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wenn ihre Mutter gekocht hatte und der köstliche Sekt kam vom Weingut eines entfernten
Verwandten.
Nebenbei lief die ganze Zeit der Fernseher. Auf mindestens einem der zahlreichen Kanäle kam
immer eine Sondersendung oder Kurzbericht zum Zugunglück. Immer wieder wurde auch die kurze
Aufnahme mit Alice gesendet. Gnädigerweise hatten sie ihr "Scheiße" gelöscht, sodass die Szene
weniger peinlich war. Auf den meisten Sendern wurde sie aber rührselig aufgebauscht. Gegen Abend
war auch der Verletzte gefilmt worden, der inzwischen wieder bei Bewusstsein war, Alices
Strumpfhose hoch hielt und seiner Retterin dankte. Alice lief jedes Mal rot an, wenn diese Szenen
gezeigt wurden. Sie beschloss, offiziell verschollen zu bleiben. Schließlich hatte sie nichts Verbotenes
getan und musste sich daher auch nicht den Behörden stellen.
Immerhin half ihre öffentliche Heiligsprechung gegen das nagende Schuldgefühl, weil sie den
Verletzten vor dem Unfall vom Sitz vertrieben hatte. Zwar war es ihr gutes Recht gewesen, aber das
allein half nicht, um sich mit der Tatsache anzufreunden. Ihre vermeintlich engelsgleiche Heldentat
setzte jedoch einen ausreichenden Kontrapunkt für ihre Gefühle.
Die Frage nach der Ursache des Unfalls gewann im Laufe des Abends immer mehr an Bedeutung.
Sachlich klingende Experten mutmaßten Materialermüdung im Gleisbett oder eine Störung der
Signalanlage. Andere munkelten von menschlichem Versagen oder gar einem Terroranschlag. Aber
keine Terrorgruppe bekannte sich zu dieser Tat, also war diese Variante eher unwahrscheinlich. Alice
fragte sich zur Idee mit dem menschlichen Versagen, wie ein Zugführer auf kerzengerader Strecke
einen solchen Unfall bauen könnte. Für einen Schaden am Gleisbett sprach, dass der Zug ohne
Vorwarnung entgleist war. Außerdem behaupteten einige Fachleute, dass die Gleise in den letzten
Jahren zu selten gewartet worden seien - deutschlandweit. Das führte zu der bangen Frage, ob
Zugfahren noch sicher genug war. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass die Chefs der Bahn
immer wieder andere mögliche Gründe erwähnen. Sie grausen sich vor der Möglichkeit, dass auf
allen Strecken solche Unfälle drohen.
Alice war zwar sehr interessiert an der Berichterstattung ihrer Erlebnisse und sie halfen ihr auch bei
der Bewältigung, aber schon lange vor ihrer üblichen Bettgehzeit war sie so übervoll mit dem Thema
Zugunglück, dass sie nichts mehr davon hören wollte. Sie ging kurz an die frische Luft, verabschiedete
sich dann von ihren Eltern und legte sich ins Bett. Doch gelang es ihr nicht, bald einzuschlafen,
obwohl sie sich wie gerädert fühlte. Zuviel war geschehen. Immer wenn sie langsam einnickte,
schreckte sie wieder auf und dachte, sie würde gleich durch den Raum geschleudert werden. Später
wurde sie von Alpträumen heimgesucht.
Am Morgen erwachte Alice schweißgebadet. Sie schlich in die Dusche, um zu vermeiden, dass ihre
Eltern sie so sahen. Jeder Schritt brannte an ihren Fußsohlen. So fühlt man sich also als Unverletzter
nach einem Zugunglück. Einer derjenigen, die Glück gehabt haben. Wie mag es da den Verletzten
gehen? Die über hundert Toten fühlen ja wohl gar nichts mehr.
Siedendheiß fiel Alice ein, dass sie ganz vergessen hatte, in ihrer Firma anzurufen und bekannt zu
geben, dass sie unverletzt geblieben war. Bestimmt hatten ihre Mitarbeiter sie erkannt und waren
voller Sorge, weil sie als verschollen galt. Nach dem Frühstück, bei dem ihre Mutter sie mit Ei,
selbstgemachter Erdbeermarmelade und frischem Brot verwöhnte, rief Alice gleich bei Susanne an,
die tatsächlich voller Sorge war.
"Das ist ja mal wieder typisch für dich: marschierst einfach los, ohne dich zu erkundigen, ob ihr
gefahren werdet. Die Zeiten sind zwar schlecht, aber wir leben immer noch nicht in der dritten Welt,
wo man nach einem Zugunglück zu Fuß weiterkommen muss."
"Manchmal denke ich schon, dass wir inzwischen in einem Entwicklungsland leben. Aber in diesem
Fall habe ich mich wohl geirrt. Die Wanderung war allerdings gar nicht so schlecht. Und wer weiß?
Wahrscheinlich hätten sie mich am Unfallort noch stundenlang interviewt in ihrer Gier nach
rührseligen Geschichten."
"Stimmt auch wieder. Ich muss jetzt dringend an die Arbeit. Erhol dich gut! Morgen fahre ich auch
in Urlaub und freu mich schon darauf."
"Viel Spaß im Urlaub!"