Kapitel 13
I
Collier fuhr. Er musste den Kopf freibekommen. Wohin er fuhr, wusste er nicht genau – vielleicht zum Flughafen.
Vielleicht würde er Gast und dessen fragwürdiges Grauen einfach ohne Verabschiedung verlassen. Auf sein Gepäck konnte er verzichten, sogar auf seinen Laptop. Und für die Zimmerrechnung hatte Mrs. Butler ja bereits seine Kreditkartennummer.
Ich habe richtige Angst, erkannte er.
Collier wollte nicht zurück zur Pension.
Der VW Beetle fegte durch die sich schlängelnden Kurven der Nebenstraßen der Ortschaft. Wollte auch das Auto weg von hier? Dann legte Colliers Verstand eine Vollbremsung hin.
Was mache ich da eigentlich?
Es ist lächerlich, meinen Laptop und mein Gepäck bloß wegen einer Schauergeschichte zurückzulassen. Konnte er trotz des Wissens, was in seinem Zimmer geschehen war, dort noch eine Nacht verbringen? Und die angrenzenden Zimmer? Eingekeilt von Mord und Totschlag ...
Dann tippte ihm eine vernünftigere Realität auf die Schulter. Ich kann die Stadt nicht verlassen, ohne mich von Dominique zu verabschieden ...
Sie würde ihn für einen Schwachkopf halten, oder schlimmer noch, für einen unaufrichtigen, schwanzgesteuerten Macho, der das Weite suchte, als ihm klar wurde, dass er sie nie ins Bett bekommen würde.
Selbst, wenn er sie nie wiedersehen sollte, konnte er nicht damit leben, dass sie so etwas dachte.
Ich könnte es gebrauchen, dass etwas Gutes passiert. Er lachte, während ihm der Wind das Haar zerzauste. He, Gott, kann mir heute irgendetwas beschissen GUTES passieren?
Aber warum sollte Gott etwas für ihn tun?
Sein Magen rumorte. Er hatte an diesem Tag noch nichts gegessen, und mittlerweile war es längst Nachmittag. Als ihm jedoch die letzte Mahlzeit des Hunds im Haus der Gasts durch den Kopf ging, bezweifelte er, dass er in nächster Zeit Appetit haben würde ...
Ein Schild verriet ihm, dass die Ausfahrt zum Flughafen nur fünf Meilen entfernt lag. Herrgott, weiß ich überhaupt, was ich tue? Er bog zur letzten Raststätte vor der Autobahn ab, die über eine Tankstelle und einen kleinen Gemischtwarenladen verfügte. Versuch wenigstens, etwas zu essen, überredete er sich.
Im Inneren des Ladens ging ihm unweigerlich ein äußerst rassistisches Klischee durch den Kopf – der Angestellte trug einen Turban und hätte ohne Weiteres auch ein Selbstmordattentäter sein können. »Einen Dollar, sechs Cent«, schrie er eine Frau mit zerzausten Haaren und fleckigem Gesicht an. Sie hatte vier Vierteldollarmünzen auf die Theke gelegt und versuchte, damit einen Hotdog in einer Folientüte zu kaufen. »Aber hier steht ein Dollar das Stück!«, rief sie. Neben ihr stand ein schmutziges Kleinkind. »Ich will doch nur einen Hotdog mit meinem Kind teilen!«
Collier beobachtete die Szene, während er sich Kaffee im hinteren Bereich des Ladens einschenkte.
»Steuern!«, fauchte der Angestellte mit einem harten Akzent. »Und jetzt hinaus! Du kannst nicht bezahlen, also du musst gehen, oder ich rufe Polizei! Du obdachlos, du gehst hin woanders! Warum du kommst in meine Laden? In meine Land du hast sterilisiert und müssen arbeiten in Lager!«
»Arschloch!«, heulte die Frau. Sie griff sich eine Handvoll Ketchup- und Gewürztütchen und rannte mit ihrem Kind hinaus.
Unbewusst wanderte Colliers Hand zu seiner Tasche, um nach Kleingeld zu suchen, doch dann läutete sein Mobiltelefon. Scheiße! Ich habe zu Evelyn gesagt, ich würde sie anrufen! Den Großteil seiner Zeit in Gast hatte er das Mobiltelefon in seinem Zimmer gelassen, nun jedoch sah er, dass sich zwölf verpasste Anrufe angesammelt hatten. Mehrere stammten von seiner baldigen Exfrau, aber er bemerkte noch mehr von Shay Prentor, seinem Produzenten. Und eben der rief ihn gerade an.
»Hallo, Shay ...«
»Justy«, ertönte die ferne Stimme. »Ich versuche seit zwei Tagen, dich zu erreichen, mein Freund. Will der Fürst der Biere nicht mit seinem guten Kumpel und Produzenten reden, oder weiß er nicht, wie man ein Mobiltelefon auflädt?«
»Tut mir leid ...« Warum ruft er an? »Ich bin gerade nicht in der Stadt.«
»Ja, hat mir dein Anwalt gesagt. Er meinte, du wärst in irgendeinem Kaff in Arkansas oder West Virginia ...«
»In Tennessee.«
»Justy, Justy, das läuft so ziemlich auf dasselbe hinaus. Selbst gebrannter Schnaps, Inzest und Grausamkeiten an Tieren ...«
»Ganz so schlimm ist es nicht. »Ich bin in einer Ortschaft namens Gast ...«
»Oh klar, hab ich schon tausendmal gehört. Meine Güte, Justy, was machst du dort?«
Collier wusste, dass etwas nicht stimmte; Prentor nannte ihn nur dann »Justy«, wenn er etwas wollte. »Ich schreibe ein Buch zu Ende – du weißt schon, für meine andere Karriere, die ich jetzt dringend brauche, zumal du ja meine Sendung absetzt. Warum rufst du überhaupt an? Muss ich meinen Schreibtisch jetzt sofort räumen?«
»Oh Justy, Justy, was du immer gleich denkst. Ich wollte dir bloß die schlechte Neuigkeit mitteilen ...«
»Was könnte eine schlechtere Neuigkeit sein als ›Du bist gefeuert‹? Und das hast du mir ja schon letzte Woche vor den Latz geknallt.«
»Nein, nein, die schlechte Neuigkeit ist, dass Savannah Sammys pfiffige Räucherkammer gerade von Nummer drei auf Nummer vier gefallen ist.«
Collier runzelte die Stirn. »Shay, inwiefern ist das eine schlechte Neuigkeit für mich?«
»Nicht für dich, für ihn! Dieses großspurige Stück Weißbrot!« Prentor stimmte undeutliches Gelächter an. »Die gute Neuigkeit für dich ist, dass wir gerade die Quoten für deine letzten sechs Sendungen ausgewertet haben und du jetzt Nummer drei bist.«
Collier hätte beinahe das Telefon in die Kaffeekanne fallen gelassen. »Ich dachte, ich wäre elf ...«
»Nicht mehr, mein Freund. Deine Sendung hat offiziell aufgeholt. Ich verscheißere dich nicht, Justy. Tatsächlich liegst du nur ein paar Punkte hinter Nummer zwei. Emeril ist alles andere als erfreut, das kann ich dir sagen.«
Collier konnte keinen klaren Gedanken fassen. »Also bekomme ich eine weitere Staffel?«
»Was hältst du hiervon als Antwort, Justy? Scheiße, ja! Dreihunderttausend Dollar Prämie für den neuen Vertrag und einen halben Prozentpunkt zusätzlich für deine Gage, und das kommt vom Vizepräsidenten. Ich sehe mir gerade das Stück Papier an, das dir das garantiert. Das Ding heißt Vertrag, und das müsstest du schnellstmöglich unterschreiben. Also, wann werde ich dein lächelndes Gesicht und einen Stift in deiner Hand auf der anderen Seite meines Schreibtischs haben? Flieg sofort zurück. Sag mal, warum musst du eigentlich ausgerechnet nach Tennessee, um ein Buch über Bier zu schreiben? Mein Dad hat immer gesagt, in Tennessee gäb’s nur Stiere und ...«
Collier stand verdutzt da und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Ich bin morgen zurück, Shay. Aber ... was ist mit dem Kerl, den du als Ersatz für mich geholt hast, diesen Typen aus San Francisco mit seinem Verrückt nach Meeresfrüchten? Ich habe gehört, du hast ihn gleich für sechsundzwanzig Folgen unter Vertrag genommen.«
Prentor stimmte erneut Gelächter an. »Wir haben den Vertrag dieses Arschlochs wegen ungebührlichen Verhaltens gekündigt. Du bekommst die sechsundzwanzig Folgen.«
»Ungebührliches Verhalten?«
»Das ist echt witzig, Mann! Wie sich herausgestellt hat, ist der Kerl wirklich verrückt. Letzte Woche war ein Kritiker von Gourmet in seinem Restaurant und hat sich über die Wellington-Krabben beschwert. Er meinte, das Krabbenfleisch sei dieses falsche Surimi-Zeug. Daraufhin ist dieser Psychokoch so beleidigt, dass er mit einem Fleischerbeil hinter dem Kerl herläuft! Ohne Scheiß, Justy! Stand sogar in der Zeitung! Er hätte den Kritiker sogar fast erwischt. Drei Bullen waren nötig, um den Irren einzufangen und wegen versuchter schwerer Körperverletzung einzubuchten ...« Zwischen den Worten musste Prentor immer wieder lauthals lachen. »Vergiss den Loser, Justy. Du bist jetzt beim Sender die große Nummer.«
Collier zitterte, als die Erkenntnis endlich in sein Bewusstsein drang. Ich bekomme einen neuen Vertrag! Ich habe immer noch eine Sendung!
»Und Justy, bist du bereit für eine wirklich gute Neuigkeit?«
»Ich kann mir nichts Besseres vorstellen als das, was du mir gerade erzählt hast ...«
»Laut unserer aktuellsten Zuschauerumfrage ist der Grund, warum sich deine Quoten verdreifacht haben, dass sich neuerdings Hausfrauen die Sendung zusammen mit ihren Ehemännern ansehen ...«
Collier runzelte die Stirn. »Shay, Hausfrauen verlassen das Zimmer, wenn meine Sendung beginnt. Denen ist handwerklich gebrautes Bier schnurzegal.«
Prustendes Gelächter durchsetzte Prentors nächsten Satz. »Sie sehen sich die Sendung an, weil sie dich sexy finden! Emeril ist stinksauer, das kann ich dir sagen. Und wir wissen, dass es stimmt, weil wir vergangene Woche eine Web-Umfrage durchgeführt haben, um den attraktivsten Mann des Senders zu ermitteln. Du hast gewonnen ...«
Nun ließ Collier sein Telefon tatsächlich in die Kaffeekanne fallen.
Scheiße!
Der Angestellte kehrte ihm gerade den Rücken zu. Collier leerte die Kanne in das Waschbecken und versuchte, sein Telefon mit Papierhandtüchern zu trocknen. Das ist der beste Tag meines LEBENS! Erregung beschleunigte seinen Puls dermaßen, dass er sich beruhigen musste, weil er kaum klar denken konnte. Er eilte mit seinem Kaffee zum Schalter und kramte nach Geld ...
Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass die obdachlose Mutter mit ihrem Kind am Rand des Parkplatzes hockte. Sie saugten Ketchup und Gewürze aus den Tütchen. Großer Gott ... Schlagartig musste er an Dominique denken, die den halben Tag damit verbrachte, Obdachlose mit Essen zu versorgen, und an die Predigt des Pfarrers, der wie der Skipper aus Gilligans Insel aussah.
Collier ergriff einige Flaschen mit Limonade, dann forderte er den Angestellten mit dem Turban auf: »Geben Sie mir zehn Hotdogs und zehn dieser Käsestangen.«
Der Angestellte schüttelte den Kopf, während er die Waren in die Kasse eingab. »Sir, diese schmutzigen Leute, sie sind abhängig alle von Drogen und leben von Wohlfahrt. Ist nicht gut, ihnen Sachen geben. Müssen sie sich verdienen wie wir.«
Collier hasste solche Unterhaltungen, aber in diesem Fall verspürte er den Drang, etwas zu erwidern. »Kumpel, diese Frau da draußen ist keine Drogensüchtige. Nicht jeder obdachlose Mensch ist auf Drogen.« Da Collier aus Los Angeles kam, kannte er den Unterschied. Die Bettler in L.A. trugen Sportschuhe für 200 Dollar. Obdachlose Süchtige streunten nicht in abgelegenen Gegenden wie dieser.
»Sie sind ein dummer Mann, zu geben solche Abschaum irgendwas ...«
»Machen Sie einfach meine Bestellung fertig.« Den Rest verkniff sich Collier.
Der Angestellte schob ihm die Tüte zu. »Deshalb dieses Land ist so in Arsch – weil man gibt für schmutzige Leute, die nicht wollen hart arbeiten wie ich. In meine Land wir lassen die Nutzlosen arbeiten und sterilisieren sie, damit sie nicht machen mehr Babys für mehr Wohlfahrt.«
Weitere Stereotype flammten in Colliers Kopf auf, aber er ergriff nur die Tüte und steuerte auf die Tür zu.
»Sie nicht mehr kommen in meine Laden!«, fügte der Angestellte hinzu. »Sie sind dummer, nichts wissen Mann!«
Collier drehte sich um. »Jetzt hör mal zu, du Vollidiot. Ich bin weder dumm, noch bin ich unwissend. Ich bin Justin Collier, der Bierfürst, und ich habe die dritterfolgreichste Sendung bei Food Network TV. Steck dir das in deine Wasserpfeife und rauch es auf dem Rückweg in das freiheitsverachtende, Terroristen unterstützende, diktatorische Scheißloch, aus dem du gekrochen bist«, sagte er und ging hinaus.
»Scheiß auf Sie! Ich sage Sie – scheiß auf Sie!«
Collier berührte die unangenehme Konfrontation so gut wie gar nicht. Alles, was für ihn im Augenblick zählte, war Prentors Anruf. Ich habe meine Sendung zurück!, posaunten seine Gedanken unablässig. Allerdings war sein Mobiltelefon immer noch nass. Während er über den Parkplatz lief, versuchte er, den Kaffee herauszuschütteln. Ich muss ihn sofort zurückrufen ...
Die obdachlose Frau und das Kind kauerten immer noch am Randstein und nuckelten am Ketchuptütchen. »Entschuldigen Sie, Miss«, sagte Collier und stellte die Tüte ab. »Ich habe gehört, was der Kerl da drin zu Ihnen gesagt hat. Ich habe Ihnen Hotdogs und noch ein paar Dinge besorgt.«
Die Frau mit dem fleckigen Gesicht schaute in die Tüte und brach in Tränen aus. »Oh mein Gott, danke! Wir haben seit gestern nichts mehr gegessen! Endlich begegnen wir einem netten Menschen. Gott segne Sie!«
Die beiden begannen, über das Essen herzufallen.
»Soll ich Sie zu einem Asyl oder sonst irgendwohin mitnehmen?«, bot Collier an.
»Oh nein, danke«, antwortete sie schluchzend und mit vollen Backen. »Ins Asyl lässt man uns nicht, deshalb leben wir unter der Unterführung gleich die Straße runter. Normalerweise kommt der Laster der Heilsarmee dort vorbei und gibt uns Brötchen, aber gestern Abend war er nicht da. Nochmals vielen Dank für das Essen!«
Collier fühlte sich überwältigt. Verdammt. Was soll ich tun? Er zog eine Hundert-Dollar-Note aus seiner Brieftasche. »Hier, warum nehmen Sie den nicht einfach?«, meinte er und gab ihr den Schein.
Die Frau kippte überwältigt vor Freude und unter Tränen beinahe um. »Danke! Vielen, vielen Dank ...« Sie sprang auf und umarmte Collier.
Das Kleinkind schielte zu ihm und stopfte sich einen weiteren Hotdog in den Mund.
»Gott segne Sie, Sir! Gott segne Sie!«
Letztlich musste Collier sie von sich schieben. »Gern geschehen, aber jetzt muss ich los. Auf Wiedersehen ...«
»Danke, danke!«
Collier ging davon. Entsprach das der Art von Wohltätigkeit, zu der dieser Pfarrer aufgerufen hatte? Oder habe ich es nur getan, um mich gut zu fühlen?, fragte er sich.
Es spielte keine Rolle.
Die Überschwänglichkeit angesichts der Fortführung seiner Sendung kehrte jäh zurück. Ja-woll! Der attraktivste Mann von Food Network TV! Er öffnete und schloss das Mobiltelefon mehrere Male, aber der Bildschirm schaltete sich nicht ein. Ich muss zurück zur Pension, Shay anrufen und ihm sagen, dass er den Vertrag auf einen Termin nach meiner Scheidung datieren muss ...
Collier hatte sich etwa fünf Meter von der Obdachlosen entfernt, als er hinter sich ihre Stimme hörte.
»Pokey? Hier ist Dizzy – ja, ja, ja, und leg diesmal bloß nicht auf, du Mistratte!«
Collier drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass die Frau mit einem Handy telefonierte, das noch teurer als sein eigenes aussah.
»Ich weiß, ich weiß, das hast du mir schon tausendmal gesagt – kein Crack mehr auf Pump. Komm einfach zur Unterführung und bring fünf Steine mit. Ja, genau, fünf!«
Was um alles in der Welt ...
»Ich verscheißer dich nicht – ja, ich hab’s! Irgend so ein Typ hat mir gerade einen Hunderter gegeben, also komm in zwanzig Minuten und bring fünf Steine mit! Heilige Scheiße, heute Nacht lass ich’s richtig krachen!«
Collier fühlte sich, als hätte eine Schar Krähen auf ihn gekackt. Ein Hotdog flog dem Kind aus der Hand, als die Frau es am Arm packte und davonstapfte. Die Tüte mit den Lebensmitteln blieb vergessen zurück.
Collier wankte zurück zu seinem Auto.
»Sehen Sie? Sehen Sie?«, höhnte der Angestellte, der vor den Laden gekommen war. »Alberne, dumme Mann nicht wollen hören! Sie ... wie sagt man? Lecken meine Arsch!«
Am liebsten wäre Collier zum Wagen gerannt.
»Ja! Ja – oh, so was, dumme, ignorante Kamelarsch von eine Mann jetzt steigt in Auto mit Farbe für Frau!« Der Mann stimmte fremdartig klingendes Gelächter an. »Und ich sehen Ihre Sendung in dumme amerikanische Fernsehen, und es ist ... wie sagt man? Blöde Scheiße!«
Collier erwiderte kein Wort. Er stieg nur in das schrill-grüne Auto und raste davon.
Er fuhr nicht zum Flughafen. Sich einfach davonzustehlen, erschien ihm als Überreaktion. Er würde noch eine Nacht bleiben, anständig auschecken und sich von Dominique verabschieden.
Womit nur seine Ängste blieben ...
In der Stadt erkundigte er sich in allen anderen Hotels und Pensionen – nirgendwo gab es ein freies Zimmer. Mittlerweile zögerte er nicht einmal mehr, es sich einzugestehen: Ich würde wirklich lieber keine weitere Nacht in diesem furchtbar verfluchten Haus bleiben. Vermutlich könnte er auch im Auto schlafen. Oder ...
Vielleicht lässt mich Dominique meine letzte Nacht bei ihr verbringen ...
Das schien ihm eine wesentlich ansprechendere Idee zu sein, aber würde sie darauf einsteigen? Würde sie darauf vertrauen, dass er ihr Zölibat respektierte?
Collier grübelte nicht allzu lang darüber nach – noch über etwas anderes. Sutes letzte Enthüllungen darüber, was sich im Jahr 1862 in Zimmer drei abgespielt hatte, waren ein zu harter Schlag gewesen. Vielleicht konnte Mrs. Butler ihm für seine letzte Nacht ein anderes Zimmer geben. Die Erinnerung an Sutes Daguerreotypie bestärkte ihn nur in seiner Entscheidung, nicht in diesen Raum zurückzukehren ...
Glaube ich wirklich an Geister?, fragte er sich.
Mittlerweile ging es auf fünf Uhr zu. Dominique wird bald im Dienst sein. Als er sein Telefon erneut überprüfte, gingen zwar die Lichter an, doch der Bildschirm meldete: Kein Empfang. Ich könnte zur Pension zurückfahren und Shay von dort aus anrufen. Als er jedoch auf dem Parkplatz eintraf, schien ihn das Haus mit einer finsteren Grimasse anzustarren.
Verdammt.
Hörte er einen Hund bellen, als er aus dem Beetle stieg? Sein Magen zog sich zusammen.
Das Geräusch schien vom Fuß des Hangs zu kommen, wo der Bach durch den Wald floss.
Collier ging in entgegengesetzter Richtung in die Stadt ...
Als er an der Bank vorbeikam, sah er dort Jiff in einer Schlange stehen, offenbar, um einen weiteren Scheck einzulösen. Collier konnte sich denken, von wem der Scheck stammte und wofür ihn Jiff erhalten hatte.
Collier beschleunigte die Schritte, um nicht bemerkt zu werden. Er folgte der Penelope Street auf die Hauptstraße und betrat die plötzliche Kühle von Cusher’s, wo er sich auf einen Hocker an der halb vollen Bar setzte.
»Hi, Mr. Collier«, begrüßte ihn die Barkellnerin mit dem Dolly-Parton-Busen. »Wie gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt bisher?«
»Gut, aber wie’s aussieht, fahre ich morgen zurück nach Hause.«
»Oh, das ist jammerschade.« Sie stellte ein Glas Bier vor ihn hin. »Das geht aufs Haus. Und herzlichen Glückwunsch!«
»Glückwunsch wozu?«
»Ach, seien Sie doch nicht so bescheiden.« Sie zwinkerte ihm zu, dann eilte sie zu einigen anderen Gästen.
Was, zum Geier, ist jetzt wieder los? Innerhalb weniger Sekunden tauchten drei Hausfrauentouristinnen auf, die ihn entschuldigend um Autogramme baten. Eine legte ihm die Hand auf den Oberschenkel und flüsterte: »Sie sind wirklich der attraktivste Mann bei Food Network TV ...« Eine andere raunte: »Wäre mein Mann nicht hier, würde ich Sie ordentlich rannehmen.«
Dann begriff Collier. Shay hat mich tatsächlich nicht verscheißert. Offensichtlich waren die Ergebnisse der Zuschauerumfrage veröffentlicht worden. Sein Blick folgte den Hausfrauen – allesamt attraktiv und gut gebaut –, doch er wandte ihn rasch ab, als er mehrere Ehemänner bemerkte, die mit finsteren Mienen zurückstarrten.
Collier kümmerte sich nicht weiter darum. Er musste entscheiden, was er tun wollte.
»Ist Dominique schon da?«, erkundigte er sich bei der Bardame.
»Sie kommt heute später, meinte, sie hätte ein Problem zu Hause.«
Ein Problem in Dominiques Wohnung?
Er nippte an seinem Bier und versuchte, sich zu entspannen. Wie spät wird sie wohl kommen? Als er zum Fernseher in der Ecke aufschaute, sah er Savannah Sammy, der eine Rinderbrust marinierte. Wie fühlt es sich an, Nummer vier zu sein, du hinterhältiger Schleimer aus Jersey?
Colliers Magen vermeldete knurrend Hunger, aber jedes Mal, wenn er mit dem Gedanken spielte, nach der Speisekarte zu verlangen, erinnerte er sich an den Albtraum: das Eintreten der Tür seines Zimmers, der herausrennende Hund und ... der Gestank. Er war froh, dass ihm in dem Traum der Anblick der Einzelheiten erspart geblieben war, die Sute ihm mündlich geschildert hatte. Collier versuchte, sich abzulenken. Ohne darüber nachzudenken, hatte er die alten Schecks aus der Tasche geholt und angefangen, sie zu betrachten. Ein Mann namens Fecory hat diese Schecks vor fast hundertfünfzig Jahren ausgestellt. Das Papier fühlte sich äußerst fein und dünn an.
Sute glaubt, dass diese Dinger Verträge mit dem Teufel sind ...
Ein Frösteln überkam ihn, und er steckte sie weg. Dabei fiel ihm nicht auf, dass der unterste Scheck zwar von Fecory unterschrieben, abgesehen davon jedoch leer war.
Soll ich den ganzen restlichen Tag hier rumsitzen? Jedes Mal, wenn er zum Fernseher schaute, zuckte er zusammen. Als die Bardame an ihm vorbeiging, rief er sie zurück. »Miss? Sie haben gesagt, Dominique hätte zu Hause ein Problem – was für ein Problem?«
Sie beugte sich vor, auf die Ellbogen gestützt, wodurch ihr Busen zur Geltung kam. »Handwerker oder so. Hat sie völlig vergessen, als sie das Essen ins Asyl nach Chattanooga brachte.«
»Hat sie gesagt, wann sie herkommt?«
»Bald, meinte sie nur. Eine Uhrzeit hat sie nicht genannt.«
»Oh.« Er seufzte. »Bei meinem Glück dauert es noch Stunden.« Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, wurde er herumgedreht und auf den Mund geküsst.
»Hi! Tut mir leid, dass ich spät dran bin«, begrüßte ihn Dominique. »Ich hatte deine Mobiltelefonnummer nicht, deshalb konnte ich dich nicht anrufen.«
»Ich habe gehört, in deiner Wohnung ist etwas passiert.«
»Die Hausverwaltung lässt das Gebäude alle paar Jahre von Kammerjägern ausräuchern, und ich hatte vergessen, dass die heute kommen. Also musste ich schnell zurück, alle Schränke versiegeln und raus. Die nächsten vierundzwanzig Stunden kann ich nicht nach Hause.«
Erst da wurde Collier klar, dass er die Arme um ihre Taille geschlungen hatte und sie festhielt.
»Ich mag es wirklich, wenn du mich umarmst«, meinte sie kichernd, »aber wenn du mich nicht loslässt, kann ich nicht arbeiten.«
»Oh, richtig ...«
»Und herzlichen Glückwunsch – der attraktivste Mann im Fernsehen.«
»Nur bei Food Network TV.«
»Na, da bin ich mir nicht so sicher.« Sie küsste ihn erneut und eilte davon.
Collier fühlte sich einsam, als er ihr nachsah. Ja, es hat mich echt schlimm erwischt ... Aber dass ihre Wohnung bis zum nächsten Tag nicht betretbar war, machte die Möglichkeit zunichte, die Nacht bei ihr zu bleiben. Ich werde keine weitere Nacht allein in Zimmer drei verbringen, so viel stand für ihn fest. Ebenso zweifelsfrei wusste er, dass er für keine andere Frau in seinem Leben je das empfunden hatte, was er für Dominique empfand. Eine Erkenntnis ereilte ihn: Dominique besaß eine Menge Tugenden, er hingegen ... nicht. Sie lässt mich mein wahres Ich erkennen. Nur gefällt mir nicht, was ich sehe, und ich möchte anders sein. Dominique weckt in mir den Wunsch, ein besserer Mensch zu werden ...
Konnte es so einfach sein? Collier war überzeugt davon.
Eine noch bessere Erkenntnis folgte: Letzte Nacht hätte ich es mit Lottie treiben können, aber ich hab’s nicht getan, weil ich einer Frau treu bleiben wollte, die NIE mit mir schlafen wird. Sein Finger klopfte auf die Theke. Das MUSS etwas zu bedeuten haben.
Dominique kehrte zurück. »Du solltest das heutige Tagesgericht probieren. Ist wirklich verdammt lecker.«
»Was ist es?«
»Nach Landart gebratenes Tintenfischsteak mit Curry-Tatar.«
»Vielleicht, äh, ein anderes Mal.« Er streckte den Arm aus, ergriff ihre Hand und fasste einen spontanen Entschluss. »Da du heute Nacht nicht in deine Wohnung kannst, solltest du bei mir in der Pension übernachten.«
Sie wirkte erleichtert. »Ich hatte gehofft, du würdest fragen.«
Collier stockte. »Soll das heißen ... ja?«
»Natürlich ...« Ihr Blick schoss zur Tür. »Oh, ich muss diese Vierergruppe an einem Tisch unterbringen.«
Sie setzte zum Gehen an, doch Collier ließ sie nicht los. »Soll das heißen, du vertraust mir jetzt?«
Sie lachte. »Sonst würde ich wohl kaum bei dir übernachten. Du weißt ja, was nicht passieren wird, also darf es dir eigentlich kein Kopfzerbrechen bereiten ...«
»Tut es auch nicht«, sagte er, ohne nachzudenken.
»Hör mal, ich muss diese Leute an einen Tisch bringen! Ich bin hier die Chefin, schon vergessen?«
Damit eilte sie davon.
Der Anblick ihrer Figur unter der Schürze brachte ihn förmlich um den Verstand, und wann immer sie hinter der Bar auftauchte, um etwas zu holen, funkelte das Kreuz über ihrem Busen. Collier fühlte sich völlig perplex. Ich muss morgen zurück nach Los Angeles, aber ich sitze hier und fantasiere davon, eine Beziehung mit einer Christin zu haben, die im Zölibat lebt.
Wenigstens beruhigte das Bier seine Nerven. Und er würde die Nacht nicht allein in dem Zimmer verbringen müssen. Dominique würde die ganze Zeit bei ihm sein ...
Er hatte das Mobiltelefon offen auf die Theke gelegt und hoffte, es würde trocknen. Vorerst verkündete es immer noch, dass kein Empfang vorhanden sei.
»Probier das«, forderte Dominique ihn auf. Sie war mit einem Teller zurückgekommen. »Ist ’ne falsche Bestellung.«
Es handelte sich um Knackwurst mit Senfsoße, was ihm schlicht genug zu sein schien. »Danke.«
»Wie war dein Tag?«
Ein Chaos ... und zugleich toll. »Gut.« Er schenkte es sich, ihr von der Fortsetzung seiner Sendung zu erzählen, weil er ihr nie verraten hatte, dass sie abgesetzt worden war. »Eigentlich habe ich nicht viel gemacht. Bin bloß ein wenig rumgefahren.« Die restlichen Einzelheiten übersprang er.
»Hast du Kaffee getrunken?«, fragte sie. »Ich rieche nämlich Kaffee.«
Collier zögerte kurz, dann deutete er auf sein Mobiltelefon. »Ach, das ist nur das Handy.«
Sie legte die Stirn in Falten. »Dein Telefon riecht nach Kaffee?«
»Frag nicht.«
»Wie geht’s mit dem Buch voran? Schon fertig?«
Hatte er überhaupt schon ein Wort geschrieben? »Fast. Der letzte Eintrag, Cusher’s Bürgerkriegsbier, braucht noch einen Feinschliff.«
»Die Leute werden es für Begünstigung halten.« Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Aber da sind sie selbst die Angeschmierten.«
»Hä?«
Ihr Kreuz schaukelte hin und her, als sie sich vorbeugte und flüsterte: »Man wird denken, dass du die Braumeisterin vögelst, aber es weiß ja kaum jemand, dass die Braumeisterin enthaltsam lebt.«
Wieder sprach Collier, ohne nachzudenken. »Die Braumeisterin ist wunderschön. Ich bin der Braumeisterin regelrecht verfallen, enthaltsam oder nicht.« Er wollte erneut ihre Hand ergreifen, aber einer der Köche rief sie weg.
Was für ein abgedroschener Satz, dachte er im Nachhinein.
Collier aß die schlichte Wurst und stellte danach fest, dass es ihm besser ging. Sein Magen fühlte sich von Sutes Horrorgeschichte nicht mehr so flau an.
Ein wohlgeformter Schatten tauchte auf – die Bardame. Sie brachte ihm ein weiteres Bier, dann bemerkte sie seinen leeren Teller. »Wie hat Ihnen die Rattenwurst geschmeckt?«
»Die was?«
»Das war Bisamratte und geräuchertes Opossum – im Süden eine Spezialität.«
Collier starrte sie an. »Das ist ein Scherz richtig? Ich habe doch wohl nicht gerade ...«
»Nur die Ruhe!«, sagte sie schnell. »Die Tiere werden auf Farmen gezüchtet und mit Getreide gefüttert. Sie waren vorher wohl noch nie im Süden, oder? Eine noch bessere Spezialität des Südens sind Stierhoden. Wollen Sie probieren?«
Entsetzt schüttelte Collier den Kopf.
»He, Leute! Schaut mal!«, rief jemand laut. Alle blickten zum Fernseher.
»Die Ergebnisse sind da!«, verkündete eine Stimme aus dem Off. Mehrere Ausschnitte aus Colliers Sendung liefen in rascher Abfolge über den Bildschirm. »Wir haben einen neuen Adonis! Justin Collier, der Bierfürst, wurde soeben zum attraktivsten Mann bei Food Network TV gewählt! Sehen Sie sich seine neuen Folgen an, demnächst hier bei uns!«
Verdammt ...
Wasserfallartiger Beifall setzte ein. Collier errötete. Einige Frauen stießen Pfiffe aus. Als er herumwirbelte, stellte er fest, dass Dominique neben ihm stand und ebenfalls klatschte.
»Ich verfalle dir auch immer mehr«, flüsterte sie und ging zurück an die Arbeit.
Die nächsten Stunden gab Collier Autogramme, und es störte ihn nicht mal. Wenn man ein Star ist, gehört das dazu. Mehrere Frauen flüsterten ihm ziemlich schamlose Andeutungen zu, doch Collier ließ sie alle ohne Bedauern abblitzen. Dabei beobachtete er immer wieder Dominique, wie sie ihren Pflichten nachging, und ihm wurde bewusst, wie hoffnungslos er sich in sie verliebt hatte.
Viele Biere wurden ihm gebracht, vermutlich einige zu viel, aber ein Gedanke sorgte dafür, dass er einen klaren Kopf behielt. Während seiner Autogrammstunde traf er eine Entscheidung ...
Der abendliche Hochbetrieb ging vorüber. Es war fast zehn Uhr, als Dominique verkündete: »Ich bin so gut wie fertig. Gib mir noch ein paar Minuten.«
»Ich warte draußen«, erwiderte Collier.
Sein Telefon war endlich getrocknet; auf dem Bildschirm stand: Bereit.
Während Collier vor dem Restaurant auf Dominique wartete, rief er Shays Nummer an. Als sich der Anrufbeantworter meldete, hinterließ Collier die Nachricht, dass er nicht zum Sender zurückkommen würde.
II
Collier schlug vor, zu Fuß zur Pension zu gehen, statt mit dem Auto zu fahren. »Gefällt mir«, meinte sie. »Wir haben Vollmond. Das ist romantisch.«
»Natürlich ist es das«, sagte er, wenngleich er hauptsächlich deshalb laufen wollte, um durch die frische Luft einen klareren Kopf zu bekommen. Und ...
Er hatte es nicht eilig, in Zimmer drei zurückzukehren.
Aber wenigstens ist sie bei mir ... Hatte er wirklich immer noch Angst?
»Nachts sieht das Haus wirklich unheimlich aus, oder?«, meinte Dominique.
Sie konnten die Pension auf der Kuppe des Hügels erkennen, vom Mond in einen dunklen Umriss verwandelt.
»Das kannst du laut sagen.«
»Wie meinst du das?«
Collier musste über sich lachen. »Ich will ehrlich mit dir sein: Mrs. Butlers idyllische kleine Pension macht mir allmählich ziemlich zu schaffen.«
Dominique drückte seine Hand. »Du hörst J. G. Sute eindeutig zu viel zu.«
»Oh, das weiß ich, und es ist meine eigene Schuld. Mittlerweile habe ich meinen Sättigungspunkt für Geistergeschichten erreicht.«
Sutes letzte Enthüllungen teilte er ihr nicht mit – dass die schlimmsten Grausamkeiten ausgerechnet in dem Zimmer abgelaufen waren, in das er sie für die Nacht eingeladen hatte. Ebenso wenig verriet er ihr seine Entscheidung, die Fernsehsendung nicht weiterzumachen.
Wind kam auf, und hinter dem Haus verdunkelten sich die Wolken. Bevor sie den Parkplatz erreichten, entfesselte der Himmel mehrfach lautes Donnergrollen.
Beide lachten über den Zufall. »Ist das nicht passend?«, meinte Dominique.
»Genau, was ich brauche. Eine dunkle, stürmische Nacht.«
»Ich schwör’ dir, die Wetterleute werfen Münzen für ihre Vorhersagen. Die Prognose hieß sonnig und heiter für die ganze Woche.«
Ein weiteres lautes Grollen hörte sich näher an. Nur Sekunden danach verhüllten die Wolken den Mond völlig.
Collier gefiel das nicht.
Als der Wind heftiger durch die Straßen fegte, war er sicher, eine Stimme rufen zu hören: »Hier drüben!« Oder etwas Ähnliches. Es klang wie die Stimme eines jungen Mädchens.
Dominique verlangsamte die Schritte und blickte zum Wald hinunter.
»Du hast die Stimme auch gehört, oder?«
»Welche Stimme?« Eindringlich starrte sie hinab. »Eine Stimme habe ich nicht gehört, aber ... irgendein Geräusch kommt von dort unten, glaubst du nicht auch?«
»Entlang der Waldlinie verläuft ein Bach ...«
»Gehen wir und sehen wir ihn uns an.«
Colliers Körper versteifte sich. »Nein, das ist verrückt. Dort unten ist es inzwischen stockfinster, außerdem kann jede Minute ein Unwetter losbrechen.«
Als der Wind stärker wurde und den Hang hinauffegte, vermeinte Collier, einen Hund bellen zu hören ...
Dominique blieb stehen. »Was war das?«
»Raschelnde Blätter ...«
»Hat sich eher wie ein Hund angehört.«
Collier zog an ihrer Hand. »Gehen wir einfach rein.«
Donner grollte, dann zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Sintflutartiger Regen brach los, als sie die Eingangsstufen der Pension hinaufrannten. Collier fühlte sich gleichzeitig durchfroren und verschwitzt. »Gerade noch geschafft.« Er griff nach der Tür.
Dominique zog an seiner Hand. »He. Alles in Ordnung?«
»Ja, klar ...«
»Justin, du zitterst ja.«
Tat er das? »Mir ... mir ist kalt, das ist alles. Vom Regen.«
Sie wirkte überzeugt, als er die Tür für sie aufhielt. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor er eintrat, war die große, knorrige Eiche im Vorgarten. Ein Blitz zuckte und tauchte die abgestorbenen Äste des Baums in ein knochiges Weiß, sodass sie wie missgebildete, skelettartige Gliedmaßen aussahen.
Collier zog die Tür zu.
Die Vorhalle präsentierte sich hell vor Lichtern, doch die Leere des großen Raums fühlte sich falsch an. »So spät ist es doch noch gar nicht«, stellte Dominique fest. »Wo sind denn all die Gäste?«
Collier mied den Anblick des großen Porträts von Harwood Gast. Ihm kam der Gedanke, dass die Augen auf dem Gemälde direkt auf den Baum draußen gerichtet waren, an dem sich der Mann erhängt hatte.
Ein Klappern erschreckte sie beide.
Lottie stand in der Ecke und hantierte an etwas herum.
»Hallo, Lottie«, begrüßte Collier die junge Frau.
Sie schaute herüber, lächelte kurz und winkte.
Dominique und Collier gingen zu ihr und sahen, dass sie den Beutel eines Staubsaugers wechselte.
»Sind alle Gäste schon so früh im Bett?«, erkundigte sich Dominique.
Lottie schüttelte den Kopf und deutete in Richtung der Stadt.
Dem Moment haftete etwas Betretenes an. Lottie wirkte zerstreut, nicht wie das übliche Energiebündel.
»Gute Nacht, Lottie«, sagte Collier.
Sie winkte, ohne zu Dominique und ihm aufzuschauen.
»Merkwürdig«, flüsterte Dominique, als sie sich entfernten. »Heute Abend kommt sie mir richtig fremd vor. Sonst ist sie völlig hyperaktiv ...«
Abermals blieb Dominique stehen und zog an Colliers Hand.
Sie schaute zu dem alten Schreibtisch.
Wahrscheinlich erinnert sie sich gerade daran, was sie bei dem Empfang gesehen hat, vermutete Collier. Einen Mann, der Windom Fecory unangenehm stark geähnelt hatte. Dieser weitere Zufall ließ Collier einen Schauder über den Rücken kriechen.
An demselben Schreibtisch hatte er die alten Schecks gefunden.
Alle von Fecory unterschrieben, und zwar an dem Tag, an dem sich Gast im Jahr 1862 erhängt hat.
Dann wanderte Dominiques Blick die Wand der Nische empor zu dem kleinen Porträt von Penelope.
»Da ist sie«, murmelte Dominique.
Das alte Gemälde wirkte lebendiger, als Collier es in Erinnerung hatte, auf gespenstische Weise detailreicher, als es sein sollte. Noch beunruhigender fand er, dass die sanften und doch verführerischen Züge der Frau exakt den alten Daguerreotypien glichen, die ihm gezeigt worden waren.
Ein Blitz zuckte hinter den hohen Fenstern, und weiterer Donner krachte.
»Das ist lächerlich«, murrte Dominique.
»Was?«
»Jetzt bekomme ich es mit der Angst zu tun.«
Collier zog an ihrer Hand. »Komm, gehen wir ...«
Als sie sich den Weg die gewundene Treppe hinaufbahnten, schaute Collier über die Schulter zurück.
Lottie stand wie in Trance an dem Schreibtisch.
Sie schien Penelopes Porträt anzustarren.
Mit ausdruckslosem Blick und offenem Mund.
Als es erneut donnerte, kicherte Dominique. »Jetzt braucht nur noch der Strom auszufallen.«
»Beschrei es bloß nicht!«
Sie berührte ihr Kreuz. »Keine Sorge, mein Kreuz wird uns vor dem Schwarzen Mann beschützen ...«
Als Collier noch einmal zurückschaute, war Lottie verschwunden.
Der Schwarze Mann, dachte er. Oder die Schwarze Frau ...
III
Sute saß in Tränen aufgelöst in seinem Schlafzimmer. Er hatte vor dem Erkerfenster Platz genommen, wo sein Gesicht von jedem Blitz in grelles Licht getaucht wurde. Sute war am Boden zerstört ...
Zuvor hatte er Jiff angerufen und um ein weiteres heimliches Treffen am nächsten Tag gebeten, doch er hatte eine Nachricht hinterlassen müssen. Als Sute vom Essen zurückgekommen war, hatte ein Rückruf auf seinem Anrufbeantworter gewartet.
»J. G., ich bin sicher, du erkennst meine Stimme. Tut mir leid, dass ich’s dir so sagen muss ... aber ich kann das nich’ mehr machen. Was ich mein’, is’, ich kann keine Geschäfte mehr mit dir machen. Weißte, das is’ zu viel für mich. Mit andren Sachen kann ich leichter Kohle verdienen. Tut mir echt leid, aber das war’s.«
Das war’s, wiederholte Sute in Gedanken – seit mittlerweile Stunden.
»Das war’s für mein Leben ...«
Sein Stadthaus erzitterte unter dem nächsten Donnerausbruch.
Er schluchzte in sich hinein. »Darauf ... läuft jede Liebe hinaus.«
Durch die Dunkelheit im Zimmer fühlte er sich nur noch wertloser. Alles war umsonst. Die Blitze verwandelten seine Tränen in einen traurigen, flüssigen Schimmer.
Sute wusste, dass er kein starker Mensch war. Er fragte sich, wie lange er noch so hier sitzen würde, bevor er sich umbrächte.
IV
»Du böser Hund! Böser, böser Hund!« Zwei hohe Stimmchen verschwanden auf unfassbare Weise um die Ecke. Nur Stimmen, keine Kinder dazu.
Ein Kichern verhallte zusammen mit einem munteren Laut, der sich wie das Bellen eines Hundes anhörte.
Oh nein. Heute Nacht ist es schlimm.
Langsam ging Mrs. Butler den Treppenflur entlang, dann begab sie sich nach unten, um ein letztes Mal die Küche zu überprüfen. Sie hatte immer gewusst, dass es am Haus lag, und sie war überzeugt davon, dass ihr Sohn und ihre Tochter es auch wussten. Die Bestätigung dafür sprach stets aus ihren Augen, obwohl selten ein Wort darüber fiel. Das Einzige, was sie je darüber zu Lottie und Jiff gesagt hatte, war: »Das ist bloß die Vergangenheit, die irgendwie durchdringt. Passiert nicht oft, nur hin und wieder. Denkt immer daran, ihr zwei: Was ihr nicht sehen könnt, kann euch auch nicht wehtun.«
Die Pension war ausgebucht; in der Gegend erstreckte sich die Touristensaison über neun, manchmal zehn Monate. Es war ein gutes Leben. Und die Gäste blieben selten lang genug, um etwas Sonderbares zu bemerken. Sicher, hin und wieder fiel einigen etwas auf – manchen stärker als anderen –, und Mrs. Butler konnte sich nie zusammenreimen, weshalb. Aber im Allgemeinen liefen die Dinge gut.
Mr. Collier hatte es natürlich schlimm erwischt. Sie konnte es an seinen Augen ablesen. Er hat den Hund und die Mädchen gehört. Wahrscheinlich hätte sie überzeugender sein sollen, als sie seine Fragen über die Vergangenheit des Gebäudes beantwortet hatte. Wenn ich nicht so verflucht scharf auf den Mann wäre, dann wäre ich vielleicht eine bessere Gastgeberin! Sie glaubte oft, dass etwas im Haus sie trotz ihres Alters dermaßen auf Männer ansprechen ließ.
In der Küche fand sie alles in bester Ordnung vor und für das Frühstück am nächsten Morgen war ebenfalls alles vorbereitet. Die Deckenbeleuchtung flackerte, als es erneut donnerte. Mistiges Unwetter! Der Strom fiel zwar selten aus, doch wenn er es tat, zeigten sich ihre Gäste nie allzu glücklich darüber. Bitte bleib an, verdammt noch mal!
Sie wollte sich am nächsten Morgen keine Beschwerden anhören müssen, wenngleich das nicht ihre schlimmste Sorge war ...
Das ist nicht die richtige Nacht dafür, dass in DIESEM Haus die Lichter ausgehen ...
Sie verließ die Küche und kehrte in den Familientrakt zurück. Lottie war bereits zu Bett gegangen. Das arme Mädchen war heute völlig neben der Spur. Mrs. Butler wusste, dass es lediglich am Haus lag, das einen seiner Zyklen durchlief. Als sie in Lotties Zimmer spähte, sah sie, dass sich ihre Tochter unruhig hin- und herwälzte. Die Laken hatten sich wie eine Schlange um ihren nackten Körper gewickelt. Schon wieder böse Träume, dachte Mrs. Butler. Obwohl Lottie schlief, befummelte sie wild ihr Geschlechtsorgan.
Als sie in Jiffs Zimmer schaute, überraschte es sie nicht, das Bett leer vorzufinden. Also ehrlich, was treibt der Junge bloß? Natürlich hatte sie einige Dinge gehört, aber wie viele Mütter ignorierte sie die Gerüchte. Er ist ein erwachsener Mann!, sagte sie sich immer. Allerdings trank er zu viel, aber ... das tat er vor allem, wenn sich das Haus so wie jetzt verhielt.
Mrs. Butler fühlte sich wie hundert, als sie in ihr eigenes Zimmer schlurfte. Sie zog sich aus und schlüpfte in ein dünnes Nachthemd. Großer Gott, ich bin SO müde ... Sie setzte sich aufs Bett und wollte gerade die Lampe ausschalten, zögerte jedoch. Irgendwie wollte sie nicht im Dunklen sein ...
In der vergangenen Nacht hatte sie einen entsetzlichen Traum gehabt, den sie schon einmal erlebt hatte. Sie hatte geträumt, sie sei eine geschmeidige schwarze Frau, die nacheinander von einer Reihe starker, weißer Männer mit breit grinsenden Gesichtern, aber Augen, die wie tot wirkten, vergewaltigt wurde. Nachdem jeder an der Reihe gewesen war, läuteten sie eine zweite Runde ein.
Und dann noch eine.
Als sie endlich fertig waren, lag sie da – zerstört, mit zerfetzten Organen, innerlich und äußerlich blutend. In dem heißen Zimmer stank es dermaßen durchdringend nach Urin, dass es sich um eine Sauna hätte handeln können, in der man statt Wasser Pisse über die heißen Steine gegossen hatte.
Mrs. Butler wusste, um welches Zimmer es sich handelte ...
In dem Traum war sie gestorben, doch als sie den letzten Atemzug tat, stieg ihr Bewusstsein über dem Grauen auf und beobachtete, wie die Männer ihre Leiche aus dem Haus auf die Felder schleiften, wo sie mit Hacken zerkleinert und in die Erde gehauen wurde ...
Als Mrs. Butler schließlich das Licht ausschaltete, zerriss eine Donnersalve die Luft so heftig, dass sie aufschrie.
Zitternd und verängstigt lag sie unter der Decke, trotzdem spürte sie Feuchtigkeit zwischen den Beinen, und ihre Brustwarzen sehnten sich danach, geleckt zu werden. Als weitere Blitze zuckten, kreischte sie erneut, weil sie vermeinte, die Umrisse von Gestalten an der Wand zu erkennen, als befände sich vor dem Fenster jemand, der hereinschaute.
Es ist nur das Haus ... Es kann mir nicht wehtun ...
Und sie hatte recht. Das Haus würde ihr nicht wehtun. Es würde sie lediglich eine Zeit lang benutzen.
V
Jiff lief zu Fuß vom Nagel nach Hause, als Buster das Lokal schloss. »Scheiße, Jiff, du hättest nicht so lange bleiben sollen – du bist hackedicht!«
»Ja, Mist, ich weiß.«
»Zieht dich irgendwas runter?«
»Ne ...«
»Du verarschst mich doch, Jiff, aber verdammt, geht mich ja nichts an«, meinte der große Barkeeper. Der auf das Dach prasselnde Regen hörte sich wie Kieselsteine an.
»Lass mich dir ein Taxi rufen. Es schüttet in Strömen.«
»Ne, ich geh zu Fuß ...« Jiff stieß die Tür auf und ließ sich vom Regen durchtränken. Er lief schwankend, taumelnd.
Ja, er war tatsächlich ziemlich betrunken.
Und in Wahrheit hatte er die Bar deshalb nicht früher verlassen ... weil es ihm Unbehagen bereitete, zur Pension zurückzukehren.
Der Regen goss in Strömen, aber das störte ihn nicht. Er hätte reichlich Geld für ein Taxi gehabt, entschied sich jedoch dagegen, eines zu rufen, weil er es alles andere als eilig damit hatte, nach Hause zu gelangen.
Das Haus hatte einen seiner Anfälle, und Jiff ahnte bereits, was für Träume ihn erwarteten, sobald er sich ins Bett legte. Wenn ich besoffen genug bin, erinner’ ich mich vielleicht nich’ an sie ...
Die Logik der Verzweiflung.
Bei jedem Blitzschlag erstarrte Jiff und griff nach einer Straßenlaterne, um das Gleichgewicht zu halten. War in dieser Stadt schon jemals jemand vom Blitz getroffen worden?
Bei mein’ Glück werd ich der Erste.
Schließlich boten ihm die Vordächer entlang der Number 1 Street etwas Schutz, wodurch sich seine Gedanken allerdings nur auf sein trostloses, schäbiges Leben konzentrierten. Jiff hatte es satt, billige Nummern in einer Schwulenbar zu schieben und die Böden seiner Mutter zu wienern ... gleichzeitig jedoch wusste er, dass er kaum mehr verdiente. Wieso kann ich nich’ anständig Geld verdienen wie andre Leute auch? So betrunken er sein mochte, er besaß die Geistesgegenwart, näher in Richtung der Geschäfte zu wanken. J. G. Sutes Haus lag unmittelbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mit eingezogenem Kopf torkelte er weiter, so schnell er konnte. Ein Seitwärtsblick nach oben ließ ihn Sutes Schlafzimmerfenster erkennen, stockfinster, doch nach einem weiteren Blitz ...
Großer Gott! Is’ er das? Sitzt er dort?
Jiff lief schneller.
Als er sich weit genug entfernt befand, dachte er: Ich bin ja echt ’n toller Stricher. Sute war sein treuester Stammkunde und seine zuverlässigste Einnahmequelle, trotzdem hatte Jiff dem armen Teufel die rote Karte gezeigt. Er konnte die ekligen Perversionen einfach nicht mehr ertragen.
Wahrscheinlich heult sich die arme fette Sau da oben grad die Augen wund.
Pech.
Außer in einer Badewanne war Jiff noch nie so nass gewesen wie nun, als er schließlich den Hang hinaufschlingerte und in den Vorraum eilte.
Er spähte durch die Verglasung der Innentür und erblickte das Porträt von Harwood Gast, der ihn direkt anzustarren schien.
Warum hab ich nich’ den Mumm, einfach aus diesem verrückten Haus auszuziehen?
Hinter ihm hörte sich der Donner an, als wolle er den Himmel zerreißen. Hatte er je zuvor etwas so Lautes gehört?
Jiff harrte eine weitere halbe Stunde im Vorraum aus, bis er endlich den Mut aufbrachte, einzutreten.
VI
»Was für ein hübsches Zimmer«, meinte Dominique, als Collier sie hineinführte.
Du wärst überrascht, wollte er sagen. Aber er stellte fest, dass ihre Gegenwart seine Ängste ein wenig entschärfte.
Etwas klickte; sein Kopf wirbelte herum.
Dominique zündete eine von mehreren Kerzen an, die auf dem Schrank standen. »Nur für den Fall, dass ...«
Mit einem dumpfen Laut gingen alle Lichter gleichzeitig aus, begleitet vom bislang grellsten Blitz.
Rings um den Docht schwebte eine Lichtkugel. Dominique zündete zwei weitere Kerzen an. »Dein Wunsch hat sich erfüllt«, scherzte sie.
Der Wechsel von elektrischem zu Kerzenlicht legte einige von Colliers Nerven blank. »Mein Wunsch?«
»Spukhaus, dunkle und stürmische Nacht ... und jetzt auch noch ein Stromausfall.«
»Das ist nicht ganz, was ich mir gewünscht habe.« Spannungsgeladener als in jenem Moment hätte die Atmosphäre kaum sein können. Das Unwetter ließ die Balkontüren klappern.
Dominique kam um das Bett herum und küsste ihn überraschend. »Ich bin so müde, dass es kaum zu glauben ist.« Damit setzte sie sich und trat sich die Schuhe von den Füßen.
Ist das ihre Art, mir mitzuteilen, dass sie zu müde ist, um rumzuknutschen? Wenn Collier ehrlich sein wollte, musste er zugeben, dass er sich ohnehin nicht in der Stimmung dazu fühlte. »Ist doch klar, dass du müde bist.« Er versuchte, seine Gedanken vom Haus abzulenken. »Du warst um halb acht in der Kirche, hast hundert von Chattanoogas Obdachlosen mit Essen versorgt und dann noch während des Hochbetriebs am Abend gearbeitet.«
»Ich werde im Nu eingeschlafen sein ...«
Ohne zu zögern, knöpfte sie ihre Bluse auf.
»Soll ich mich umdrehen?«, bot er an.
»Nein. Ich hab dir ja gesagt, dass ich dir vertraue. Allerdings werde ich nicht nackt schlafen, wie ich es sonst immer tue. Sonst würdest du wirklich denken, ich will dich bloß zum Spaß aufgeilen.«
»Oh nein, nein, das würde ich nicht ...«
Sie lächelte im Kerzenschein, streifte ihre Bluse ab und entblößte zwei perfekte Brüste in einem dünnen BH mit weißen Spitzen. Dann stand sie auf und schlüpfte aus ihrer Arbeitshose.
Das bringt mich um ...
Als sie sich im Kerzenlicht umdrehte, konnte er durch den BH ihre Brustwarzen und durch den Slip Schambehaarung erkennen. Das Licht meißelte die Konturen ihres Körpers in ein Wunderwerk aus makellosen weiblichen Rundungen und messerscharfen Kontrasten zwischen Schatten und Haut.
Dominique ließ sich auf die Matratze fallen und wippte darauf. »Was für ein herrliches Bett!«
Nicht das Bett ist das Problem mit diesem Zimmer, dachte Collier bei sich.
»Und erst diese Kissen!« Ihr Hinterkopf sank mitten in eines davon. Ein anderes drückte sie an sich wie ein kleines Mädchen einen Teddybären. Sie grinste zu ihm empor. »Ich kann’s kaum erwarten, das Bett mit dir zu teilen.«
Leider wusste Collier, was das bedeutete: schlafen. Seine Gedanken entglitten ihm. »Du bist ... so wunderschön ...«
Das Grinsen schlug in eine ernste Miene um. »Tut mir leid, dass aus dieser Nacht nicht das werden kann, was du wirklich willst.«
»Du wärst überrascht, was ich wirklich will ...« Beinahe hätte er gestöhnt, als sie die Beine ausstreckte und auf den Laken mit den Zehen wackelte.
»Komm ins Bett. Lass uns kuscheln.«
Collier ging mit einer Kerze ins Badezimmer, zog sich bis auf die Unterhose aus und putzte sich anschließend in der Hoffnung die Zähne, einen vermutlich fürchterlichen Biergeschmack loszuwerden. Als er ins Zimmer zurückkehrte, lag sie bis zum Nabel unter der Decke. Ihr Kreuz funkelte im Kerzenschein wie ein winziger Kamerablitz.
»Soll ich die Kerzen ausmachen?«, fragte er.
Donner grollte, gefolgt von weiteren heftigen Blitzen.
»Besser nicht«, meinte sie.
»Ganz deiner Meinung.«
Collier kroch zu ihr unter die Decke, und sie schlangen sofort die Arme umeinander. Die Wärme ihres Körpers und das Gefühl ihrer Haut berauschten ihn mehr als all das Bier. Ihre flache Hand legte sich auf seine nackte Brust direkt über seinem Herzen. Collier wusste, dass es raste.
Sie küssten sich, tauschten ihren Atem aus. Selbst nach einem Tag harter Arbeit duftete ihr Haar noch, und es wirkte auf ihn wie eine Droge.
»Oh verdammt«, murmelte sie plötzlich.
Allein durch ihre Nähe drehte sich in Colliers Kopf alles. »Was ist?«
»Das muss wirklich fürchterlich für dich sein. Für die meisten Menschen ist das ungewohnt. Es gilt nicht als normal.«
»Es geht mir gut ...«
»Ich weiß zwar, dass ich nie gegen mein Zölibat verstoßen werde, aber würde ich es tun, wärst du derjenige, den ich mir dafür aussuchen würde.«
Es war einerseits das Schlimmste, was sie hätte sagen können, zugleich jedoch auch das Beste.
Dann schlich sich ein scherzhafter Tonfall in ihre Stimme. »Oder du könntest mich heiraten, aber davon rate ich eindeutig ab. Das wäre gefährlich.«
»Gefährlich?«
»Wahrscheinlich würde ich dich in unserer Hochzeitsnacht zu Tode vögeln.«
Ihr Schenkel lag zwischen seinen Beinen, und nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, zog sie ihn zurück, weil sich sein Penis schlagartig versteift hatte.
Ich liebe dich, ich liebe dich. Die Worte in seinem Geist schienen mit dem Kerzenlicht über die Wände zu flackern.
Er sollte sie aussprechen. Er wusste, dass er sie aussprechen sollte.
»Ich ...«
Doch Dominique war bereits mit dem Kopf auf seiner Brust eingeschlafen.
Der Donner und die Blitze hatten zumindest so weit nachgelassen, dass er nicht mehr bei jedem Krachen und Aufleuchten zusammenzuckte. Innerhalb weniger Minuten lockte ihn der Schlaf, aber immer wieder holten ihn Bilder und Worte zurück in angespannte Wachsamkeit: sein Traum von der Hure namens Harriet; »Böser Hund!«; kratz-kratz-kratz, als sich ein junges blondes Mädchen in dem Bach die Beine und vermutlich auch die Scham rasierte; »Gast ließ seine beiden Töchter lebendig begraben, dann kümmerte er sich um die Ermordung von Jessa und die Massenvergewaltigung und anschließende Hinrichtung seiner Frau mit der Axt«; Pferde, die Gefangenenwagen auf eine Rauchwolke zuzogen; »Ich hab gehört, dass sie alle Sklaven getötet haben, sobald sie fertig waren. Fast hundert.«; ein gereizter Mann mit einer Nase aus Gold beim Ausstellen von Schecks; »Er ließ eine komplette Bahnstrecke nach Maxon bauen und nahm den Hochofen für den ausschließlichen Zweck in Betrieb, Unschuldige zu verbrennen.«; die Daguerreotypie einer wunderschönen Frau mit rasierter Scham und einem einzelnen Muttermal etwa zwei Zentimeter über der Klitoris; »Gerüchten zufolge ist der Hund entkommen und wurde nie wieder gesehen. Aber Sie können sicher sein ... er ist mit vollem Magen entkommen.«
Collier stöhnte angesichts der Bilderflut hörbar, die Augen zugepresst. Weitere Einzelheiten stürmten auf ihn ein. Im Zimmer links neben meinem wurde ein Mann in einer Sitzwanne ertränkt, und sein Pimmel wurde in den Nachttopf geworfen, und im Zimmer rechts hat Penelope Gast eine Axt zwischen die Beine bekommen.
Und in DIESEM Zimmer ...
Collier spürte ein Brodeln im Bauch. All die Geschichten von Sute und all das Bier schienen plötzlich ein Loch in ihn zu brennen. Wahrscheinlich war auch die Rattenwurst nicht besonders hilfreich gewesen.
Trotz des Donners hörte er seinen eigenen Herzschlag neben dem von Dominique und sogar das Ticken seiner Uhr. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, ein Hund sei im Raum, und wenn er sie öffnete, schien sich das Muster der Tapete in etwas zu verwandeln, das an Bahngleise erinnerte. Geh nach unten und hol dir etwas zu essen, ging ihm durch den Kopf. Irgendetwas Schlichtes würde vielleicht dabei helfen, seinen Magen zu beruhigen.
Aber wollte er wirklich an diesem großen Porträt von Harwood Gast vorbei? Oder was, wenn er Windom Fecory sähe, der an dem Schreibtisch Schecks ausstellte?
Herrgott ...
Er wusste, dass es nur seine Einbildung war, als er abgestandenen Urin zu riechen glaubte.
Behutsam glitt Collier unter Dominique weg, streifte seinen Morgenrock über und schlich mit einer Kerze in der Hand aus dem Zimmer.
Mittlerweile war es zwar spät, dennoch beruhigten ihn gewisse Geräusche, die er im Flur vernahm: Stimmen von Gästen, Geplapper aus einem Fernseher, sogar quietschende Bettfedern aus dem Zimmer der Frau aus Wisconsin. Gedämpftes Grollen folgte ihm nach unten – er schaute weder zum Porträt noch zum Tisch –, dann durchquerte er den Speisesaal zur Küche.
Natürlich funktionierte kein Licht, und der Schein der Kerze ließ die lange Küche winzig wirken. Collier nahm sich ein Stück Teekuchen aus dem Kühlschrank, probierte einen Bissen und ...
Scheiße!
... ließ ihn fallen.
Irgendwo entfernt im Haus hörte er einen Hund.
Blödsinn. Ich hab gar nichts gehört.
Er starrte zum dunklen Eingang, der zu den hinteren Gebäudetrakten führte. Die Stimme eines kleinen Mädchens sagte in gehässigem, schnippischem Tonfall: »... rituelle Grausamkeiten und die Opferung von Unschuldigen sind nichts Neues ...«
Dann folgte das Klatschen von nackten, wegrennenden Füßen.
Diesmal irrte er sich nicht. Das hab ich doch schon mal gehört ...
Es waren Sutes Worte von diesem Nachmittag, aber es war eindeutig nicht Sutes Stimme.
Colliers Augen weiteten sich, als er die Kerze vor sich hielt und durch den Eingang trat.
Der Gang fühlte sich wie ein Grabgewölbe an. Das trübe, an den Wänden flackernde Kerzenlicht vermittelte den Eindruck, der Flur bewege sich an ihm vorbei statt er sich durch den Flur hindurch. Ein Fenster am entfernten Ende leuchtete kurz auf, als es draußen heftig blitzte. Die dunklen Gemälde an den Wänden und die Reihe geschlossener Türen konnte er kaum ausmachen.
Jäh blieb Collier stehen.
Eine andere Stimme, nur ein Flüstern: »... eine Opfergabe an den Teufel ...« Dann ein verhallendes Lachen.
Diesmal hatte es sich nicht um die Stimme eines Kindes gehandelt, sondern um die einer erwachsenen Frau mit ausgeprägtem, unterschwellig laszivem südlichem Akzent.
Was danach folgte, war eine so völlige Stille, wie Collier sie noch nie erlebt hatte.
Hände schnellten aus der Dunkelheit hervor, packten Collier am Morgenrockkragen und zerrten ihn durch eine plötzlich offene Tür ...
Collier schrie auf. Die Kerze fiel ihm aus der Hand und erlosch.
»Kommen Sie hier rein!«
Der Schreck fuhr ihm gleichzeitig mit dem nächsten Blitz mitten ins Herz. Er fiel mit seinem unbekannten Häscher auf ein Bett. Nackte Angst schnürte ihm die Kehle zu.
Es war Mrs. Butler, die neben ihm zitterte. Voll blankem Grauen schlang sie die Arme um ihn.
»Großer Gott, Mrs. Butler! Ihretwegen hätte ich beinahe einen Herzinfarkt bekommen!«
»Hilfe, ich habe solche Angst! Die Blitze ...«
Verärgert versuchte Collier, sie zu beruhigen. »Keine Bange. Das ist nur ein Sturm ...« Er sah sich in dem Raum um, der offensichtlich ihr Schlafzimmer darstellte, hübsch mit Antiquitäten eingerichtet. In jedem Winkel flackerten Kerzen.
»Mrs. Butler, haben Sie etwas gesagt, als ich auf dem Flur war? Etwas über den Teufel?«
»Den ... gütiger Himmel, nein!« Ihre um ihn geschlungenen Arme bebten. »Aber jemand anders hat es getan ...«
»Sie haben auch eine Stimme gehört?«
Das Baumwollnachthemd klebte vor Schweiß an ihrem Busen. »Das war sie ...«
Sie. Also hat sie es auch gehört, dachte Collier. »Sie? Wer?«
Die Frau richtete sich auf. Das graue Haar fiel ihr zerzaust um die Schultern. Etwas zwang Collier, den Blick auf die Brüste und den Bauch zu richten, die sich unter dem feuchten Nachthemd der alten Dame abzeichneten.
Wie eine Traumwandlerin bewegte sie sich auf das Fenster zu.
»Mrs. Butler?«
Der nächste Blitz erhellte kontrastreich ihre Silhouette am Fenster. »Ich liebe diese Stürme einfach ...«
Collier runzelte die Stirn. »Mrs. Butler, geht es ihnen gut?«
»Oh ja, Mr. Collier.« Als die Worte ihren Mund verließen, streifte sie die Träger ihres Nachthemds ab, ließ es zu Boden gleiten und stieg heraus. Gleich darauf stand sie unmittelbar vor Collier.
Er starrte auf den im Kerzenlicht vor Schweiß glänzenden Körper.
Nein ...
»Es ist nur ... das Haus, sonst nichts«, sagte sie gedehnt.
»Was?«
Ihre Finger verschränkten sich hinter seinem Kopf und zogen ihn zu ihr, als sie sich leicht vorbeugte, bis sich eine Brustwarze direkt vor seinem Gesicht befand.
Ohne nachzudenken, nahm er den Nippel in den Mund und saugte daran.
»Oh ja, genau so ...«
Mehrere Minuten lang ließ er sein Gesicht und seinen Mund ihre Brüste genießen, bevor ihn ein innerer Ruck durchlief, und er dachte: Was mache ich denn da?!
Du geilst diese durchtriebene alte Schlampe für eine TOLLE Nummer auf – das machst du, du Vollidiot, antwortete seine böse Seite.
Doch Collier wusste, dass er nicht weitermachen konnte, obwohl sich seine Erektion mittlerweile überdeutlich zeigte. Dominique, dachte er.
Zur Hölle mit dem frigiden, abgehobenen Miststück, verdammt! Jetzt sei ein Mann und besorg’s diesem alten Flittchen!
Mrs. Butler seufzte, dann kletterte sie auf Colliers Schoß und drückte ihn zurück. »Saug heftiger daran, Schätzchen. Ich weiß, dass du es willst, seit du mich in der Nacht damals durch das Guckloch beobachtet und dir dabei einen runtergeholt hast.« Damit schob sie sich nach vorn und drückte ihm ihre Brüste ins Gesicht.
Statt sich zu wehren ... tat Collier, was sie verlangte.
»Ja, das gefällt dir, nicht wahr?«
Ungeachtet ihres Alters waren es die schönsten Brüste, die Collier je gesehen hatte. Er tauchte in eine Traumwelt ein, in der Brustwarzen gleichbedeutend mit Glückseligkeit waren.
Dann erneut ein Ruck: Das ist Wahnsinn!
Sie begann, ihn aufs Bett zu ziehen.
»Mrs. Butler, das ist Wahnsinn!«, rief er. »Das können wir nicht tun!«
»Wir tun es schon, Schätzchen ...«
»Hier läuft etwas ernsthaft falsch. Dieses Haus ...«
»Pst ...« Sie lag bereits auf dem Rücken, und ihre Hände zogen an ihm.
Nein! »Mrs. Butler, Sie haben gesagt, Sie hätten vorher eine Stimme gehört. Was genau haben Sie gehört?«
Ihre Beine teilten sich. »Eine Stimme. Ach, vergiss das ...«
Collier war im Begriff, die Flucht zu ergreifen, bis ihre Hände ihn noch leidenschaftlicher berührten ...
»Komm her, mach schon ...«
Collier schauderte, dann ließ er sich auf sie ziehen. Einmal schaute er auf und sah Lottie nackt an der Tür stehen. Sie beobachtete das Geschehen mit starrem Blick. Dabei berührte sie sich zwischen den Beinen ...
Ja, Mann!, jubilierte sein Alter Ego. Sieht so aus, als wird es eine Nacht mit einem flotten Dreier!
Die Vorstellung berauschte Collier. Er versuchte zwar, sich aufzurichten, aber ...
Das Haus ließ ihn nicht.
Colliers Gesicht sank zurück auf die Brüste der alten Frau. Dann knarrte das Bett, als Lottie hereinstieg.
»Kleine Huren seid ihr, alle beide«, krächzte die Stimme eines Mannes, schwärzer als Kohle. »Seht euch nur an. Ihr habt euch die Bäuche mit ihrem Samen füllen lassen – von Männern, die für mich arbeiten, von Männern, die mein Geld nehmen und mich dann hinter meinem Rücken betrügen. Aber was war bei einer so verabscheuungswürdigen Dirne von einer Mutter schon anderes zu erwarten? Wir dürfen nicht zulassen, dass solche Dirnen weiterleben ...«
Collier biss die Zähne zusammen.
Hör nicht hin! Komm einfach zur Sache!
Ein junges Mädchen: »Bitte, Vater, nicht!«
»Oh nein, ich werde euch nicht töten. Das lasse ich die Erde erledigen ...«
Die Stimmen schienen von überall im Raum zu kommen.
Hör nicht hin!
Dann gedämpfte Kinderschreie ...
Abermals schaute Collier auf, und diesmal erblickte er Jiff an der Tür – nackt, erregt. Auch er kletterte auf das Bett ...
Als Mrs. Butlers, Lotties und Jiffs Hände begannen, ihn zu streicheln, packte Collier seinen Morgenrock und wankte auf die Tür zu.
»Wo willst du denn hin?«, rief Mrs. Butler.
»Ach, kommen Sie schon, Mr. Collier«, sagte Jiff enttäuscht. »Wir könn’ ’n richtigen Vierer schieben ...«
Collier rannte hinaus, als flüchte er vor einer Feuersbrunst. Nunmehr ohne Kerze stolperte er durch den nahezu lichtlosen Korridor. Blind zog er seinen Morgenrock wieder an und ertastete sich den Weg in die Vorhalle. Was geschieht nur mit mir?
Nicht mit mir. Es ist das Haus.
Als er feststellte, dass er sich mitten in der Vorhalle befand, blieb er stehen. Der Sturm schien mittlerweile nachzulassen, die Blitze wirkten weniger grell. Doch bei jedem Aufleuchten der Helligkeit ertappte er sich dabei, zum Porträt von Gast emporzustarren.
Das Haus ...
War es nur Suggestion, oder hatte Harwood Gast tatsächlich seine Haltung und seine Miene geändert? Der Plantagenbaron schien das Gesicht verzogen zu haben und statt hinaus zu dem Baum nach links zu schauen ...
Collier schwenkte den Blick nach links.
Und sah den alten Schreibtisch ... und das kleinere Porträt von Penelope.
Langsame Schritte trugen ihn hinüber, während sich seine Augen weiteten. Der nächste Blitz offenbarte ihm alles, was er auf dem kleinen Gemälde erkennen musste.
Das Bild zeigte nur eine Landschaft mit Bäumen im Hintergrund – von Penelope Gast fehlte jede Spur, als wäre sie nie darauf gemalt worden.
Erklang der ausgeprägte, südliche Akzent nur in Colliers Kopf?
»Es ist nicht das Haus«, flüsterte die Stimme von überallher.
Collier taumelte auf die Treppe zu.
»Ich bin es ...«
Mit beiden Händen auf dem Geländer bahnte er sich den Weg nach oben. Seine Augen hatten sich noch kaum an die Verhältnisse angepasst. Nachdem er sich durch endlos scheinende Dunkelheit getastet hatte, fand er endlich sein Zimmer.
Er schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Ich hab echt die Schnauze voll von diesem Haus, dachte er und hyperventilierte beinahe, doch gleich darauf spürte er, dass etwas nicht stimmte.
Die Kerzen ...
Als er das Zimmer verlassen hatte, waren zwei Kerzen angezündet gewesen. Nun war nur noch eine da.
Collier ergriff sie und beleuchtete das Bett.
Dominique war verschwunden.
Collier verfluchte sich. Verdammt! Wahrscheinlich hat sie der Sturm geweckt; dann hat sie gesehen, dass ich nicht hier war, hatte Angst und ist gegangen.
Aber ...
Ihre Arbeitshose und ihre Bluse hingen über dem Stuhl. Dann bemerkte er beunruhigt, dass ihr Silberkreuz vom Bettpfosten baumelte.
Dasselbe galt für ihren BH und ihren Slip.
Collier zog daraus einen nüchternen, wenngleich unglaublichen Schluss. Sie ist nicht hier, aber ihre gesamte Kleidung sehr wohl. Was bedeutet, dass sie irgendwo im Haus ist ... nackt.
Das Unwetter hatte nachgelassen. Collier versuchte, nachzudenken ...
Plötzlich vernahm er so etwas wie ein gedehntes Platschen, als würde ein Eimer Wasser geleert.
Collier hatte dieses Geräusch schon einmal gehört.
Es stammte aus dem Raum nebenan. Das Badezimmer ...
Mittlerweile kannte Collier den Ablauf.
Als er die Kerze ausblies, überraschte es ihn nicht, einen Lichtpunkt an der Wand zu erkennen: das Guckloch. Er sank auf die Knie und spähte hindurch.
Kerzenlicht flackerte, zwar nicht viel, aber genug. Dominiques wunderschöne Scham tauchte auf, das Dreieck ihrer dunklen Behaarung unübersehbar. Sie ließ sich in die Sitzwanne gleiten.
Collier beobachtete das Geschehen, das Auge vor dem Loch erstarrt.
Dominique hielt keine Seife in der Hand, sondern Colliers Dose mit Rasiergel. Ihre Finger drückten eine mittelgroße Menge davon in die Schambehaarung, dann begann sie, das Gel zu einem dichten weißen Schaum zu massieren.
Sie will sich den Intimbereich rasieren, setzte die langsame Erkenntnis ein. Damit hatte Collier grundsätzlich kein Problem, nur ...
Warum will sie sich in einer gottverdammten Sitzbadewanne aus der Bürgerkriegszeit während eines Stromausfalls den Intimbereich rasieren?
Als Nächstes drang ein weiteres Geräusch, das er schon einmal gehört hatte, an seine Ohren.
... kratz-kratz-kratz ...
Sie verwendete nicht Colliers Einwegrasierer. Es handelte sich um ein altmodisches Rasiermesser mit gerader Klinge.
Als sie fertig war, stieg sie aus dem Sitzbad und tupfte sich mit einem Handtuch trocken.
Selbst im matten Kerzenlicht schien ihre sauber und frisch rasierte Scham weiß zu strahlen, aber ...
Was macht sie denn jetzt?
Sie hatte etwas anderes zwischen den Fingern, eine kleine, flache Kassette, die sie rasch aufklappte.
Eyeliner.
Collier hielt es kaum noch aus. Was macht sie denn JETZT?
Dann ...
Klack!
Der Strom ging wieder an, und der Raum gleißte vor Licht.
Vernunft kehrte zurück. Collier rannte aus dem Raum und nach rechts zu dem Badezimmer.
»Dominique, was um alles in der Welt ...«
Sie stand ihm zugewandt da, allerdings mit gesenktem Kopf; offenbar hatte sie nicht bemerkt, dass er eingetreten war.
Collier war völlig perplex durch ihren unverhofften nackten Anblick. Er konnte sie nur mit offenem Mund anstarren.
Das grelle Licht betonte jedes noch so kleine Detail ihrer Rundungen und weiblichen Merkmale, die athletischen Beine, die runden Hüften, den flachen, weißen Bauch, dralle, weiße Brüste, so aufrecht, dass sie wie durch Implantate gestärkt wirkten.
Und was machte sie da?
Mit zwei Fingern führte sie den Eyeliner-Pinsel, tauchte ihn in den Tiegel mit dunklem Make-up und malte damit äußerst behutsam einen einzelnen, winzigen Punkt in ihren Schambereich, etwa zwei Zentimeter über der Klitoris.
Dann ließ sie die Kunststoffkassette fallen und sah ihn unverwandt an.
Collier spürte einen Kloß im Hals, als er begriff. Rasierte Scham mit einem kleinen Muttermal über der Klitoris ...
Die Daguerreotypie flammte in seinem Geist auf.
Sie hat sich so hergerichtet wie sie ...
»Wer sind Sie?«, fragte sie, als wäre sie überrascht.
Dominique hatte keinen Südstaatenakzent, die Stimme aber, die jetzt aus ihrem Mund drang, hatte ihn ...
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Sir. Wer, in Dreiteufelsnamen, sind Sie, und warum stehen Sie uneingeladen in meinem Haus?«
»Komm mit!«, erwiderte er barsch und zog sie aus dem kleinen Raum.
»So behandelt man die Herrin dieses Hauses nicht, und Sie können sich darauf verlassen, dass ...«
»Halt die Klappe und geh da rein!«
Collier stieß sie zurück in sein Zimmer. »Wir verschwinden von hier ...« Er ergriff ihre Kleider und drückte sie ihr in die Arme. »Zieh das an!«
»Das ist nicht meine Kleidung, Sir! Und falls Sie einer der Arbeiter meines Gemahls sind, können Sie darauf wetten, dass er von diesem unerhörten Eindringen in mein Haus erfahren wird!« Sie ließ die Kleider fallen. »Tatsächlich werde ich es ihm auf der Stelle erzählen. Und wo steckt Jessa, verflucht noch eins? Hat Jessa Sie hereingelassen?«
Splitternackt schob sie sich an ihm vorbei, doch als ihre Hand auf dem Türknauf landete ...
»Ach herrje ... vielleicht bin ich etwas voreilig.« Sie drehte sich zurück zu ihm. Als sie sich an die Tür lehnte und gerade Haltung einnahm, richteten sich ihre nackten Brüste noch weiter auf.
Heilige Scheiße ...
Ihr Blick bohrte sich regelrecht in ihn. »Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, Sie sind ein gut aussehender Mann. Ich bedauere, dass wir uns bisher noch nicht kennengelernt haben. Sind Sie einer der Vorarbeiter meines Gatten?«
Collier hätte am liebsten geweint, als er sich zwang, den Blick von ihrem prachtvollen Körper abzuwenden. »Dominique, wir müssen weg!«
Sie hob einen zierlichen Finger. »Bestimmt arbeiten Sie für Mr. Cutton, richtig?« Wieder fiel Collier ihr starker Akzent auf. »Oder vielleicht sind Sie ihm übergeordnet. Ich muss schon sagen, er ist ein fabelhafter Mann ...« Langsam kam sie auf Collier zu. Dabei ging ihre Unschuldsmiene in etwas Durchtriebenes über. »Sagen Sie, Sir, wie fabelhaft sind Sie? Und auf welche Weise?«
Collier zuckte zusammen, als sie ihre warme Hand unter seinen Morgenrock schob und seine Brust hinaufwandern ließ. Ihre Berührung elektrisierte ihn; dann küsste sie ihn ...
Die Stimme seines Alter Ego meldete sich zu Wort. Wie’s aussieht, darfst du bei der Zölibatsfanatikerin doch noch ran ...
Ihr Mund saugte an seiner Zunge.
Das ist nicht sie, das ist nicht sie, redete er auf sich ein.
Du solltest sie am besten sofort durchvögeln ...
Doch Collier wusste, das konnte er nicht.
In dem Moment glitten ihre Hände hinunter zwischen seine Beine.
»Mmm, ja«, murmelte sie leise. »Sie sind eindeutig ein Mann, der die Bedürfnisse einer Dame spürt.« Damit öffnete sie den Morgenrock und presste sich an ihn. Ihre Brustwarzen fühlten sich wie heiße Münzen an.
»Nur sind wir hier im Zimmer meiner Töchter – und Gott allein weiß, wo sie sich um diese Uhrzeit herumtreiben. Sie sind wohl unterwegs und tun, was kleine Mädchen eben so tun, wahrscheinlich mit ihrem lästigen Hund. Aber wir mussten ihnen das Tier schenken. Sie haben keinen nennenswerten Freundeskreis und passen durch unsere gehobene gesellschaftliche Stellung nicht gut zu den anderen Kindern im Ort.«
Collier erschauderte mit geschlossenen Augen, während ihre Hände weiter mit ihm spielten.
»Oh, aber ich schweife ab«, flüsterte sie an seinem Hals. »Ziehen wir uns in den Raum nebenan zurück, ja? Das ist mein ... geheimes Zimmer, ausschließlich meinem Vergnügen vorbehalten.« Sie versuchte, ihn zur Tür zu ziehen.
»Nein«, presste Collier zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sie hielt inne und seufzte. »Womöglich sind Sie nervös, was ich verstehe – das sind anfangs viele meiner Männer. Aber wegen meines Gemahls brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Er ist gerade unterwegs nach Maxon und kommt nur etwa einmal im Monat nach Hause.«
Sie schmiegte sich noch enger an ihn.
Collier spürte die Ungeduld seines dunklen Ichs.
Jetzt hör mal gut zu, Kumpel. Wenn du diese supersüße Schnitte nicht auf der Stelle fickst, bis ihr Hören und Sehen vergeht, bist du eine Schande für die gesamte Männerwelt ...
»Zieh deine Kleider an«, forderte er sie auf und schob sie von sich. »Wir müssen gehen ...«
»Na schön.« Sie ignorierte ihn. »Wenn Sie nicht nach nebenan wollen, dann tun wir es eben hier«, meinte sie und begann, ihm den Morgenrock auszuziehen.
Collier schlug ihre Hände weg. »Wir gehen!«, brüllte er sie an. »Sofort!«
Was für ein Loser, gab sich sein Alter Ego geschlagen. Ich geb’s auf ...
Collier packte sie an den Schultern und schüttelte sie.
»Dein Name ist Dominique Cusher! Du bist Braumeisterin und im Zölibat lebende Christin. Dein Name ist NICHT Penelope Gast!«
Waren Dominiques Augen ... gelblich geworden? Hass und Abscheu ließen ihre Gesichtszüge sich anspannen, und dann ...
Rumms!
... wurde Collier aufs Bett geschleudert. Ihre nackten Schenkel fixierten seine Hüfte auf der Matratze so sicher wie eine Metallfessel, und ihre Hand ...
Collier rang nach Luft.
Ihre Hand drückte seine Kehle so kräftig zu, dass er glaubte, sie würde jeden Moment die Wirbel zerquetschen.
»Sie werden meine Gelüste befriedigen, Sir, oder ich bringe Sie um ...«
Ihre Kraft überstieg jede Vorstellungskraft. Als er ihren Unterarm packte, blieb dieser unverrückbar wie ein Stahlträger. Die Hand drückte weiter seine Luftröhre zu.
»Großer Gott, du bringst mich ja um!«, presste er hervor.
»M-hm.« Sie senkte ihren Unterleib. »Es sei denn, Sie ficken mich auf der Stelle ...«
Den Bruchteil einer Sekunde ließ sie seinen Hals los, und Collier konnte gerade noch rechtzeitig Luft einsaugen, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Er versuchte, sich aufzurappeln ...
Mit übermenschlicher Geschwindigkeit ergriff sie eines der Kissen und drückte es ihm mit beiden Händen auf das Gesicht.
Blind spürte Collier, wie seine Lungen begannen, sich zu weiten.
Ihr Akzent klang trotz der ordinären Worte so süß: »Sie werden mich ficken, Sir, und anschließend werden Sie Ihre Blase entleeren ...«
Collier zuckte krampfhaft.
»... oder ich ersticke Sie.«
Collier war nicht sicher, ob er das Bewusstsein verlor oder nicht. Ein Reflex ließ seine Faust in weitem Bogen nach oben schnellen; er spürte, wie seine Knöchel seitlich gegen ihren Kopf krachten.
Dominique fiel vom Bett.
Mit einem Ruck stemmte er sich in eine sitzende Haltung und heulte auf, als er die Luft einsog. Die schwarzen Punkte vor seinen Augen lösten sich auf. Er sah Dominique ausgestreckt auf dem Boden liegen, aber ...
Etwas Unidentifizierbares schien ihn zu bedecken. Das Kissen, mit dem sie ihn zu ersticken versucht hatte, war aufgeplatzt ...
Federn?
Er wischte sich die unangenehme Substanz aus dem Gesicht.
Was ist das für ein Zeug? Als Collier erkannte, dass es sich um Menschenhaar handelte, musste er sich beinahe übergeben.
Vorwiegend braun, jedoch mit einigen blonden und roten Strähnen dazwischen ...
Angewidert sprang er vom Bett auf, bewegte sich dabei wie ein Wahnsinniger. Dominique war nach wie vor bewusstlos. Rasch zog er sich an, dann drehte er Dominique auf dem Boden herum und kleidete auch sie an. Die Mühe, sie in ihre Unterwäsche zu zwängen, sparte er sich, doch als er innehielt und das am Bettpfosten funkelnde Kreuz bemerkte, ergriff er es und hängte es ihr um den Hals.
Colliers Adrenalin wog seinen Mangel an körperlicher Kraft hinlänglich auf. Er hievte sich Dominique über die Schulter und stapfte aus dem Zimmer.
Großer Gott ...
Der Gestank von Urin im Flur ließ ihm Wasser in die Augen schießen wie von Tränengas. Heftig blinzelnd kämpfte er sich einige Schritte voran, dann fühlte sich Dominiques bewusstloser Körper plötzlich schwer wie ein Sack Zement an. Collier blieb kurz stehen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren ...
Hörte er die Worte tatsächlich?
»Kommen Sie herein ...«
Er sah sich um und stellte fest, dass er unmittelbar vor der Tür zum Nebenraum stand.
Zimmer zwei.
Der Raum, der immer verschlossen blieb.
»Kommen Sie in mein geheimes Zimmer«, ertönte der starke Akzent.
Colliers Blick heftete sich auf den Türknauf. Der begann, sich ganz langsam zu drehen.
Etwas klickte ...
Die Stimme verfiel in säuselnden Tonfall.
»Kommen Sie herein, Sir, und erweisen Sie einer Dame einen Gefallen ...«
Die Tür schwang auf und offenbarte eine schwarze Leere. Der Gestank vervierfachte sich und fuhr Collier so heftig ins Gesicht, dass er beinahe rückwärts getaumelt und über das Geländer gekippt wäre, nach wie vor mit Dominique auf der Schulter.
Als er glaubte, eine wohlgeformte nackte Gestalt auszumachen, die aus dem Zimmer trat, wankte er weg.
Blindlings ergriff Collier die Flucht wie jemand, der durch Schlamm watet. Um ein Haar wäre er die Treppe hinuntergefallen, was ihn vermutlich nicht weiter gestört hätte, weil er so schneller unten gewesen wäre. Der Gestank folgte ihm, als würde er ihn regelrecht jagen.
Nur noch ein paar Meter!, brüllte ihm sein Verstand zu, als die Tür zum Vorraum aus der Düsternis auftauchte.
»Aber Sir«, erklang eine heisere Männerstimme. »Warum haben Sie Ihren Scheck nicht unterschrieben? Sie müssen wissen, dass ohne ihre Unterschrift kein Bargeld ausgezahlt werden kann ...«
Der dürre Mann, der an dem Schreibtisch saß und einen merkwürdigen roten Hut trug, sah beunruhigt aus.
Eine Goldnase blitzte auf.
Collier benutzte den Kopf, um die Tür zum Vorraum aufzustoßen, dann stürmte er durch die nächste Tür und taumelte hinaus in die Nacht.
Bevor sich die Tür hinter ihm schließen konnte, lockte ihn die laszive Frauenstimme noch ein weiteres Mal.
»Es war ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Collier. Ich hoffe, Sie kommen sehr bald wieder ...«
Collier hob Dominique ins Auto und fuhr los, das Haus hinter sich lassend. Im Innenspiegel glaubte er, flüchtig vier Gestalten zwischen den Säulen der Veranda zu erkennen, zwei davon klein, die anderen beiden größer.
Die Geräusche eines bellenden Hundes verhallten, als er davonraste.
Er parkte vor dem Restaurant. Die Stadt präsentierte sich dunkel und still.
Alles schien normal zu sein.
Dominique murmelte etwas in ihrer Bewusstlosigkeit, dann rollte sie sich auf dem Sitz zusammen, ohne aufzuwachen.
Ein letzter stummer Blitz kennzeichnete das Ende des Sturms. Colliers Adrenalinrausch ließ endlich nach. Dankbar fiel er in schwarzen, traumlosen Schlaf.