Kapitel 3

I

1857

Wenn N. P. Poltrock die Augen schloss, sah er verfaulte Schädel und Blut, das aus Kelchen getrunken wurde. Er sah von Äxten und Hacken abgetrennte Gliedmaßen und Männer und Frauen, die nackt und bei lebendigem Leib in rot glühende Kohlenglut geworfen wurden. Er sah Kinder, die von gesichtslosen Soldaten in steifen grauen Uniformen auf dem Boden vergewaltigt wurden; auf andere wurde lediglich masturbiert, bevor man sie erwürgte. Pferde, die alte Männer und Frauen an Schlingen um den Hals hinter sich herschleiften, kamen regelmäßig in das heiße, verrauchte Lager hereingaloppiert. Ebenso regelmäßig rollten große Gefangenenwagen vom nahe gelegenen Depot herein – Wagen so voll mit Geprügelten und Verhungernden, dass sie aus allen Nähten zu platzen schienen. Ein Soldat stach einem kleinen Jungen mit seinem Bajonett ein Auge aus, bevor er ihn in die Kohlenglut schleuderte. Ein Mädchen, höchstens vierzehn Jahre alt, aber hochschwanger, wurde hinterhergeworfen.

Das waren die Visionen, die die Dunkelheit hinter Poltrocks geschlossenen Augen erfüllten. Er hörte endlose Schreie und roch den Gestank von verbrannten Menschen.

Als er die Lider öffnete, stieg ihm kurz ein anderer Geruch in die Nase: der von altem Urin.

Krank.

Krank. So fühlte sich Poltrock seit dem Tag, als er bei Gast angeheuert hatte.

»Wir werden einhundert Streckenmeilen pro Jahr verlegen«, hatte Gast an jenem Tag zu ihm gesagt.

Nicht mit nur einhundert Arbeitern, unmöglich, hatte Poltrock bei sich gedacht, jedoch nicht auf diese Stimme gehört.

Gast hatte ihm dies im Arbeitszimmer des Herrenhauses mitgeteilt, in dem der Mann mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Es war ein wunderschönes Haus mitten in der Stadt, umgeben von Bäumen und voller Blumen.

Warum also roch Poltrock ständig Pisse?

Das Weiß in Gasts Augen wirkte gelblich, und es schien Poltrock, dasselbe auch bei anderen Männern bemerkt zu haben, die von Gast eingestellt worden waren.

Das bilde ich mir bloß ein. Ich bin nicht ganz auf der Höhe, das ist alles. Gestern Nacht habe ich nach dem langen Ritt einfach zu viel getrunken ...

Gast selbst sah aus wie das, was er war: ein stinkreicher Plantagenbesitzer aus dem Süden. Frack, Leinenhemd, Fliege und spitze Lederschuhe, die wie Öl glänzten. Er war groß und schlank, und die Linien in seinem Gesicht legten nahe, dass er über fünfzig sein musste. Die gestutzten Koteletten passten nicht zu den scharf geschnittenen Zügen und der äußerst ernsten Miene. »Ich habe bereits fünfzig Mann angeworben, die meisten davon die besten Bahnarbeiter im Staat«, beteuerte Gast. An der Stelle hatte er sich umgedreht und aus dem Erkerfenster geblickt. »Aber ich brauche noch einen Einsatzleiter. Sie.«

Poltrock schüttelte die verwirrenden Gedanken ab. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Mr. Gast«, sagte er in unverkennbar südlichem Dialekt. »Aber warum ich?«

»Weil Sie die großen Bahnstrecken in Ohio und Pennsylvania gebaut haben. Ich brauche einen Mann wie Sie, der meine Bauarbeiten leitet.«

Poltrock fühlte sich benommen. Unablässig betrachtete er die pompöse Einrichtung und die prächtigen Gardinen, die mit blühenden Blumen gefüllten Kristallvasen, doch dann kam ihm ein äußerst merkwürdiger Gedanke: All das verschleiert etwas ... Tatsächlich sah das Haus innen wie außen wunderschön aus, fühlte sich jedoch ... hässlich an. Verkommen. Wie ein kranker Mensch in feinen Kleidern.

Einen Moment lang – eigentlich nur den Bruchteil eines Moments – roch er abermals Urin. Aber sowie der Augenblick verstrich, verschwand auch der eindringliche Gestank.

Ein schwarzes Hausmädchen brachte ein Tablett voller Tassen mit Minztee herein. Sie sprach kein Wort, stellte das Service nur auf dem Schreibtisch ab, schaute einmal kurz zu Poltrock und ging wieder.

Bei dem Blick bemerkte Poltrock Augen, aus denen Angst sprach. Erneut schloss er die Lider, als ihn ein Anflug von Übelkeit überkam. Er konnte das Bild nicht abschütteln, das sich ihm aufdrängte: zwei kräftige weiße Hände um den Hals des Hausmädchens, und sie drückten zu, bis das dunkle Gesicht noch dunkler anlief, bis Adern dick wie Regenwürmer anschwollen und man das Knacken der Halswirbel hören konnte. Als die Hände losließen, ergoss sich ein Schwall Samenflüssigkeit aus dem offenen Mund der toten Frau.

Dann veränderte sich der Blickwinkel und offenbarte, wem die weißen Hände gehörten: Poltrock.

Gott steh mir bei, dachte er. Woher kommt diese abscheuliche Vision?

Poltrock hatte sich noch nie in seinem Leben etwas derart Schlimmes ausgemalt. Er war ein gottesfürchtiger Christ. Wieso hatte sich nun eine solche Vorstellung in seinen Kopf gestohlen?

Gast mit seinen gelblichen Augen drehte sich zu ihm um. Der Mann musste einen Leberschaden haben. »Arbeiten Sie für mich«, sagte er und reichte Poltrock einen Scheck.

Es handelte sich um ein fein gedrucktes Dokument auf grauem Papier. Zahlbar an: Mr. N. P. Poltrock, Mitarbeiter der East Tennessee & Georgia Railroad Company, fünfzig Dollar.

Das Unbehagen, das ihm das Haus bereitete, beeinträchtigte Poltrocks Reaktion. Eine Bewegung ließ ihn zur Tür blicken. Er konnte in die Diele sehen, wo ein unscheinbares jugendliches Mädchen in einem weißen Kleid auf der zweiten Stufe der Treppe saß. Sie streichelte einen Hund – ein kleines, abgrundhässliches Tier mit glanzlosem braunem Fell – und kraulte ihn hinter den Ohren. Kurz schaute das Mädchen zu Poltrock und lächelte geziert. Plötzlich befand sich der Kopf des Hundes unter ihrem Kleid.

Poltrock zuckte zusammen und wandte den Blick ab. Er erinnerte sich wieder an den Scheck, den er soeben erhalten hatte. Grundgütiger, das ist gutes Geld. »Nur, damit ich sicher bin, dass wir einander richtig verstehen, Mr. Gast: Sie haben also vor, einhundert Streckenmeilen pro Jahr mit einhundert Männern zu verlegen?«

»Ich habe einhundert Sklaven sowie fünfzig starke weiße Vorarbeiter und Eisenbahningenieure.«

»Ich verstehe. Also ... wie gesagt, Sir, einhundert Streckenmeilen pro Jahr. Von wo nach wo?«

»Von Camp Roan unmittelbar außerhalb der Stadt nach Maxon.«

»Maxon, Georgia, Mr. Gast?«

»Richtig.«

»Das liegt auf halbem Weg nach Atlanta, Sir.« Beinah wäre Poltrock lauter geworden. Die Vorstellung war absurd. »Das sind fünfhundert Meilen.«

»Dessen bin ich mir bewusst.« Gast drehte sich mit seiner Teetasse in der Hand wieder dem Fenster zu. Das durch die Bäume fallende Licht schien einen dunklen Nebel um seinen Kopf entstehen zu lassen. »Wie viele andere glaube auch ich, dass uns ein Krieg bevorsteht, Mr. Poltrock. Es wird ein großer Krieg, der unsere Bruderschaft im Süden zur stärksten Nation der Welt zusammenschmieden wird. Ich habe Vertraute, die überzeugt davon sind, dass eine solche Bahnstrecke unerlässlich für das Überleben des Südens in einem derartigen Krieg ist.«

Poltrock schüttelte den Kopf. Er glaubte kein Wort von diesem Kriegsgeschwätz. Der Kongress würde die Dinge für den Süden richten. Gast hat wohl vergessen, was die Bundesarmee vor nicht allzu langer Zeit mit Mexiko gemacht hat. Und wer mochten diese Vertrauten sein? Wahrscheinlich bloß Geldsäcke, weitere Plantagenbarone. Jede Menge Mittel und jede Menge großer Ideen.

Als er erneut in die Diele schaute, war das Mädchen mit dem Hund verschwunden, aber er hätte schwören können, von irgendwo im Haus das Kichern von Kindern zu hören. Und ...

Da war wieder dieser Geruch: der Gestank von Urin.

Es musste Einbildung sein, denn Gast nahm ihn eindeutig nicht wahr.

»Der Korridor durch Ost-Tennessee ist ideal«, fuhr Gast fort. »Bis Maxon brauchen wir keinen Penny für Grabungsarbeiten auszugeben, und wir müssen kaum Bäume fällen.«

»Das Einzige, was ich in Maxon kenne, ist die alte Waffen- und Kanonenrohrfabrik.«

Beeindruckt drehte sich Gast um. »Sie sind ein gebildeter Mann, Mr. Poltrock. Das stimmt.«

»Aber ich weiß auch, dass der Schmelzofen dort dauerhaft stillgelegt wurde. In Maxon wurde seit 1814 kein Gewehrlauf mehr hergestellt.«

Die gelblichen Augen wirkten verschwommen. »Auch damit haben Sie recht. Aber das ist weder für mich noch für meine Vertrauten von Interesse.«

Schon wieder diese Vertrauten, dachte Poltrock. Gast ist einfach nicht ganz richtig im Kopf, das ist alles. Es ist völlig verrückt, fünfhundert Meilen Gleise in eine tote Stadt zu verlegen.

»Überlassen Sie das ruhig uns«, fuhr Gast fort, »während wir Ihnen den Bau der Eisenbahn überlassen.«

Poltrock hielt seinen nächsten Einwand zurück, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Eine wunderschöne Frau in Weiß hatte den Raum betreten.

»Mr. Poltrock, gestatten Sie mir, Ihnen meine Frau Penelope vorzustellen.«

Jäh erhob sich Poltrock.

Ihr Anblick fesselte ihn. Zunächst sah er nur ein strahlendes Gesicht, umgeben von wuscheligem Haar in der Farbe von Sonnenlicht. Eine zierliche weiße Hand hielt elegant einen Fächer mit aufgestickten Rosen.

»Mrs. Gast«, brachte Poltrock mühsam hervor. »Es ist eine wahre Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Gleichfalls, Mr. Poltrock.«

Sie streckte eine Hand aus, die sich heiß anfühlte, als Poltrock sie ergriff. Plötzlich regte sich in seiner Hose eine schmerzhafte Erektion, die keinen Sinn ergab. Blumenduft schien von der Frau auszugehen. Poltrock wusste, dass er es nicht wagen durfte, sie anzustarren, doch ein verstohlener Blick offenbarte den Rest von ihr: eine Gestalt mit perfekten Rundungen in einem plissierten Turnürenkleid so weiß wie die Wolken. Es galt grundsätzlich als unhöflich, die Gemahlin eines anderen Mannes – vor allem eines wohlhabenden Mannes – direkt anzusehen, aber Poltrock stellte fest, dass er nicht anders konnte, als den Blick zu ihrem spitzenbesetzten Ausschnitt und dem beachtlichen entblößten Dekolleté zu senken.

»Ihr Mann und ich sprachen gerade über ...«

»Geschäftliches«, schnitt Gast ihm abrupt das Wort ab.

»Oh, ich weiß«, kam es in trällerndem Akzent von ihren Lippen. »Deine wichtige Eisenbahn, die dabei helfen wird, die südlichen Staaten zur mächtigsten Nation der Welt zu vereinen.«

»Dessen kannst du dir sicher sein, meine Liebe«, gab Gast zurück. »Meine Eisenbahn wird für den Süden wichtiger sein als das Bahndepot in Chattanooga.« Der Ausdruck in Gasts gelbstichigen Augen verriet, dass er die Unterbrechung missbilligte.

Penelope Gast wedelte mehrmals mit ihrem Fächer, wodurch einige Strähnen ihrer goldenen Haare aufwärtsgeweht wurden. »Isst Mr. Poltrock mit uns zu Mittag?«

»Selbstverständlich«, antwortete Gast, bevor Poltrock es tun konnte. »Aber wir haben noch geschäftliche Dinge zu klären, daher ...«

»Natürlich, Liebster«, sagte die Frau. »Einen schönen Tag noch, Mr. Poltrock.«

Poltrock schluckte und nickte. »Ihnen auch, Ma’am.«

Die atemberaubende Schönheit der Frau erschütterte Poltrock. Er hoffte, dass man ihm nichts mehr davon anmerkte, als er sich setzte und meinte: »Sie haben eine ausgesprochen kultivierte und gut aussehende Frau, Mr. Gast. Bestimmt sind Sie sehr stolz auf sie.«

»Das bin ich in der Tat, Mr. Poltrock.«

Poltrock glaubte nicht, dass sich seine Erektion erkennbar abzeichnete. Großer Gott, ich hoffe es. Erneut schloss er einen Moment lang die Lider ...

Schlagartig blähten sich seine Nasenflügel, und sein Magen krampfte sich zusammen – der Gestank von abgestandenem Urin umgab ihn wie ein dichter Nebel. Und dann ertönten die Worte:

»Sie ist eine Hure reinsten Wassers. Sie stinkt nach Pisse, nach Schwäche und nach Maßlosigkeit. Sie hat schon Dutzende Männer hinter meinem Rücken gefickt, manchmal sogar Sklaven. Lassen Sie sich gesagt sein, eines Tages werde ich dafür sorgen, dass sie an den Rand des Todes vergewaltigt wird, und anschließend spalte ich ihr persönlich mit einer Axt die widerwärtige Möse.«

Jäh riss Poltrock die Augen auf, doch als er sich im Arbeitszimmer umsah ...

Gast war verschwunden. Poltrock war allein.

Ein Frösteln überkam ihn. Zuerst diese abscheulichen Bilder und dann diese bösen Worte. Verrückt, dachte er. Das ist ein Irrenhaus ...

Was geschieht nur mit mir?

Ihm fiel auf, dass er immer noch den Scheck in der Hand hielt.

Gasts feine Lederschuhe klickten über den Hartholzboden zurück ins Zimmer. »Wie Sie sicher bemerkt haben, spielt sich meine Frau gerne in den Vordergrund. Bitte entschuldigen Sie die Störung unseres wichtigen Gesprächs.«

Poltrock versuchte, imaginäre Spinnweben von seinem Kopf zu schütteln. »Es tut mir leid, Mr. Gast, aber ich bin von meiner Reise wohl erschöpfter, als ich dachte. Ich bin so zerstreut. Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass Sie den Raum verlassen haben.«

»Ihre lange Reise aus Raleigh, ja – natürlich«, meinte Gast. »Ich habe meine Frau in die Küche begleitet. Sie bestand darauf, mir die Trichterkuchen zu zeigen, die sie gebacken hat. Oh, ich weiß, dass Penelope sie nicht wirklich selbst gebacken hat – sie ist in der Küche eine Katastrophe –, aber ich lasse sie in dem Glauben, dass ich es ihr abnehme. Sie ist solche Gefälligkeiten durchaus wert.«

Er war nicht mal im Raum, als ich die Stimme gehört habe ...

Poltrock schwitzte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Irgendwo bellte ein Hund.

»Arbeiten Sie für mich, Mr. Poltrock. Sie erweisen sich selbst und diesem unserem großartigen Land damit einen stolzen Dienst.«

Der Posten, die Eisenbahn, erinnerte sich Poltrock schließlich. Einhundert Streckenmeilen jährlich, von hier nach Maxon ... Er betrachtete den beeindruckenden Scheck, den er nach wie vor in der Hand hatte. »Mr. Gast, fünfzig Dollar im Monat sind ein ansehnliches Gehalt, vor allem in Anbetracht der durch die nördlichen Steuern so angespannten Wirtschaftslage, aber es ist so, dass ...«

»Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich nicht von Anfang an klar ausgedrückt habe«, fiel ihm Gast mit erhobenem Finger ins Wort. »Nicht fünfzig Dollar im Monat, Mr. Poltrock. Fünfzig Dollar die Woche.«

Poltrock starrte den Mann angesichts des überwältigenden Angebots an, und als die Worte der Zusage seinen Mund verließen, hätte er schwören können, den Geruch von Urin wahrzunehmen.