Die Gnade des Vergessens

Warum Vergessen zur Kreativität gehört

Jeder versucht, sich vor dem Vergessen zu schützen. Dabei ist dies eine der bestgelungenen Funktionen des Gehirns. Doch will man kreativ sein und ausgewogen leben, kommt man um das Vergessen nicht herum. Ansonsten erginge es einem wie den Savants, die in gemerkten Einzelheiten förmlich ersticken.

Sie schauen eine Stadt einmal vom Hubschrauber aus an und können sie dann in wochenlanger Fleißarbeit nachzeichnen, mit allen Details. Sie verschlingen Telefonbücher wie andere Leute einen Roman von Stephen King und wissen hinterher alles. Sie können den Wochentag jedes x-beliebigen Datums in der Vergangenheit und in der Zukunft berechnen, in Sekundenschnelle. All das sind Fähigkeiten von Savants, Inselbegabten. Der Brite Stephen Wiltshire ist einer davon. Gebäude, Städte, Landschaften – nichts ist vor ihm sicher, alles wird gezeichnet. Der 1974 geborene Wiltshire hat ein außergewöhnliches Talent dazu, detailgetreu die komplexesten visuellen Eindrücke nachzuzeichnen. Berühmt geworden sind seine Stadtbilder, etwa von Tokio, Rom, Hongkong, Frankfurt, Madrid, Dubai, Jerusalem, London und New York, gezeichnet auf gigantischen Leinwänden. Während eines einzigen Hubschrauber-Rundflugs speichert sein Gehirn die Einzelheiten, die er dann mit fließenden Bewegungen wie im Rausch in einem großformatigen Panoramabild nachzeichnet. Er vergisst keine einzige. Aber ist er deshalb wirklich kreativ, wie es der australische Kreativ-Guru Allan Snyder behauptet?

Und wie ist es mit Kim Peek, einem US-Amerikaner aus Salt Lake City? Er war das Vorbild für den hochbegabten Raymond Babbitt in dem Film „Rain Man“. Sein enormes Erinnerungsvermögen fiel mit etwa zwölf Jahren auf, als er das Weihnachtsevangelium, kurz zuvor einmal gehört, Wort für Wort genau wiedergab. Im Laufe seines Lebens lernte er 12000 Bücher auswendig. Seine Lesemethode war eine ganz spezielle, die normalerweise nicht funktioniert: Er las mit dem rechten Auge die rechte Seite eines Buches und mit dem linken Auge die linke Seite. Üblicherweise können Menschen immer nur einen Bewusstseinsinhalt gleichzeitig einnehmen. Sie können sich also immer nur auf eine Sache ganz konzentrieren und anderes bestenfalls automatisiert nebenher erledigen. Kim Peeks Gehirn hatte allerdings eine Besonderheit: Die Verbindungen zwischen den Großhirnhälften (Corpus callosum) waren schwach ausgeprägt. Wohl deswegen war es in so hohem Maße multitaskingfähig.

Aber das erklärt noch nicht alle seine Begabungen. So benötigte er nur acht Sekunden, um zwei Buchseiten mit seiner Methode zu lesen. Geschichtsdaten, die Telefonvorwahlen der USA, Straßennetze aller Staaten hatte er auf diese Weise eingespeichert. Auch an alle Melodien, die er einmal gehört hatte, erinnerte sich „Kim-Puter“. Daneben beherrschte er das Kalenderrechnen: Ohne es im Kalender nachzuschlagen, wusste er bei jedem Datum innerhalb von Sekunden, auf welchen Wochentag es fiel.

In den vorangegangenen Kapiteln haben wir unter anderem dargestellt, dass kreative Prozesse von unserem Wissen ausgehen und unsere Wissensinhalte neu kombinieren. Aber war Kim Peek kreativ? Weil er sich alles merkte und nichts vergaß, konnte er sich kaum für eine Handlung entscheiden. Alle Möglichkeiten mussten zuvor durchdacht werden. So war er nicht einmal fähig, sich ein Spiegelei zu braten, geschweige denn, alleine zu leben. Um kreativ zu sein, muss man sich aber entscheiden können, muss man handlungsfähig sein.

Bis zum Alter von zehn Jahren war der 1969 geborene Orlando Serrell aus Virginia ein ganz normaler Junge. Dann aber wurde er von einem Baseball an der linken Schläfe getroffen und verlor das Bewusstsein. Als er kurze Zeit danach wieder aufwachte, schien zunächst alles wie immer zu sein. Doch ein Jahr später fiel dem Jungen auf, dass er sich an jede Einzelheit seit dem Tag des Unfalls erinnern konnte. Und diese Fähigkeit hält bis heute an. Zu jedem x-beliebigen Datum kann er den Wochentag, das Wetter, die Ereignisse nennen, auch was er davor und danach getan hat, sogar Einzelheiten der Kleidung von allen Personen, die ihm begegnet sind. In allen nachprüfbaren Fakten hat sich Serrell noch nie geirrt. Er weiß es einfach, ohne darüber nachzudenken. Und trotzdem ist aus ihm kein begnadeter Wissenschaftler geworden, sondern ein Hausmeister bei einer Supermarktkette.

Was wir uns einprägen, ist normalerweise einer Vergessenskurve unterworfen. Zunächst ist das Wissen noch frisch und gegenwärtig. Nach einiger Zeit verblasst die Erinnerung jedoch. Unwichtige Ereignisse oder nicht wiederholte Fakten werden vergessen. Wie flach oder steil die Vergessenskurve ist, hängt unter anderem vom Lernstoff ab und davon, ob sich Anknüpfungspunkte im Gehirn befinden. Ein weiterer Faktor ist, wie trainiert das Gehirn des jeweiligen Individuums im Lernen ist.

Anders ist es mit dem „kreativen Vergessen“, das kein Nachteil, sondern eine sinnvolle Eigenschaft unseres Gehirns ist. Wir vergessen kreativ, um uns vor Informationsmüll zu schützen. Dieser Vorgang ist zum Denken notwendig. Sigmund Freud bezeichnete Denken als Probehandeln. Alle Informationen, die bei der Probehandlung nicht zum Ziel führen, müssen nicht weiter bedacht und können verworfen werden.

Wir werden permanent von unglaublich vielen Informationen überschwemmt. Die allermeisten davon gelangen nicht in unser Bewusstsein. Die Auswahl dessen, was in unser Bewusstsein kommt und was nicht, wird vom antizipierten Ziel bestimmt. Dabei muss einem das Ziel selbst noch gar nicht oder nur teilweise bewusst sein. Auch das Auswählen und Verwerfen von Informationen ist kein bewusster Vorgang. Doch man hat zumeist eine Ahnung von dem, worauf man zusteuern möchte, welche die Auswahl der Informationen bestimmt. Das geht etwa Schriftstellern so, wenn sie einen längeren Text oder einen Roman schreiben. In einem schwer zu definierenden Zustand zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, bei dem man aber ganz bei der Sache ist, formiert sich das Ziel, bahnen sich Wege, werden Informationen verwertet. Deswegen ist es in dieser Phase auch besonders destruktiv, wenn man sich nicht konzentrieren kann und dauernd abgelenkt wird. Mathematikern mag es ähnlich gehen, wenn sie dabei sind, eine Beweisführung aufzustellen. Auch Naturwissenschaftler ahnen oft die Lösung für ein Problem, auch wenn sie noch nicht wissen, wie sie zu erreichen ist.

Das kreative Vergessen und das Suchen nach der schon geahnten Lösung sind zwei Prozesse, die sich gegenseitig bedingen. Man könnte dafür am besten das Dürersche Bild von den beiden Händen verwenden, die sich gegenseitig zeichnen. Aber auch Einfälle sind einer Gesetzmäßigkeit unterworfen. Wenn man gerade träge ist oder depressiv, ist der Geist zu wenig aktiviert und es fällt einem nichts ein. Wenn man etwa in einer Prüfungssituation Angst hat und dadurch überaktiviert ist, wird die Leistungsfähigkeit stark vermindert – es fällt einem nichts mehr ein. Auch in Gesprächssituationen, in denen man unbedingt etwas erreichen will, lassen die Einfälle oft auf sich warten. Denn mit großer Zielorientierung wird jeder Einfall sofort daraufhin überprüft, ob er brauchbar ist, und man verschließt die Augen vor dem zufällig eintretenden Einfall. Selbst wenn er ins Bewusstsein gebracht wurde, ist zudem nicht jeder Einfall es wert, aufgegriffen und weiterverarbeitet zu werden. Auch das Weglassen ist kreativ. Darüber unterhalten wir uns bei einem Treffen mit dem Dichter Hans Magnus Enzensberger.