe erfuhr ich von einem Juden im Exil, den ich oft heimlich besuchte und der einige verbotene Bücher über Kunst besaß. Einmal habe ich meine Uhr, eines meiner wenigen Besitztümer, gegen ein Buch – „Das futuristische Manifest“ von Marinetti – getauscht, so sehr dürstete mich nach dem Wissen der anderen. Schließlich durfte ich an der Uni Chabarowsk Kunst studieren und habe entdeckt, wie man sich mit Feuer und Erde, einem Baumblatt und Gras, mit Wasser und Holzkohle ausdrückt. Das alles findet sich heute in meinen Werken wieder.

Wagner: Kannst du erklären, wie sich Kreativität in dir abspielt?

Sacharow-Ross: Das ist mit dem Verstand nicht zu begreifen. Du wirst mich jetzt wahrscheinlich für verrückt erklären: Ich meine, einen Schöpfer, den Generator dieser ganzen wundervollen Natur zu spüren. Meine Kunstwerke sind intuitive Versuche, eine Verbindung zu diesem Schöpfer herzustellen. Deswegen sind mir materielle Güter und Sicherheiten nicht wichtig, ganz im Gegenteil. Wenn man sich in seinem Bereich zu sehr einrichtet, Besitztümer anhäuft, einen Bausparvertrag abbezahlt, wird man konform. Ich bekomme Luftnot dabei, weil das alles mir den Kontakt zum Schöpfer verstellt.

Wagner: Du bist doch nicht religiös?

Sacharow-Ross: Nicht im üblichen Sinne, aber ich spüre, dass rechts und links meines Lebensweges noch etwas anderes liegt. Der enge Korridor der langen Hoffnung, wie Horaz ihn in einer Ode beschreibt, ist für mich eine Metapher für das Leben. Der Korridor ist dunkel, aber außen ist Licht, für die meisten verborgen. Das Licht erahne ich gelegentlich – und ich will mehr davon.

Die Azteken hatten ein schönes Bild für das, was ich spüre und nicht mit Worten erklären kann. Sie meinten, dass sie ihr Leben aus der Milchstraße gewonnen haben. Und manchmal finden wir den Kontakt zu den Sternen, zum Licht, zum Universum. Mir gelingt das nur, wenn ich Ballast abwerfe und sozusagen frei nach oben schwebe. Dann kommuniziere ich mit dem Schöpfer.

Wagner: Und wie kommst du dann vom ahnungsvollen Verstehen zum Kunstwerk?

Sacharow-Ross: Nachdem die Taiga mir die Augen für die Natur geöffnet hatte, entstanden in mir auch Wut und Ärger über die Menschen, die ignorant und blind sind, die Natur missachten, zerstören und knechten. Daraus entsteht in mir noch immer das Verlangen, das Leben und seine Energien so auszudrücken, dass auch in anderen Menschen ein Gefühl für die Natur entsteht. Die Werkzeuge dafür bilden sich aus verschiedenen zufälligen Erlebnissen, wozu auch Gespräche mit Wissenschaftlern gehören. Ich versuche in allem, was ich mache, Zusammenhänge herzustellen, zwischen den Menschen und den Zeiten, verschiedenen Orten, zur Natur, zur Kultur, zum Schöpfer. All diesen Eindrücken entspringen kleine „Rohdaten“, die ich auf Notizzetteln festhalte. Daraus entsteht dann das, was ich ausdrücken will, zum Beispiel der Satz „Graphit sind zusammengepresste Jahrtausende organischen Lebens, die von den Energien des Urbewusstseins durchdrungen sind“. Dann startet wieder ein Prozess, in dem die Aussage umgesetzt wird. Und dann kommt der Moment, wo ich einfach handeln muss. Das Werk entsteht, verändert sich, ist ein Prozess. Und irgendwann beschließe ich, es freizugeben und eine Ausstellung zu finden.

Wagner: Was ist dann aus dem Satz vorhin entstanden?

Sacharow-Ross: Ein Graphitspiegel, der Betrachter sieht sich selbst in einer polierten Fläche, vor dem Hintergrund seiner Urvergangenheit. Nie ist das Bild wichtig, sondern immer das, was im Betrachter entsteht. Aber wenn ich ganz ehrlich bin: Eigentlich kann ich überhaupt nicht erklären, was ich tue. Ich kann viel erzählen, aber das wäre falsch. Wenn ich die Zwischenzone erreiche, dort wo sich der Zugang zur Kreativität befindet, dann weiß ich nicht, wie ich dahin gelangt bin und was geschieht. Vielleicht ist ein Werk die Essenz von vielen Eindrücken und Überlegungen, von vielen Kritzeleien, von vielen Notizen. Auf jeden Fall braucht man Mut, durch neue Türen zu gehen, die man nicht kennt, und Mut, nach einem Scheitern wieder aufzustehen.