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Zwei Stunden später erwachte Alices Mutter. Vater und Tochter atmeten erleichtert auf, als sie
sahen, wie die Lider von Alices Mutter zuerst zuckten und sich dann öffneten.
"Liebes, wie geht es dir? Wie gut, dass du wieder wach bist, Liebes", die Stimme von Alices Vater
drohte zu versagen. Die Tränen liefen jetzt ungehindert über sein Gesicht. Als Antwort stieß Alices
Mutter unartikulierte Töne aus.
Der Vater drückte die Hand seiner Frau und Alice konnte sehen, wie der Druck erwidert wurde.
Nach kurzer Zeit drehte Alices Mutter ihren Kopf und sah ihrer Tochter direkt in die Augen. Doch ihre
Hand drückte sie nicht. Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr Alice: Halbseitenlähmung. Dann
erinnerte sie sich, dass solche eine Lähmung bei einem Schlaganfall wohl normal war. Und dass der
Arzt gesagt hatte, es könnte wieder besser werden.
Eine Schwester kam herein und kontrollierte den Zustand ihrer Patientin und der Geräte. Etwas
später traf der Arzt ein, leuchtete Alices Mutter in die Augen und klopfte an verschiedenen Stellen.
Dabei nickte er fortwährend und brummelte in sich hinein.
"Noch können wir nichts Genaues sagen", wandte er sich nach der Untersuchung an Vater und
Tochter. "Die Reflexe sind durchaus hoffnungsvoll. Wir müssen die nächsten Tage abwarten, um eine
sichere Prognose treffen zu können."
Nach kurzer Zeit schlief Alices Mutter wieder ein. Die Schwester teilte ihnen mit, dass dies ganz
normal sei und ein Zeichen dafür, dass der Heilungsprozess einsetzen würde. Dafür bräuchte die
Mutter viel Ruhe. Sie schickte Vater und Tochter nach Hause und versprach, sich zu melden, sobald
sich etwas Unerwartetes ereignen würde. Da es schon dunkel wurde, akzeptierten Alice und ihr Vater,
weggeschickt zu werden und machten sich auf den Heimweg.
Zu Hause lasen sie zuerst den Brief, der das ganze Unheil über sie gebracht hatte. Er kam, wie
erwartet, vom Landes-Vermögensamt und war ein Bescheid über eine Sonderabgabe. Der Betrag, den
sie zahlen mussten, überstieg den Wert von Haus und Tankstelle um das Vielfache. Kein Wunder, dass
Mami der Schlag getroffen hat, als sie das sah. Mir selbst läuft es auch eiskalt den Rücken runter. Und
wenn ich die Bemerkung des Arztes richtig deute, sind wir nicht die einzigen, die so einen Bescheid
bekommen haben. Das können wir ja niemals zahlen. Selbst nicht, wenn wir alles verkaufen würden.
Wie kommen die nur auf die Idee? Von "Produktivwerten" schreiben die hier. Die wollen wohl alle
Gewinne, die man lebenslang machen könnte, wenn die Geschäfte optimal laufen, vollständig
abkassieren. Typisch Staat!
Der Vater schien auch entsetzt. Er ging in den Keller, holte eine Flasche billigen Rotwein und
schenkte sich das erste Glas ein. Wortlos stürzte er es hinunter. Das zweite Glas trank er etwas
langsamer.
Am nächsten Tag fuhr Alices Vater schon morgens in die Klinik. Alice hatte den Dienst im Laden
übernommen und war fest entschlossen, eine Mahlzeit für den Mittagstisch zu kochen. Schließlich
hatte ihre Mutter zusammen mit ihr die vielen Rezepte für Mais und Rindfleisch entwickelt, Alice
kannte sich also aus - dachte sie.
Doch dann brannte die Maissuppe an, als Alice einen Moment lang in Gedanken versunken war und
nicht aufpasste. Plötzlich brach der ganze Kummer über ihr zusammen und die Tränen schossen ihr
aus den Augen. Schluchzend hing sie über der missratenen Suppe und konnte sich gar nicht wieder
beruhigen.
Jemand strich über ihre Haar, drehte sie vom Topf weg und nahm sie in den Arm. Alice schmiegte
sich an und schluchzte noch heftiger, bis sie sich allmählich wieder beruhigte. Dann erst fragte sie
sich, wer sie da überhaupt im Arm hielt. Sie löste sich von ihrem Tröster, schaute nach oben und sah
in das besorgte Gesicht von Achim.
"Oh, du bists."
"Nicht ok?"
"Doch, doch! Danke, das hat gut getan."