Kapitel 7
I
1857
Ein Mann namens Cutton mit rauen Zügen und Lederhut fuhr sie beide in einem neuen Zweispänner die Hauptstraße entlang. Die Tiere sahen stark und gesund aus, der Wagen besaß Räder mit Eisenspeichen und Lattenfedern – weitere Hinweise darauf, dass Gast eine Menge Geld besaß. Die Luft auf der Straße ließ Poltrocks Kopf rasch klarer werden. Er fühlte sich förmlich gereinigt.
»Wie weit ist es bis zur Anschlussstelle?«
»Bloß zwei Meilen, ein Stück außerhalb der Stadt«, antwortete Cutton. Er klang, als käme er aus Maryland oder Delaware.
»Ist ’ne nette Ortschaft«, urteilte Poltrock über die sauberen Straßen und solide gebauten Häuser. Frauen in Turnürenkleidern und mit Schutenhüten schlenderten mit gepflegt aussehenden Männern in Fräcken an den Geschäften vorbei. Gesittete Sklaven luden Waren von Wagen ab.
»Auf jeden Fall. Wir haben hier ein tolles Bordell, und, na ja, ich hab sie gestern in Cusher’s Bierstube gesehen, also wissen Sie ja, dass wir auch guten Fusel haben. Der Kramladen hat immer genug Waren, und die Leute kommen von überall her, um Stiefel von unserem Schuster zu kaufen. Wir haben sogar einen Arzt und eine Apotheke.«
Die Pferde zogen sie an einem Schild vorbei: Gast – 616 Einwohner.
»Ja«, sagte Poltrock. »Diese Stadt hat mehr Vorzüge als Chattanooga. Komisch, dass ich noch nie davon gehört habe.«
»Hat früher, nachdem wir ’96 ein eigener Staat wurden, Branch Landing geheißen. Damals war’s nicht mehr als ’ne kleine Handelsstation. Von hier gingen drei Hauptstraßen aus, eine nach Richmond, eine nach Lexington, eine nach Manassas, die drei größten Bahnknotenpunkte im Süden, in die Strecken aus Washington führen. Aber kaum kam Mr. Gast hierher, hat man sich gesagt, pfeif drauf, und die Ortschaft in Gast umbenannt. Die Leute hier beten den Boden an, auf dem er geht. Er hat alles hier gebaut.«
»Plantagengeld, soweit ich gehört habe«, meinte Poltrock, als sie über eine Unebenheit holperten.
»Ihm gehören Tausende Morgen Land, hier und in anderen Staaten.«
»Was für andere Staaten?«
»Keine Ahnung.«
»Wissen Sie, wir sind hier nicht in Virginia oder im Norden. Wie kann ein Mann so viel Land besitzen und sich der Indianer erwehren?«
»Er hat sie umgebracht. Was haben Sie denn gedacht?«
Hinter den letzten Gebäuden der Hauptstraße konnten sie das Anwesen der Gasts erkennen.
Poltrock verspürte einen Schauder. Seine Übelkeit war vergangen. Er hatte nicht gewusst, welchem Umstand er sie zuschreiben sollte, als er in dem Haus gewesen war. In diesem Haus, dachte er. Die Vision, der Geruch. »Allerdings kann ich nicht behaupten, dass ich das Haus besonders mag.«
Cutton erwiderte nichts, hielt nur weiter die Zügel.
»Ich meine, es ist ein hübsch anzusehendes Haus, aber ... irgendwas daran ist komisch. Ich schwöre, ich hab da drin Dinge gesehen, Dinge gehört, Dinge gerochen.«
Cutton blieb weiter stumm.
Poltrock versuchte, die Erinnerung aus dem Gedächtnis zu verbannen. »Mir ist da drin hundeelend geworden.«
»Wahrscheinlich ein Kater«, meinte Cutton schließlich. »Ich hab Sie gestern in der Bierstube gesehen, ziemlich betrunken.«
»Ja, stimmt.« Und mehr ist auch nicht dran.
»Haben Sie seine Frau kennengelernt?«
»Ja. Scheint nett zu sein, kultiviert.«
Lächelte Cutton verstohlen vor sich hin? »Ja, die ist schon was. Und seine Kinder?«
»Ich habe ’ne Minute lang ein blondes Mädchen mit einem Hund gesehen.« Poltrock schluckte, als er daran zurückdachte, was er als Nächstes gesehen zu haben glaubte. »Sie war wohl etwa fünfzehn oder sechzehn.«
»Das ist Mary. Und es gibt noch ein kleines, braunhaariges Mädchen namens Cricket, ich glaub, sie ist neun, und ...« Cutton brach den Satz abrupt ab, was Poltrock merkwürdig fand.
»Ja?«
Cutton biss ein Stück von seinem Kautabak ab. »Also, Mr. Poltrock, ich hab gehört, dass Sie einiges vorzuweisen haben. Soweit ich weiß, waren Sie der Gleisbauer der Eisenbahn in Pennsylvania.«
»Das ist richtig, aber was hat das mit Mr. Gasts Kindern zu tun?«
Cutton spuckte über die Seite. »Ich bin bloß ein Kontrolleur – ein plötzlich sehr gut bezahlter Kontrolleur, aber trotzdem. Sie sind mein Boss, und ich will meinen brandneuen Job nicht verlieren, indem ich was Falsches sage.«
Das machte Poltrock hellhörig. Er kannte in der Gegend niemanden. »Ich bin für jede Auskunft dankbar, die Sie mir freundlicherweise geben können. Anständige Leute behalten die Einzelheiten ihrer Gespräche für sich. Mein Wort gilt etwas, und ich bin sicher, das trifft auf Sie auch zu. Ein ehrlicher Mann ist sein Gewicht in Gold wert. Es wird zum Beispiel ein ehrlicher und hilfsbereiter Mann sein, den ich als meinen Streckenleiter einsetze. Wofür fünf Dollar die Woche zusätzlich bezahlt werden.«
Cutton nickte. »Das ist jetzt nicht respektlos gegenüber Mr. Gast gemeint, aber was ich sagen wollte, ist, dass seine Kinder ein bisschen merkwürdig sind, und dasselbe gilt für seine Frau. Ein kluger Mann tut gut daran, sich ein ordentliches Stück von ihnen fernzuhalten. Sie verheißen nichts Gutes, das ist alles, was ich sagen wollte, Mr. Poltrock.«
Cutton schnalzte mit den Zügeln und fuhr weiter.
Poltrock glaubte zu verstehen, was er meinte. Doch nun, da er sich nicht mehr in dem Haus befand, konnte er wieder klar denken. Gast hat mich soeben als seinen Stellvertreter für dieses Projekt eingestellt – das ist alles, was zählt.
Die Pferde zogen den Wagen eine Nebenstraße entlang, die parallel zur Bahntrasse verlief. Die Gleise selbst wirkten qualitativ ebenso hochwertig wie die Schwellen darunter. »Wie viel ist bisher verlegt worden?«
»Fünf, vielleicht sechs Meilen, und wir haben erst vor ein paar Wochen angefangen.«
Poltrock sah seinen Fahrer an. »Das ist beeindruckend, Cutton.«
»Mr. Gast plant die Fertigstellung für Mitte ’62. Er sagt, bis dahin wird der Krieg bereits begonnen haben, und der Süden wird wahrscheinlich bis nach Washington vorgerückt sein. Mr. Gasts Bahnstrecke wird dann eine wichtige weitere Versorgungsroute sein.«
Poltrock dachte darüber nach und grinste. Viel davon ergab für ihn keinen Sinn. Eine weitere Versorgungsroute ... aus Maxon? Er hielt es für das Beste, nicht darauf einzugehen. Tu einfach, wofür du bezahlt wirst, und lass Gast denken, was er will ...
Ein Blick voraus ließ ihn die Anlage erkennen. Eine Dampflokomotive mit mehreren Flachwagen brachte die neuen Schienen und Schwellen zum aktuellen Standort der Bauarbeiten und kehrte anschließend nach Virginia zurück, um mehr zu holen – konstanter Materialnachschub. Bei jeder Rückfahrt würde die neu verlegte Trasse ein bis zwei Meilen länger sein. Fünf Jahre, konnte Poltrock nur denken. Fünf Jahre hin und her, jede Rückfahrt ein Stückchen länger. Es würde harte Arbeit werden – was Poltrock nicht störte –, und bei Abschluss des Projekts würde sich ein Großteil seines stattlichen Lohns noch auf der Bank befinden. Ich werde nicht viel Zeit haben, es auszugeben.
Die Sonne blendete. Je näher sie der Baustelle kamen, desto deutlicher wurden die Geräusche: das Klirren von Metall, als hundert Sklaven mit Hämmern auf Nägel eindroschen. In Poltrocks Ohren klang das beinahe wie Musik.
»Wir sind fast da«, sagte Cutton.
Plötzlich stieg Poltrock ein widerlicher Geruch in die Nase. »Grundgütiger, was ist das?«
Cutton deutete über die Gleisanlage hinaus auf Ackerland. Poltrock sah Baumwolle, Mais und Bohnen, die von willfährigen Sklavinnen geerntet wurden. Doch es war nicht das, worauf Cutton zeigte ...
Poltrock musste an Vogelscheuchen denken, als er mehrere abgetrennte Köpfe auf Pfählen bemerkte. Stammte der fürchterliche Geruch von den verwesenden Schädeln? »Ich habe von Hinrichtungen gehört«, sagte er und musste beinahe würgen.
Cutton nickte. »Ja, Sir. Ich schätze, man könnte es Plantagenjustiz nennen. Wenn Sklaven dreist werden ... na ja, dann muss man ein Exempel an ihnen statuieren.«
»Wurden auch schon Weiße hingerichtet?«
»Oh ja, mindestens zwei oder drei. Ein Bursche wurde dabei erwischt, wie er was von Mr. Fecory stehlen wollte ...«
In Gedanken starrte Poltrock den sonderbaren Namen an. »Wer ist das?«
»Jemand, den Sie wie den Rest von uns gut kennenlernen werden. Mr. Fecory ist der Zahlmeister. Jeden Freitag taucht er mit seinem Wirtschaftsbuch und einem Koffer voll Geld auf der Baustelle auf. Komischer kleiner Kerl mit einer roten Melone. Und er hat ’ne Goldnase.«
»Eine was?«
»Goldnase. Es heißt, die Nase sei ihm vor ’ner Weile von Banditen weggeschossen worden, die ihn ausrauben wollten, deshalb hat er jetzt eine falsche aus Gold. Aber wie gesagt, einer von Mr. Gasts weißen Arbeitern hat Geld aus Fecorys Lohnkoffer geklaut, und tja, das war’s für ihn. Ein oder zwei andere Weiße haben Mädchen aus dem Ort vergewaltigt. Sie hat man auch hingerichtet.«
Poltrock schaute zum nächsten abgetrennten Kopf. »Auf den Feldern?«
»Nein, nein. Die Weißen hatten Gerichtsverfahren. Man hat sie auf dem Hauptplatz im Ort gehängt. Nur die Neger werden auf dem Feld umgebracht. Wahrscheinlich können Sie’s gerade riechen.«
»Ja, kann ich. Kaum zu glauben, dass ein paar abgetrennte Schädel auf diese Entfernung so übel stinken können.«
»Oh, das liegt nicht nur an den Köpfen«, fuhr Cutton gelassen fort. »Ihre ganzen Körper werden in die Erde gedroschen. Als Dünger. Um was Schlechtes in was Gutes zu verwandeln. Nur die Köpfe bleiben übrig, bis sie zu Totenschädeln verrottet sind, als Warnung für die anderen Sklaven.«
Poltrock ließ den Blick erneut über die Felder wandern, als in kurzen Abständen mehrere Schatten über sein Gesicht fielen. Grundgütiger, dachte er mit grimmiger Miene. Sie passierten zwei weitere im Feld aufgespießte Schädel. Er zwang sich, geradeaus zu schauen.
Mittlerweile konnte er die Männer sehen, die an der Strecke arbeiteten. Weiße Vorarbeiter maßen die Schienendicke und kennzeichneten den nächsten Abschnitt des Gleisbetts, der ausgehoben und mit Schotter verfüllt werden musste, während hundert vor Schweiß glänzende Sklaven entweder gruben, mit Hämmern auf Nägel schlugen oder Schienen verlegten. Bewaffnete Aufseher bewachten die Baustelle mit aufmerksamen Gesichtern.
»Da sind wir, Mr. Poltrock«, verkündete Cutton und verlangsamte den Wagen. »Alles, was Sie sehen, untersteht jetzt Ihrem Kommando. Ist mir ein Vergnügen, für Sie zu arbeiten.«
Du arbeitest für mich, aber ich arbeite für Gast, besann sich Poltrock. »Danke.« Das Klingen von Metall auf Metall hallte in seinen Ohren wider. »Ich muss schon sagen, das scheint mir eine erstklassige Mannschaft zu sein.« Plötzlich erfasste ihn Begeisterung. Vielleicht war die Aufgabe doch nicht unmöglich. Die Arbeiten liefen wie eine gut geölte Maschine.
Der Wagen hielt an. »Morris ist der Mannschaftsleiter. Ich lasse ihn eine Pause ausrufen, dann kann er Sie den Männern vorstellen.«
»Das wäre gut.«
Die beiden stiegen vom Wagen ab. Niemand sah sie auch nur an, als sie sich der Strecke näherten. Jeder Mann, ob schwarz oder weiß, arbeitete konzentriert und entschlossen.
Und die auf Nägel schlagenden Hämmer klangen weiter.
Als Poltrock die Trasse überquerte, hielt er jäh inne. Er spürte, wie ihm plötzlich Galle in die Kehle stieg.
Sein Blick fiel auf das Feld, wo er mindestens drei Dutzend weiterer abgetrennter Köpfe auf Pfählen sah.
II
»Stell dich nich’ so an, als hättest du das noch nie gemacht«, sagte der jüngere Mann, der auf dem Gesicht des fetten anderen kauerte. Der Fette wimmerte.
Dieser Typ is’ echt die schwierigste Nummer, die ich je geschoben hab, dachte der Jüngere und runzelte die Stirn, und bei diesem Jüngeren handelte es sich – natürlich – um Jiff. Um seine Erektion aufrechtzuerhalten, zwang er sich, an Tom Cruise in Cocktail zu denken, denn jedes Mal, wenn er auf seinen feisten Kunden hinabblickte, zuckte er unwillkürlich zusammen. An ihm fand er rein gar nichts erregend. Der Dicke verharrte angespannt und zitternd auf seinem Bett, das Hemd von Christian Dior in XXXL-Größe offen, die Bermudashorts nach unten gezogen.
»Lutsch ihn richtig, Fettbacke«, befahl Jiff und packte ein Büschel weißer Haare neben der kahlen Stelle auf dem Kopf des Mannes. »Wenn du’s nich’ besser machst, muss ich dir wohl in die schwabblige Fresse schlagen.«
Der übergewichtige »Kunde« bemühte sich, die Erwartungen zu erfüllen.
»Vielleicht kapierst du’s, wenn ich dir in den fetten Arsch trete«, fuhr Jiff mit dem Rollenspiel fort. Er glitt vom Bett und ...
KLATSCH!
... schlug dem Dicken mit der offenen Hand hart ins Gesicht.
Ein verschleierter Blick trat in die Züge des Dicken. »Ich ... ich liebe dich ...«
Jiff hätte kaum breiter grinsen können.
Die Nachmittagssonne erhellte das schicke Schlafzimmer des Dicken. Jiff fand es amüsant, dass einen Stock tiefer direkt vor diesem Fenster das rege Treiben auf der Number 1 Street seinen üblichen Lauf ging. Touristen unternahmen gemächliche Spaziergänge, Antiquitätenfetischisten durchforsteten die urigen Geschäfte der Stadt. Und keiner von denen tät’ je vermuten, was hier oben abgeht. Als der Dicke die Hände hob, um Jiffs Hintern zu streicheln, packte Jiff mit einer Hand dessen Wange und quetschte sie.
»Hab ich dir erlaubt, mein’ Arsch anzufassen, Schlampe? Hm?« Er drückte noch fester zu, und der Dicke schüttelte den Kopf.
»Ich sollt’ dein’ fetten Schlampenarsch raus auf die Straße schleifen, nackt, wie du grad bist, damit jeder dein’ jämmerlichen Schwuchtelpimmel sehen kann! Und dann sollt’ ich dich noch anpissen!« Mittlerweile drückte er so fest zu, dass dem dicken Tränen in die Augen traten, und ...
Herrgott, was für ’n kranker Scheißer, dachte Jiff.
Unter der mächtigen Erhöhung des Bauchs wurde das Glied des Kunden steif, und der Mann stöhnte.
Wie abstoßend. Der Anblick verdeutlichte Jiff den bizarren psychologischen Aspekt der Situation. Ich sag’ dem Kerl, dass ich ihn anpissen will, und er kriegt ’n Steifen? Jiff arbeitete schon lange als Prostituierter, aber selbst er hatte noch nie einen Kunden erlebt, der so weit abseits der Norm tickte. Der Dicke bezahlte nicht für den eigentlichen Sex, auch nicht für die Schmerzen und die Fesselspiele – sondern für die bloße Erniedrigung. Es spielte keine Rolle, dass es schnell verdientes Geld war – die Sache wurde allmählich richtig lästig.
Bring’s hinter dich, dachte er angewidert.
Er steckte den Gummiknebel in den Mund des Dicken und machte sich an die Arbeit.
Ein paar Minuten später war Jiff schließlich fertig und sein Kunde übel zugerichtet. Er nahm ihm den Gummiknebel ab. Endlich ...
»Hilf mir! Ich liebe dich so sehr!«, ertönte das verzweifelte Flehen.
Mittlerweile tat der Kerl Jiff leid. Der fette Mistkerl hat sich echt in mich verliebt. »So biste ’ne brave Schlampe«, lobte er. »Und weißte, was ich jetzt mach’, weil du so brav gewesen bist?«
Ein hoffnungsvolles Leuchten trat in die Augen des Fetten.
Jiff senkte das Gesicht und biss in eine der Brustwarzen.
Der Dicke kreischte verzückt.
Jiff kletterte nackt aus dem Bett. Er wusste, dass der Blick des Kunden seinem Körper folgte, als er ins Badezimmer ging. Er tat so, als höre er das verzweifelte Flüstern hinter ihm nicht. »Ich liebe dich so sehr ...«
Jiff wusch sich am Waschbecken. Er fühlte sich unrund. Ursprünglich hatte er diese Sache als einfach verdientes Geld betrachtet – dreißig Dollar für zehn Minuten? Inzwischen jedoch wurden diese Erniedrigungen selbst für ihn zu abartig. Bei seinen anderen Geschichten in der Stadt ging es wenigstens nur um schlichten Sex. Sein Körper war sein Geschäft. Er betrachtete sich im Spiegel, spannte die Bauchmuskeln an, warf sich in einige Bizepsposen. Einige der Kerle unten im Nagel steckten ihm einen Zwanziger allein dafür zu, dass er seinen Körper zur Schau stellte, während sie sich einen runterholten. Und jetzt hab ich diesen Speckberg mit all sein’ Marotten am Hals. Nun, vermutlich trotzdem noch besser, als Rasen zu mähen.
Er spannte vor dem Spiegel die Brustmuskeln an. Ja, ich hab’s immer noch drauf.
Hinter ihm erklang die Stimme seines Kunden. »Du bist wunderschön ...«
Jiff runzelte die Stirn.
Als er das Badezimmer verließ, saß der Dicke auf dem Bett, die Unterhose immer noch um die Knöchel. »Ohne dich wäre ich völlig im Eimer.«
Du bist völlig im Eimer. Schau dich bloß an! Siehst aus wie hundertfünfzig Kilo im Bett aufgetürmter Vanillepudding. Jiff überging die Bemerkung des Mannes.
Er sah sich in dem geräumigen Zimmer um. Auf einem Sockel an einer Wand stand eine Steinbüste eines Typen namens Caesar, neben dem Fenster eine weitere von jemandem namens Alexander der Große. Jiff vermutete, dass es sich um Verwandte des legendären Showpianisten Liberace handelte, die ihm vielleicht geholfen hatten, seine Karriere in Las Vegas zu starten. Sein Blick wanderte weiter über einen Schachtisch mit karierter Marmorplatte und Spielfiguren, die aussahen, als wären sie aus Gold und Silber angefertigt. Verdammter Glückspilz ... Wie Jiff wusste, stammte das Vermögen seines Kunden von einer Erbschaft – er war der letzte Nachkomme der Familie. Dieser fette Waschlappen wird nie ’n Kind haben, das erben könnt’, was übrig bleibt. Jiff hätte problemlos ein, zwei Schachfiguren stehlen können, aber das entsprach nicht seinem Stil. Er war bloß ein Stricher vom Land, kein Dieb.
Ein alter, kunstvoller Schrank stand geöffnet da und offenbarte Dosen mit Nüssen und Pralinenschachteln. »He, kann ich was davon haben?«
»Alles, was ich habe ... gehört dir.«
Ich schätz’, das heißt ja. Jiff wusste, dass er rasch einen anderen Gang einlegen musste, weil der Mann sonst deprimiert und rührselig werden würde. Er öffnete eine Schachtel Trufflettes. »Wow, die sin’ gut.«
»Nimm die ganze Schachtel. Ich besorge dir mehr. Die bestelle ich direkt aus Frankreich.«
Jiff schüttelte den Kopf. Der antike Schrank war voll von solchen Süßigkeiten. Armer Tropf. Abgesehen davon, dass ich rüberkomm’ und ihn wie Hundedreck behandle, hat er nur sein Essen, auf das er sich freuen kann. »Aber weißte, bei dem Zeug solltest du dich echt ’n wenig zurückhalten. Is’ nich’ gut für deine Gesundheit.«
Ein dankbares Schluchzen. »Du sorgst dich um mich!«
Gott. Jiff wusste, dass der Anblick seines nackten Körpers den alten Mann nur anstachelte. Er begann, sich anzuziehen.
»Ich bin nichts«, krächzte sein Kunde. »Ich habe nichts.«
»Ach, fang jetzt nich’ an, so daherzureden. Scheiße, soweit ich’s sehen kann, haste einiges. Schicke Karre, schöne Wohnung, Geld.«
»Verstehst du denn nicht? Ohne Liebe ist das alles bedeutungslos. Ich kenne überhaupt kein wahres Glück ...«
»Hör auf mit dem Selbstmitleid!«, herrschte Jiff ihn an. Ich muss hier raus! »Echt jetzt, lass das. Pass auf, ich muss noch arbeiten, also wo is’ mein Geld?«
Eine zitternde Hand zeigte auf eine Kommode mit Intarsien. Jiff ergriff den Scheck, faltete ihn und steckte ihn in die Tasche.
»Bitte, sag mir wenigstens ... dass du mich magst! Bitte!«
»Klar mag ich dich ...«
»Dann liebe mich auch!«
»Das haben wir alles schon durchgekaut. So läuft’s nich’, und so wird’s auch nie laufen. Hier geht’s nur um Spaß. Wir sin’ Freunde, mehr nich’. Du hilfst mir, ich helf’ dir. Wir spielen ’n Spiel. Was passt dir denn da dran nich’? Was is’ falsch dran, Freunde zu sein?«
Feuchte Augen schauten zu Jiff auf. »Denkst du ... denkst du eigentlich je an mich? Ich meine ... wenn wir zusammen sind.«
Jiff hatte allmählich die Schnauze voll. Mann, wenn ich mit dir zusammen bin, denk’ ich nur an Christian Bale in sein’ Batman-Anzug, du erbärmliche fette Qualle ... Aber ein solcher Mistkerl konnte Jiff nicht sein. Der Mann war zu harmlos, um sich über ihn aufzuregen. »Klar denk ich manchmal an dich«, log er.
Der Kunde faltete die Hände. »Danke!«
Jiff musste weg. Er brauchte die Gegenwart echter Männer. »Also, du rufst mich einfach an, wenn du willst, dass ich wieder vorbeikomm’.« Damit steuerte er auf die Treppe zu.
Auf halbem Weg nach unten vernahm er das Flehen: »Heirate mich! Es bleibt unser Geheimnis. Du kannst so viele Lover haben, wie du willst. Ich gebe dir alles. Nur ... heirate mich!«
Jiff eilte zur Hintertür hinaus.
III
Collier erwachte kurz nach Mittag. Ein durch die Vorhänge einfallender Sonnenstrahl legte sich ihm als Streifen quer über die Augen. Was für eine Nacht, dachte er. Ihm war übel vor innerer Verwirrung, dann tauchte alles in Fragmenten wieder auf: der schreckliche Albtraum, Lottie, das Loch in der Wand ... und die Stimmen, die er zu hören geglaubt hatte.
Stirnrunzelnd schüttelte er all das ab und duschte rasch, wobei er eine gefühllose Erektion bemerkte. Was für eine Nacht. Sonnenlicht flutete den Treppengang und ließ Collier dumpfe Kopfschmerzen spüren, zweifellos das Nebenprodukt von zu viel Alkohol. Als Collier den Weg die Treppe hinunter antrat, hörte er lachende Kinder und eine aufgeregte Stimme, die sich nach einem Mädchen anhörte und rief: »Hier, Junge! Komm, hol den Ball. Hier, Junge!«
Wie ein Kind, das einen Hund ruft, dachte er. Collier ging zurück hinauf und sah sich um, doch da war niemand.
Mrs. Butler staubte unten das Geländer ab. Sie schaute zu ihm auf, und Collier war gezwungen, zu ihr nach unten zu sehen, wobei sein Blick sofort ihr Dekolleté ins Visier nahm. An diesem Tag trug die vollbusige alte Frau eine elegante Rüschenbluse und einen blauen Rock. Nachdem er sie durch das Guckloch nackt gesehen hatte, verspürte Collier nun einen heimlichen Kick.
»Guten Morgen, Mrs. Butler ... oder besser gesagt, schönen Nachmittag.«
Ein strahlender Ausdruck trat in ihr zerklüftetes Gesicht. »Das Frühstück haben Sie verpasst, aber ich mache Ihnen gern ein Mittagessen.«
»Oh nein, danke. Ich spaziere in die Stadt und besorge mir dort später etwas.«
»Und noch mal, Mr. Collier, es tut mir so leid, dass meine dumme betrunkene Tochter Sie vergangene Nacht belästigt hat ...«
»Schon gut. Um die Wahrheit zu sagen, ich war selbst ein wenig betrunken.«
»Was wollen Sie in der Stadt unternehmen? Haben Sie etwas Bestimmtes vor?«
Sie trat beiseite, als er unten ankam. Der Anblick ihres drallen Körpers brachte Colliers Augen förmlich zum Stöhnen. »Ich will in den Buchladen. Ist der direkt an der Hauptstraße?«
»Ja, Sir, gleich an der Ecke. Number 1 Street und Penelope. Ist ein hübscher kleiner Laden.«
Etwas nagte an ihm – etwas, das nichts mit ihren üppigen Kurven zu tun hatte. »Oh, ich wollte sie noch etwas fragen. Erlauben Sie Gästen, Haustiere in die Pension mitzubringen?«
Ihr Blick schien trüb zu werden. »Haustiere ... nun, eigentlich nicht. Aber falls Sie vorhaben, bei einem künftigen Besuch eines mitzubringen, könnte ich natürlich eine ...«
»Nein, nein, das habe ich damit nicht gemeint. Es ist nur so ...« Plötzlich fühlte er sich töricht, weil er das Thema angeschnitten hatte. »Ich dachte letzte Nacht, ich hätte einen Hund gesehen.«
»Einen Hund? In der Pension? Ich kann Ihnen versichern, wir haben hier keine Hunde. Und auch wir selbst besitzen keine Haustiere.«
Was für ein Fehler. Ich habe mir Dinge eingebildet, weil ich betrunken und wegen ihrer Psycho-Tochter gestresst war. »Tut mir leid, ich schätze, vergangene Nacht war ich nicht ganz klar im Kopf. Aber ich muss zugeben, das Bier bei Cusher’s war so gut, dass ich ein paar zu viel davon getrunken habe.«
Mrs. Butler versuchte, zu lachen. »Nun, wir möchten, dass Sie sich wohlfühlen, Mr. Collier.« Kurz verstummte sie und legte die Finger ans Kinn. »In dieser Gegend läuft schon ein Streuner herum, der einigen Leuten manchmal auffällt. Was für ein Hund war es, den Sie gesehen haben?«
»Ich bin nicht mal sicher. Wohl eine Promenadenmischung, etwa so groß wie eine Bulldogge. Von der Farbe her ein schlammiges Braun.«
Überspielte sie gerade einen Anflug von Nervosität? »Also, falls sich hier wirklich ein Streuner eingeschlichen hat, scheuchen wir ihn im Nu wieder raus. Wissen Sie, Lottie lässt manchmal die Hintertür offen. Ehrlich, das dumme Mädchen macht mich noch fertig. Na, jedenfalls viel Spaß in der Stadt, Mr. Collier.«
»Danke. Bis später.«
Collier ging durch die große Vordertür hinaus. War ihre Reaktion wirklich merkwürdig gewesen, oder bildete er sich auch das nur ein? Es gibt keinen Hund. Ich bin derjenige, der überreagiert. Im warmen Sonnenschein folgte er der gewundenen Straße den Hang hinab.
Nach etwa hundert Metern fühlte er sich besser. Etwas Positiveres verdrängte die Absurdität der vergangenen Nacht. Er hatte eine seiner vorgefertigten Einverständniserklärungen dabei, da er bereits entschieden hatte, dass Cusher’s Bürgerkriegsbier der letzte Eintrag in seinem Buch werden sollte. Collier hatte gefunden, wonach er gesucht hatte, und der angenehmste Nebeneffekt war die Braumeisterin selbst. Sie ist so cool, dachte er versonnen. »Dominique ...« Der Name rollte förmlich von seiner Zunge. Er war sich dessen sicher, dass seine professionellen Absichten unbeeinträchtigt waren. Ich würde dem Bier auch dann eine Bewertung von fünf Sternen geben, wenn die Brauerin hässlich wäre. Trotzdem konnte er es kaum erwarten, Dominique wiederzusehen ...
In der Ortsmitte war die zur Mittagspause übliche Menschenmenge unterwegs, die all die malerischen Straßen mit lächelnden Gesichtern und leuchtenden Augen füllte. Zuerst brauche ich Geld, erinnerte er sich. Collier hatte nicht viel Bargeld dabei, und gleich an der Ecke befand sich eine Bank. Fecory Savings and Trust. Merkwürdiger Name, dachte er, doch wen interessierte der schon? Hauptsache, es gab einen Geldautomaten.
Mehrere Leute bildeten vor ihm eine Schlange. Collier wartete müßig und ließ den Blick über den Rest der Penelope Street wandern. Als er sich umdrehte, fiel ihm eine vorne am Gebäude befestigte Bronzetafel auf.
Dieses Gebäude wurde am Originalstandort der ersten Bank von Gast errichtet und nach dem Zahlmeister der Stadt benannt, Windom Fecory. 1865 konfiszierten Soldaten der Union von der Bank Millionen in Gold, die unter dem Boden versteckt waren. Anschließend brannten sie das Gebäude nieder und bargen die Nägel aus der Asche.
Interessant, fand Collier beiläufig, doch das Einzige, was seine Gedanken wirklich beherrschte, war Dominique. Ich werde heute bei ihr zu Mittag essen und ihr das Einverständnisformular geben. Er erinnerte sich an ihre Worte. Und ich würde ehrlich auch gern noch ausführlicher mit Ihnen reden, Mr. Collier, hatte sie zu ihm gesagt. Der Gedanke an sie lenkte Collier so sehr ab, dass er die Paris-Hilton-Doppelgängerin in dem Schlauch-Top und den abgeschnittenen Jeans, die sich gerade über den Geldautomaten beugte und ihre PIN eingab, gar nicht beachtete. Mit anderen Worten, Colliers neu entflammte Lust wurde von Gedanken an jemand anderen ausgebremst.
»Oh, hi, Mr. Collier ...«
Collier schaute auf und stellte überrascht fest, dass Jiff in der Schlange direkt vor ihm stand. »Hallo, Jiff. Ich habe Sie gar nicht gesehen. Bin wohl mit den Gedanken woanders.«
»Kein Wunder an ’nem so fein’ Tag wie heut.« Jiff stand in seinen Arbeitsstiefeln, seinen abgewetzten Jeans und seinem eng anliegenden T-Shirt etwas affektiert da. »Machen Sie ’n Spaziergang?«
»Ja, aber ich habe unterwegs die Bank hier gesehen und dachte, ich hole mir zuerst etwas Bargeld.«
»Ich will nur eben schnell ’n Scheck einlösen, dann heißt’s zurück an die Arbeit. Und danke noch mal für gestern Abend. Ich hatt’ echt viel Spaß.«
»Ich auch. Das wiederholen wir, bevor ich nach Los Angeles zurückreise.«
Jiff grinste verlegen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ma hat mir von Ihrem klein’ Problem mit Lottie gestern Abend erzählt. Sie kann ’ne richtige Nervensäge sein.«
Ach was? »War keine große Sache. Sie ist ein nettes Mädchen.«
»Ja, aber es isֹ’ jammerschad, dass sie so is’, wie sie is’. Passt nirgendwo richtig rein, weil sie nich’ reden kann und dauernd so dämlich grinst.«
»Hoffentlich kommt sie irgendwann aus sich heraus.«
Jiff schwenkte eine Hand. »Ne, das würd’ ihr nur noch mehr Ärger bringen. Am besten macht sie einfach ihre Arbeit im Haus und bleibt dort.«
Das arme Ding ist zu einem Leben in diesem Haus voll Landeiern verdammt ... Mittlerweile hatte Collier die zierliche Blondine am Geldautomaten doch bemerkt, und mehrere andere Männer in der Schlange starrten sie ebenfalls an. Als Collier jedoch zu Jiff schaute ...
Der Mann schien keinerlei Notiz von ihr zu nehmen.
Genau wie gestern Abend in der Bar, erinnerte sich Collier. Dann erhaschte er einen flüchtigen Blick auf den Scheck in Jiffs Hand.
Josephawitz-George Sute, stand am oberen Rand. Der ortsansässige Autor, dachte Collier. Er hoffte, den Mann an diesem Tag kennenzulernen. Ihm fiel auf, dass der Scheck auf dreißig Dollar lautete. Nebenverdienst, besann sich Collier. Jiff hatte erwähnt, dass er sich nebenher als Handwerker verdingte.
Die Blondine ging. Schließlich war Jiff an der Reihe und löste seinen Scheck ein. »Ich schätz’ mal, Sie werden bei Cusher’s essen, oder?«
»Das habe ich tatsächlich vor. Ich will in meinem Buch über dieses Bier schreiben, und dafür muss mir Dominique eine Einverständniserklärung unterschreiben.«
Jiff grinste über die Schulter zurück und zwinkerte. »Is’ ’n echt gutes Bier, aber wissen Sie was, Mr. Collier? Hin und wieder braut meine Ma ihr eig’nes Gewürzbier. Ich bin sicher, sie hat noch reichlich davon im Obstkeller, und ich bin doppelt sicher, sie würd’s Sie nur allzu gern probieren lassen.«
Er versucht schon wieder, mich mit seiner fünfundsechzigjährigen Mutter zu verkuppeln. Krampfhaft suchte Collier nach einer Antwort. »Oh, wirklich? Das ist ja interessant. Ich mag hausgebrautes Bier.« Aber Alter hin, Alter her, der Anblick ihres Körpers durch das Guckloch ging ihm nicht aus dem Sinn. Mann ... Und dann erst die seltsame Vorstellung, dass Mrs. Butler das Loch selbst gebohrt haben könnte ... »Sie sind gern zum Essen eingeladen«, fügte Collier hinzu, und sei es nur, um das Bild der üppigen, eingeseiften Brüste mit den großen Nippeln zu verdrängen.
»Oh, danke, Mr. Collier, aber ich hab in der Stadt noch ’n paar Reparaturarbeiten zu erledigen, bevor ich zurück nach Haus muss.« Er ließ ein letztes Grinsen aufblitzen. »Aber Ihn’ wünsch’ ich ’n schön’ Tag.«
»Ihnen auch, Jiff.«
Damit schlenderte Jiff davon und pfiff dabei vor sich hin wie ein wandelndes Klischee. Collier hob sein Geld vom Automaten ab und setzte den Weg in die Stadt fort.
Kurz schaute er bei Cusher’s hinein und sah ein volles Haus und eine voll besetzte Bar. Scheiße. Ich brauche einen Platz an der Bar, sonst kann ich nicht mit ihr reden ... Um diese Zeit schien es überall ziemlich voll zu sein, deshalb beschloss er, sich eine Weile damit zu beschäftigen, einige Nippesläden, Sehenswürdigkeiten und das Gast-Bürgerkriegsmuseum anzusehen. Dann fiel ihm an einer Ecke der Buchladen auf. Ich könnte eigentlich auch gleich reingehen und sehen, ob ich diesen J. G. Sute aufspüren kann.
Eine Glocke bimmelte, als er durch die Tür eintrat. Es handelte sich um einen kleinen, ordentlichen Laden mit mehr Ansteckern, T-Shirts und ähnlichem Tand als Büchern. Mehrere Leute stöberten im Geschäft umher, aber niemand davon konnte Sute sein. Jiff hat gesagt, er geht auf die sechzig zu ... Collier drängte sich in eine Nische und stellte fest, dass sie eine Reihe von Werken über den Bürgerkrieg enthielt, die meisten davon teure Bildbände. Ein Regalfach war vollständig mit demselben Titel ausgefüllt: Von Branch Landing zu Gast: Lokalgeschichte. Der Autor war J. G. Sute. Unmöglich!, dachte Collier, als er sah, dass die gebundene, relativ kleinformatige Ausgabe fünfzig Dollar kostete. Ein weiteres Buch, das eher wie eine bessere Broschüre anmutete, trug den Titel Die East Tennessee & Georgia Railroad Company, ebenfalls von Sute. Auch im nächsten Regalfach stand nur ein Titel: Harwood Gast – Biografie der finstersten Persönlichkeit von Gast. Es handelte sich zwar um ein sehr dünnes Werk, dennoch fand Collier den Preis von fünf Dollar dafür schon eher angemessen. Der Druck wirkte nicht besonders hochwertig, und der Abbildungsteil sah fotokopiert aus, aber als Collier das Buch durchblätterte, stieß er auf einige interessante Ferrotypien der Ortschaft aus den 1850er-Jahren bis hin zum Ende des Kriegs. Ein Bild von Gast fand Collier regelrecht unheimlich, weil dessen Augen förmlich aus der verschwommenen Umgebung hervorzustechen schienen. Der adrett gekleidete Plantagentycoon mit den Koteletten sah genauso aus wie auf dem riesigen Porträt in der Vorhalle der Pension. Eine weitere Abbildung zeigte ein robustes Holzgebäude. Darunter stand der Text: Die erste Bank von Gast. Dort war ich, dachte Collier. Auf der nächsten Seite befand sich eine Ferrotypie mit dem Untertitel Mr. Windom Fecory – Harwood Gasts umstrittener Bankbevollmächtigter. Was könnte an dem umstritten sein?, fragte sich Collier lächelnd. Doch je länger er das Bild betrachtete – das eines drahtigen Mannes mit schmalem Gesicht und einer merkwürdigen Nase –, desto unheimlicher fand er es. Eine überraschend klare Abbildung zeigte Mrs. Penelope Gast, die elegant neben einer der Eingangssäulen des Hauses stand. Sie trug ein korsettartiges Oberteil sowie ein aufwendiges Rüschenkleid, in dem sie gesittet und wunderschön aussah. Das Dekolleté des tiefen Ausschnitts hätte kaum augenscheinlicher sein können. Was für ein Vorbau!, ging Collier unwillkürlich durch den Kopf.
Das kleine Buch faszinierte ihn. Das kaufe ich, beschloss er, doch da er selbst Autor war, blätterte er instinktiv zur Impressumsseite, um zu sehen, wer der Verleger war. Kein gutes Zeichen, aber ich kaufe es trotzdem, entschied er. Als Verlag wurde J. G. Sute Publications genannt.
»Lassen Sie mich raten, was Sie denken«, meldete sich ein klarer, wenngleich tiefer Bariton mit südlichem Einschlag zu Wort. Die durch das vordere Fenster gleißend einfallende Sonne ließ nur den Schatten einer massigen Gestalt erkennen. »Sie denken, dass es nicht gut sein kann, weil es im Eigenverlag erschienen ist.«
»Ich ...«
»Ich kann Ihnen jedoch versichern, Sir, dass der Autor keine andere Wahl hatte, da alle renommierten Verlagshäuser das Thema als zu kontrovers betrachteten.«
Collier trat überrascht einen Schritt zur Seite und sah sich einem kleinen, übergewichtigen Mann mit Tweedsakko und Schonern an den Ellbogen gegenüber. Ein weitgehend kahler Kopf, ein schwammiges Gesicht, aber Augen, die Ernst und Glaubwürdigkeit vermittelten ... und ein weißlich-grauer Schnurr- und Kinnbart, der Collier an Colonel Sanders erinnerte, Gründer und Gesicht auf dem Logo von Kentucky Fried Chicken. Vor ihm stand derselbe Mann, dessen Foto auf der Rückseite des Buchs prangte. »Oh, Sie müssen J. G. Sute sein. Tatsächlich habe ich nach Ihnen gesucht. Ich bin Justin ...«
»Justin Collier«, fiel ihm die tiefe Stimme ins Wort. »Wenn ein Prominenter in die Stadt kommt, bin ich der Erste, der davon erfährt. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Er streckte Collier eine weiche, große Hand entgegen. »Ich habe Ihre Biersendung einige Male gesehen, muss aber gestehen, dass ich selbst eher Wein und Scotch trinke. Und Sie sagen ... Sie haben nach mir gesucht?«
»Ja«, bestätigte Collier und holte rasch seinen Internetausdruck aus seiner Brieftasche hervor. »Mich hat dieser von Ihnen verfasste Text hierhergeführt.«
Sute betrachtete den Ausdruck und wirkte erfreut. »Ich schreibe freiberuflich recht viel für Regionalprintmedien und Touristen-Websites. Ach, Sie meinen die Erwähnung von Cusher’s?«
»Genau. Und ich möchte Ihnen danken, denn wie sich herausgestellt hat, ist dieses Bier genau das, was mir gefehlt hat, um mein aktuelles Buch abzuschließen.«
Der füllige, gedrungene Mann schien durch das Kompliment einige Zentimeter zu wachsen. »Es schmeichelt mir, dass Ihnen mein kleiner Text nützlich sein konnte. Äh ... falls Sie die Frage gestatten, wer ist der Verleger Ihres Buchs?«
»Random House«, antwortete Collier.
Mr. Sute schrumpfte die zusätzlichen Zentimeter rasch wieder. »Tja, bedauerlicherweise wurde ich noch nie von einem so großen Verlag veröffentlicht, aber« – er zeigte auf die Fünfzig-Dollar-Ausgabe – »das ist mein ganzer Stolz. Herausgebracht von Seymour & Sons in Nashville. Bislang wurden tausend Exemplare verkauft.«
Collier verstand die Kernaussage. Der arme Teufel ist ein erfolgloser Schreiberling, und ich reibe ihm Random House unter die Nase. Er beschloss, in den sauren Apfel zu beißen, und ergriff ein Exemplar. »Ich hatte vor, dieses Buch auch zu kaufen. Würden Sie es für mich signieren?«
Sute blühte auf. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Ich bin erst einen Tag hier, aber schon ganz fasziniert von all dem Lokalkolorit. Von Harwood Gast und seiner Eisenbahn zum Beispiel.«
»Das ist eine bemerkenswerte Geschichte, und wie ich bereits erwähnt habe, für die großen Verlage zu derb. Aus demselben Grund musste ich mehrere andere Titel selbst veröffentlichen ...«
»Zu derb?«
»... und ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich der einzige wahre Experte über das Lokalkolorit und die Geschichte dieser Ortschaft bin. Alle meine Arbeiten basieren auf Originalbriefen, Fotos und Nachlassarchiven. So wie dieses hier zum Beispiel.« Er zeigte mit dem Finger auf ein weiteres dünnes Taschenbuch mit dem Titel Beweisbriefe: Die erkenntniskritische Geschichte von Gast, Tennessee. »Und es kostet nur fünf Dollar.«
Collier griff sich ein Exemplar. »Danke, ich werde mich demnächst auf die Bücher stürzen. Aber da Sie auch für Touristen-Websites und Gastroführer schreiben, habe ich mich gefragt, ob es in der Gegend noch andere Bierstuben oder Gasthäuser mit hauseigener Brauerei gibt. Was ich suche, sind weitere Lokale, die sich auf Regionalbiere auf der Grundlage alter Rezepturen spezialisieren.«
Sute wirkte geknickt darüber, keine weiteren Fachkenntnisse anbieten zu können. »Nicht wirklich, fürchte ich. Der Süden ist eher bekannt für Whiskey und Maische. In Chattanooga gibt es zwar ein paar Lokale, die eigene Biere brauen, aber ich glaube, die sind eher trendig als authentisch.«
Tja, ich schätze, ich habe geahnt, dass es zu schön wäre, um wahr zu sein. Aber zumindest war Cusher’s ein durchschlagender Erfolg gewesen. Und ich denke, teilweise verdanke ich diese Entdeckung ihm.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine größere Hilfe sein.«
»Sie waren mir bereits eine ziemliche Hilfe, Mr. Sute. Ohne Ihren Text hätte ich vielleicht nie herausgefunden, wo sich Cusher’s befindet.« Collier betrachtete es als hinlänglichen Ausdruck seiner Dankbarkeit, mehrere Bücher des Mannes zu kaufen – vor allem dieses Fünfzig-Dollar-Ding. »Lassen Sie mich die eben zur Kasse bringen, dann können Sie sie für mich signieren.«
Sute folgte Collier und signierte die Bände schließlich mit selbstsicherer Miene. Vielleicht würden sich die Bücher als interessant erweisen, vielleicht auch nicht. Dann jedoch erinnerte sich Collier an etwas.
»Sie haben gesagt, dieses Buch war zu derb für einen Verleger in New York.«
»Dieses und einige andere. Nicht einmal die regionalen Hochschulverlage wollten das Thema anfassen, obwohl es die einzigen Bücher sind, die je zu diesem Aspekt der Geschichte der Ortschaft geschrieben wurden. Und obendrein ist es eine bedeutende Geschichte – es gibt Dutzende Werke über die Eisenbahnstrecken von Chattanooga während des Kriegs, aber die ungewöhnlichste Eisenbahn derselben Zeit war jene, die von Harwood Gast gebaut wurde. Aus meinen Büchern geht unter anderem hervor, wofür Gast die Eisenbahn tatsächlich benutzt hat, nämlich für einen durchaus ... untypischen Zweck.«
Die Bemerkung schien sonderbar zu sein. »Ich vermute mal, dass jede Bahnstrecke während des Kriegs hauptsächlich für Truppentransporte und Versorgungslieferungen verwendet wurde.«
»Richtig, aber nicht diese Bahnstrecke, Mr. Collier – und meine Quellen sind Belege aus erster Hand. Es gab keine Versorgungslieferungen, und kein einziger Soldat wurde je mit Gasts Eisenbahn befördert.« Sute nickte mit ernster Miene und deutete auf die Bücher unter Colliers Arm. »Der eigentliche Verwendungszweck der Eisenbahn wird in diesen Werken behandelt. Ich hoffe, Sie finden sie interessant.«
Was ist bloß los mit den Leuten im Süden?, fragte sich Collier leicht verärgert. Ständig weichen sie absichtlich dem springenden Punkt aus. Offenbar orientierten sie sich an einer Grundregel des Erzählens von Geschichten – der Zuhörer muss neugierig bleiben. »Sagen Sie schon, Mr. Sute, was wurde mit der Eisenbahn transportiert?«
»Gefangene«, antwortete der übergewichtige Mann.
»Oh, Sie meinen, die Strecke wurde benutzt, um Unionsgefangene in Lager zu bringen? Nach Andersonville und dergleichen?«
»Nicht ... nach Andersonville. Das lag auf der anderen Seite von Georgia, aber ja, dorthin wurden die meisten gefangen genommenen Soldaten der Union gebracht. Ich fürchte jedoch, Gasts Eisenbahn hatte einen exklusiven Nutzen: den Transport von zivilen Gefangenen. Frauen, Kinder, alte Männer. Unschuldige. Es ist bedauerlich, dass die vollständige Geschichte nie veröffentlicht wurde.«
»Ja«, fügte Collier hinzu. »Weil sie zu derb ist, haben Sie schon gesagt. Aber Sie haben mich neugierig gemacht. Also ... hat Gast gefangen genommene Zivilisten aus dem Norden mit der Eisenbahn transportiert. Habe ich das richtig verstanden?«
Sute nickte.
»Und ich vermute, sie wurden in ein eigenes Lager gebracht ...«
»In gewisser Weise könnte man das so ausdrücken. Es ist eine erschütternde Geschichte, Mr. Collier, die Sie an einem so herrlichen Tag wie heute eher nicht hören wollen. Immerhin sind Sie ein Star, und es ist schön, Sie in unserer bescheidenen Stadt zu haben. Ich möchte nicht, dass Ihnen eine solche Geschichte den Aufenthalt verdirbt.«
Collier lächelte. »Es geht um so etwas wie einen ›Geisterzug‹ oder etwas Ähnliches, habe ich recht?«
»Nein«, lautete die knappe Antwort.
Allmählich geht mir der Kerl echt auf die Nerven, dachte Collier.
Sutes ernste Miene hellte sich ein wenig auf, und er hob einen Finger. »Aber falls Sie Geistergeschichten mögen, räume ich ein, dass auch davon einige gestreift werden. Ein paar deftige Begebenheiten über das Haus.«
Das Haus, schoss es Collier durch den Kopf. Das Haus der Gasts. »Ich wusste es von Anfang an! Also ist die Pension doch ein Spukhaus. Ich wusste, dass Mrs. Butler schwindelt ...«
Ein Grinsen trat in J. G. Sutes breites Gesicht. »Also, ich bin gerade auf dem Weg zum Essen, Mr. Collier, aber wenn Sie morgen vorbeischauen, erzähle ich Ihnen einige der Geschichten.«
Collier hätte dem Mann am liebsten mit dessen eigenen Büchern auf den Kopf geschlagen. »Bitte, Mr. Sute, erzählen Sie mir eine Geschichte über das Haus. Jetzt gleich.«
Sute ließ eine Pause entstehen – natürlich zwecks dramatischer Wirkung. »Nun, ich möchte mich jetzt nicht ordinär anhören, aber ich kann Ihnen sagen, dass viele, viele Gäste des Hauses – bis zurück vor langer Zeit – von einem merkwürdigen ... Einfluss berichtet haben. Einem ... nennen wir es triebhaften Einfluss.«
Collier musterte das dralle Gesicht mit dem Schnurr- und Kinnbart eindringlich und kniff dabei die Augen zusammen. »Triebhaft – Sie meinen damit den Sexualtrieb?«
Die gouvernantenhafte Kassiererin runzelte über ihrer Brille die Stirn. »Bitte, J. G.! Fang nicht von all dem an. Wir möchten, dass Mr. Collier wiederkommt, nicht, dass er für immer und ewig verschwindet.«
Sute ignorierte die mürrische Frau. »Ich sage nur, dass dieses Haus eine sexuelle Wirkung auf bestimmte Menschen auszuüben scheint, die dort übernachten. Einer davon war mein Großvater.«
Die Kassiererin schäumte sichtlich vor Wut, aber Collier konnte es nicht dabei bewenden lassen. »Eine sexuelle Wirkung in welcher Hinsicht?«
Sute zuckte einmal knapp mit den Schultern. »Manche Menschen haben dort eine unerklärliche ... Steigerung ihres ... sexuellen Bewusstseins erfahren.«
Steigerung. Sexuelles Bewusstsein. Colliers Verstand rotierte. »Sie meinen damit, dass dieses Haus die Menschen g...«
Bevor Collier das Wort »geil« aussprechen konnte, beschönigte Sute Colliers Ausdrucksweise, indem er ihn unterbrach. »Das Haus schürt das Verlangen bestimmter Menschen. Vor allem bei Leuten, bei denen solche Gelüste an sich nachgelassen haben. Mein Großvater beispielsweise war über achtzig, als er dort übernachtete.« Sute lächelte wieder und flüsterte: »Er meinte, er hätte dort einen Sexualtrieb wie ein Zwanzigjähriger erfahren.«
Collier musste bewusst an sich halten, damit ihm nicht der Mund aufklappte.
Genau wie bei mir von dem Moment an, als ich dieses Haus betreten habe ...
»Mr. Sute? Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir erlauben, Sie zum Essen einzuladen«, sagte Collier.
Warum faszinierte das Thema Collier dermaßen? Er versuchte erst gar nicht, der Frage genauer nachzugehen. Sutes seltsame Äußerung über »gesteigertes« sexuelles Verlangen und der Umstand, dass Collier genau das erlebt hatte, konnten ebenso gut ein Zufall sein – tatsächlich war er davon überzeugt.
Und dennoch ...
Das Haus übte wirklich einen Einfluss auf ihn aus – wahrscheinlich aufgrund seiner Langeweile und Existenzangst. Sie spazierten um eine Ecke. Es streichelte Sutes Ego sichtlich, dass dieser »Star« interessiert genug an seinen Geschichten war, um ihn zum Essen einzuladen. Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte Collier, denn J. G. Sute wollte in seinem Lieblingsrestaurant essen: Cusher’s.
»Stört es Sie, wenn wir uns an die Bar setzen?«, fragte Collier, als er dort zwei leere Hocker bemerkte. Besser noch, Dominique stand an den Zapfhähnen, bezaubernd wie eh und je mit ihrem dunklen, glänzenden Haar und ihrer den Busen verhüllenden Braumeisterschürze. Hoffnungsvoll schaute Collier zu ihr, und als sie ihn anlächelte und winkte, hatte er das Gefühl, zu schmelzen. Oh Mann. Die perfekte Frau ...
»Keineswegs, die Bar ist mir durchaus recht«, antwortete Sute. Doch dann ...
Ihr Drecksäcke!, brüllte Collier in Gedanken. Verschwindet sofort von diesen Hockern!
Ein Paar mittleren Alters erreichte die Hocker vor ihnen.
Collier ging zum Ende der Bar. »Hi«, begrüßte er Dominique.
»Freut mich, dass Sie gekommen sind«, gab sie zurück. Die karamellfarbenen Augen leuchteten. »An der Bar ist momentan alles besetzt, aber im Speisesaal haben wir noch reichlich freie Plätze.«
»Ich, äh, hatte gehofft, mit Ihnen reden zu können ... Oh, und ich habe dieses Formular dabei.«
»Prima. Kommen Sie einfach damit zu mir, nachdem Sie gegessen haben.« Dominique schaute zu Colliers merkwürdigem Gast. »Kaut er Ihnen ein Ohr ab?«
»Na ja ...«
»Der gute alte J. G. wird Sie schon in seinen Bann schlagen«, meinte sie. »Gestern Abend schienen Sie mir ziemlich interessiert an der Folklore der Stadt zu sein. Dafür ist Mr. Sute genau der Richtige.«
»Hab ich gehört. Aber ...« Scheiße! »Ich wollte echt gern an der Bar sitzen.«
Sie verengte die Augen und lächelte. »Ich laufe Ihnen nicht weg.«
Herrgott, ich steh wirklich auf sie, dachte Collier. Eine Kellnerin führte sie zu zwei freien Plätzen im Speisesaal. Ich habe diesen dicken Tölpel zum Essen eingeladen, also muss ich jetzt auch damit leben. Später habe ich noch reichlich Zeit, mich mit Dominique zu unterhalten.
»Ich empfehle die Forellenfrikadellen aus der Pfanne mit Whiskeysoße«, sagte Sute. »Die schmecken hier vorzüglich und sind eine Spezialität des Südens.«
»Das probiere ich. Gestern Abend hatten Jiff und ich nur gewöhnliche Burger, und die waren schon toll.«
Sutes hängende Züge schienen zu erstarren. Er glotzte Collier geradezu erschrocken an. »Sie ... Sie kennen Jiff? Jiff Butler, Helens Sohn?«
Hauptsächlich, um Sutes Reaktion zu beobachten, erwiderte Collier: »Oh, klar, Jiff und ich sind Freunde. Er hat mir beim Einchecken geholfen.« Collier erinnerte sich an Jiffs ähnlich merkwürdiges Verhalten am vergangenen Abend, als Sutes Name fiel. »Wir haben hier gestern Abend ein paar Bier zusammen getrunken. Er war es, der mir erzählt hat, ich könnte Sie im Buchladen finden.«
Die Aussage schien Sute völlig aus der Fassung zu bringen, und der Mann hatte sichtlich Mühe, sie zurückzuerlangen. »Er ... er ist auch ein Freund von mir, ein ausgesprochen netter junger Mann. Was, äh, hat Jiff sonst noch gesagt?«
Also, dieser Ort und die Leute sind echt der Brüller. Was geht hier bloß ab? Sute war offensichtlich beunruhigt, deshalb tat Collier so, als fiele es ihm nicht auf. »Er selbst kannte zwar ein paar Geschichten, aber ehrlich gesagt, wollte er sie mir noch weniger erzählen als Sie. Am interessantesten war, dass sich Harwood Gast kurz nach der Fertigstellung seiner Bahnstrecke erhängt hat.«
»Ja, an dem Baum vor dem Haus«, bestätigte Sute.
»Und einige Jahre später, gegen Ende des Kriegs, sollen sich Unionssoldaten an demselben Baum erhängt haben.«
»Ganz recht, ganz recht ...«
Collier stützte sich auf die Ellbogen. »Gut und schön, Mr. Sute, aber wie kann das wirklich jemand wissen?«
Sute ergriff eines der Bücher, die Collier gekauft hatte, blätterte zu einer bestimmten Seite und reichte es ihm.
Es handelte sich um eine weitere Ferrotypie im fotokopierten Bildabschnitt. Die Beschreibung dazu lautete: Unionssoldaten, die entsandt wurden, um das Haus der Gasts niederzubrennen, erhängten sich stattdessen am 31. Oktober 1864 an diesem Baum. Zwei Jahre davor hatte sich Harwood Gast an demselben Baum erhängt.
Das kontrastreiche, metallgraue Bild zeigte Bundessoldaten, die mit gebrochenem Genick von einem dicken Ast baumelten.
»Das ist ... bemerkenswert«, meinte Collier. »Hier erzählt wirklich jedes Bild eine Geschichte.«
»Ich fürchte, von der Sorte gibt es noch einige.« Auf Sutes Stirn brach Schweiß aus. »Äh, hat Jiff sonst noch etwas gesagt? Etwas über mich?«
Der Typ schwitzt wie ein Schwein, stellte Collier fest. Sutes Reaktion auf Jiffs Namen war genauso merkwürdig wie die Schauergeschichten. »Nur, dass er gelegentlich Handwerkerarbeiten für Sie erledigt und dass Sie der örtliche Fachmann für die Geschichte der Stadt sind.« Collier beschloss, die Wahrheit ein wenig zu beugen, um zu sehen, was geschehen würde. »Und natürlich hat er erwähnt, dass Sie ein erfolgreicher Autor und ein hoch angesehenes Mitglied der Gemeinde sind. Er hat Sie sogar eine lokale Legende genannt.«
Sute schluckte und wirkte verblüfft über Colliers Aussage. »Was ... was für ein großzügiges Kompliment. Ja, Jiff ist wirklich ein wunderbarer Mann.« Sute tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. »Sagen Sie, Mr. Collier, haben Sie etwas dagegen, wenn ich etwas trinke?«
Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen, Kumpel. »Nur zu. Ich werde mir selbst den einen oder anderen Drink genehmigen.«
Collier bestellte sich ein Bier, während sich Sute für einen Grey Goose Martini entschied. Er ist so durcheinander, dass er Alkohol braucht. Tatsächlich schien die bloße Erwähnung von Jiffs Namen eine geradezu hypnotische Wirkung auf den Mann zu haben. Aber Collier bemerkte, dass er sich davon ablenken ließ. Was immer sich zwischen Sute und Jiff abspielen mochte, darum ging es nicht. Collier brannte darauf mehr zu erfahren, und zwar über ...
»Und Penelope Gast, die Ehefrau? Ich glaube, Jiff hat erwähnt, dass Gast sie ermordet hat. Stimmt das?«
Sute beruhigte sich, als er mit dem ersten Schluck des Martinis ein Drittel des Glases leerte. »Ja, hat er, einen Tag, bevor er sich erhängt hat. Und weil wir zuvor von Leuten mit gesteigertem sexuellem Verlangen gesprochen haben – dafür war Mrs. Gast ein Paradebeispiel, zudem eine interessante Ergänzung zum Wesen des Hauses.«
»Wollen Sie damit sagen, das Haus sei der Grund für ihre gesteigerte Sexualität gewesen?«
Sute dachte darüber nach, während er einen weiteren Schluck trank. »Vielleicht, oder vielleicht war es umgekehrt. Manch einer behauptet, nicht das Haus habe sie beeinflusst, sondern sie das Haus. Die schiere Böswilligkeit ihrer Fleischeslust.«
Collier hatte Mühe, nicht zu lachen. »Mr. Sute, für mich klingt es eher so, als wäre sie bloß eine weitere untreue Hausfrau gewesen, die das Pech hatte, erwischt zu werden. Dass sie ein Flittchen war, bedeutet noch lange nicht, dass ihr Haus besessen ist. Würde es so funktionieren, hätte der Immobilienmarkt in Los Angeles ernste Probleme.«
»Bloß eine weitere untreue Hausfrau oder doch mehr? Niemand wird je in der Lage sein, das mit Sicherheit zu beantworten«, meinte Sute ruhig. »Berichten zufolge war sie schwanger, und zwar nicht von ihrem Ehemann. Wir wissen das, weil der örtliche Arzt ihren Namen in einer Akte in seinem Tresor hatte.«
»Na und? Vielleicht hatte sie einen Termin wegen Ohrenschmerzen bei ihm.«
»Sie hatte einen Termin wegen einer Abtreibung. Wie das damals gemacht wurde, ist ...« Mit leicht gequälter Miene schaute Sute auf. »Es ist unschön, darüber zu reden, Mr. Collier. Das war eine hässliche, sehr hässliche Sache, und das wollen Sie bestimmt nicht unmittelbar vor dem Essen hören.«
Collier kicherte. »Mr. Sute, mein Leben in Los Angeles ist so langweilig, dass ich oft gar nicht mehr klarsehe. Das hier ist faszinierend, es macht mich wirklich neugierig. Außerdem kann es unmöglich übler sein als die täglichen Verbrechensmeldungen in der Los Angeles Times.«
»Na schön. Wenn Sie unbedingt wollen, dann beuge ich mich Ihrem Wunsch.« Der fettleibige Mann räusperte sich. »Schwangerschaften wurden damals abgetrieben, indem ein Destillat aus gekochten Büffelbeerblüten in den Gebärmutterkanal injiziert wurde. Dieses – ausgesprochen adstringierende – Mittel verursachte eine drastische Veränderung des PH-Werts im Uterus und führte in der Regel innerhalb von drei Tagen zu einer Fehlgeburt. Aus der Akte des städtischen Arztes – und beachten Sie bitte, dass es eine private Akte über seine privaten Aktivitäten war – geht klar hervor, dass es sich bei Mrs. Gasts Termin um eine Abtreibung handelte. Schon davor hatte Mrs. Gast drei weitere Termine für dieselbe Behandlung – jedenfalls drei protokollierte. Die Akte reichte fünf Jahre zurück. Natürlich hat sie nicht lange genug gelebt, um diesen vierten Termin wahrzunehmen. Harwood Gast kam früher als erwartet zurück nach Hause – und hat sie umgebracht.«
»Wie?«
Ein weiterer gequälter Blick. »Mit einer Axt.«
»Er hat seine eigene Frau mit einer Axt erschlagen, als sie schwanger war?«
»Ja, und zwar in dem Zimmer, in dem sie all ihre Seitensprünge begangen hatte. Sie hatte für diese Stelldicheins einen speziellen Raum. Dieses Zimmer wurde für sie unter Verschluss gehalten – vom Hausmädchen der Familie, einer Sklavin namens Jessa. Mich schaudert bei dem Gedanken daran, wie viele weitere Geheimnisse Jessa mit ins Grab genommen haben mag – obwohl sie ja nie ein richtiges Grab bekommen hat. Wissen Sie, Gast hat auch sie ermordet, als er von ihrer Komplizenschaft mit seiner Frau erfuhr.«
Collier spähte über sein Bier hinweg. »Ich traue mich fast nicht, zu fragen ...«
»Sie wurde ... nun, sie wurde auf den Feldern für die Bussarde und Krähen zurückgelassen.«
Sutes Zögern machte Collier stutzig. »Zurückgelassen? Sie meinen, Gast hat sie umgebracht und ihre Leiche irgendwo zurückgelassen?«
Sute trank seinen Martini aus, bestellte einen weiteren und antwortete schließlich stoisch: »Gast ließ sie von zwanzig seiner loyalsten Bahnarbeiter zu Tode vergewaltigen. Danach wurde ihre Leiche auf den Feldern hinter dem Haus abgeladen. Übrigens fand die Massenvergewaltigung in demselben Zimmer statt, in dem Mrs. Gast später an jenem Tag ermordet werden sollte ...
Zu Tode vergewaltigt. Ja, viel übler kann es wirklich kaum werden.
»... und da Sie ja darauf bestehen, die morbiden Details zu erfahren, sollte ich vielleicht hinzufügen, dass Mrs. Gast eine ähnliche Behandlung von Gasts Vasallen erfuhr. Natürlich sah er dabei zu.«
»Das verstehe ich nicht. Mrs. Gast wurde ebenfalls zu Tode vergewaltigt? Ich dachte, sie hätten gesagt, er habe sie mit einer Axt ...«
»Sie wurde nicht ganz zu Tode vergewaltigt – auf ausdrückliche Anordnung von Gast. Nach einigen Stunden, als sie drauf und dran war, das Zeitliche zu segnen ... das war der Zeitpunkt, als Gast mit der Axt eingriff.«
»Und dann wurde sie wie das Hausmädchen auf das Feld geworfen?«
»Nein. Er ließ ihre Leiche im Bett zum Verrotten zurück. Die Ironie ist, dass sie auf solche Weise in eben jenem Zimmer starb, dessen Zweck sie vor ihrem Mann verheimlicht hatte. Zweifellos entstanden diese vier Schwangerschaften durch andere Männer auch in diesem Raum, und ich vermute, noch so manch anderes.«
»Sie erwähnen immer wieder dieses Zimmer – ich frage mich, welches genau es sein mag.«
»Es liegt am Haupttreppenflur. Mrs. Butler vermietet es nicht. Zimmer zwei.« Sute sah ihn an. »In welchem Zimmer wohnen Sie, Mr. Collier?«
Ein jäher Stich durchzuckte Collier. »In Zimmer drei.«
»Dann haben Sie eine interessante Lage. Zu ihrer Linken befindet sich der Raum, in dem sowohl Jessa als auch Penelope Gast ermordet wurden, und zu Ihrer Rechten das ursprüngliche Badezimmer samt Toilette.«
»Und was ... ist dort passiert?«
»Dort hat Gast einen seiner Vorarbeiter ertränkt, einen Streckenkontrolleur namens Taylor Cutton. Dieser Cutton hatte das Pech, einer von Mrs. Gasts geheimen Liebhabern zu sein. Irgendwie fand Gast es heraus und ertränkte Cutton in der Sitzbadewanne ... unter anderem.«
Verdammt, dachte Collier. Ich hoffe, es war nicht dieselbe Wanne, in der ich Mrs. Butler gestern Nacht beim Baden beobachtet habe ...
Letztlich machte ihm das Thema doch zu schaffen. Als das Essen kam, roch es zwar köstlich, trotzdem stocherte er nur darin herum. Mehrere weitere Gläser von Cusher’s Bürgerkriegsbier entschärften die ruchlose Geschichte ein wenig, die er Sute praktisch abgenötigt hatte. Collier fragte: »Und dieses Manuskript, das Sie geschrieben haben, das zu derb für Verleger ist – haben Sie es noch?«
Sutes Gesicht war von einem dritten Martini leicht gerötet. »Oh ja. Es sammelt in meinem Regal Staub an.«
»Und es enthält die gesamte Geschichte von Harwood Gast – die vollständige Legende des Mannes?«
Sute nickte. »Und ich glaube, der Großteil davon ist wohl ziemlich genau. Die meisten Quellen sind äußerst authentisch. Unabhängig davon, was Sie vom übernatürlichen Aspekt halten, Mr. Collier, so viel können Sie glauben: Harwood Gast war schlicht und ergreifend ein durch und durch böser Mensch.«
»Dasselbe hat Mrs. Butler auch gesagt.«
»Und Sie weiß, wovon sie spricht. Einige ihrer Vorfahren haben in dieser Stadt gelebt, als sich all diese Dinge zugetragen haben, ebenso wie einige meiner Vorfahren. Aber ich weiß Ihr Interesse zu schätzen. Ich muss gestehen, ich finde es sehr schmeichelhaft. Hier ist meine Karte.« Er schob eine Visitenkarte über den Tisch. »Falls Sie sich das Manuskript leihen oder es durchblättern möchten, fragen Sie einfach. Aber bitte rufen Sie vorher an.«
»Danke«, sagte Collier. »Womöglich komme ich darauf zurück.«
»Ich kann Ihnen auch einige der Original-Daguerreotypien zeigen, die ich entschieden habe, in keinem meiner veröffentlichten Bücher abzudrucken. Darunter sind einige Akte von Mrs. Gast, falls ... falls Sie so etwas interessiert.«
Collier zog die Augenbrauen hoch und dachte: Akte? »Ach, hören Sie doch auf. Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass sie auch Pornografie gemacht hat, oder? So etwas hat es damals bestimmt noch gar nicht gegeben.«
»Nein, nichts dergleichen. Aber so, wie Adelige früherer Zeiten ihre Ehefrauen nackt malen ließen, hat man dasselbe gemacht, als die Fotografie erfunden wurde. Daguerreotypien und andere frühe Formen der Fotografie waren sehr teuer und ausschließlich sehr reichen Leuten vorbehalten. Tja, Harwood Gast könnte im damaligen Tennessee durchaus der reichste Bürger überhaupt gewesen sein. Er ließ von seiner Frau mehrere Aktbilder für seine persönlichen Zwecke anfertigen. Sie war eine sehr wohlgeformte Frau.«
Collier wunderte sich nach wie vor über sein eigenes Interesse an dem Thema. Und jetzt ... Nacktfotos von Penelope Gast. Die MUSS ich sehen.
Es dauerte einen Moment, bis ihm die nächste Frage einfiel. »Mr. Sute ... wurde in meinem Zimmer auch jemand ermordet?«
»Ich bin froh, dass ich darauf antworten kann: Nein, Mr. Collier.«
Obwohl Collier nicht sicher war, ob er überhaupt etwas von all den Geschichten glaubte, verspürte er Erleichterung.
»Und das war’s auch schon, die Kurzfassung jedenfalls.« Sute wirkte nach wie vor zerstreut. Er schien ständig über Colliers Schulter durch das Buntglasfenster des Restaurants zu blicken. »Ich will Sie nicht mit bestimmten anderen Erzählungen langweilen – Dingen, die angeblich im Haus bezeugt wurden.«
»Endlich. Geister.«
»Ja, Mr. Collier. Geister, Erscheinungen und jedes nur vorstellbare, unheimliche Geräusch in der Nacht. Schritte, Stimmen, bellende Hunde ...«
»Was?«, fragte Collier jäh dazwischen.
Sute lächelte. »Ja, außerdem regressive Albträume, Halluzinationen ...«
»Was meinen Sie mit regressiven Albträumen?«, wollte Collier wissen.
»... und sogar Dämonen«, beendete Sute seine Aufzählung.
Collier begann mit seinem nächsten Bier. Er ließ sich nicht gern zum Narren halten. War dieser bizarre fette Kerl nur ein meisterhafter Geschichtenerzähler? Oder ...
Collier hatte nicht wirklich Hunde bellen gehört, nur einen Hund gesehen – zumindest hatte er das geglaubt. Und er hatte festgestellt, dass seine sexuelle Lust geradezu explodiert war ... was Sute zufolge auch andere erlebt hatten. Und der Albtraum, den er gehabt hatte? Darin war er tatsächlich in der Zeit zurückversetzt worden, in eine Szenerie unvorstellbarer Grausamkeiten während des Bürgerkriegs, bei denen auch eine Eisenbahn eine Rolle gespielt hatte.
Und Stimmen hatte er ebenfalls gehört, oder? Kinder, eine Frau, einen Mann.
Und jetzt das.
»Dämonen?«, hakte Collier nach.
»Ich fürchte ja.«
»Lassen Sie mich mal raten«, Collier versuchte, sich flapsig zu geben. »Ich wette, Harwood Gast war in Wirklichkeit ein Dämon. Der das Werk des Teufels auf Erden vollbracht hat.«
Sute kicherte über den Versuch. »Nein, Mr. Collier. Tatsächlich verhält es sich anders.«
»Nämlich?«
»Es wird seit Langem spekuliert, dass Gast seine sprichwörtliche Seele ... an einen Dämon verkauft haben könnte.«
Collier rieb sich über die Augenbrauen. Mittlerweile wollte er höchstens noch über sich selbst lachen. All die anderen Dinge entsprangen bloß der menschlichen Natur und zu viel Bier. Er sah das, was der Fantast in ihm sehen wollte. Menschen erfinden alle möglichen Rechtfertigungen, um zu denken, sie hätten einen Geist gesehen. Auch das entsprach der menschlichen Natur, der primitiven menschlichen Natur. Er glich einem Cro-Magnon-Menschen, der in seiner Höhle einer schauerlichen Geschichte lauscht und überzeugt davon ist, dass es sich bei dem Geräusch aus dem Wald um einen unheimlichen gefräßigen Wendigo oder um eine verirrte Seele handelt.
Und nun brachte Sute Dämonen ins Spiel.
»Ich bin froh, dass Sie das gesagt haben, Mr. Sute, denn jetzt ist Ihre Geschichte nicht mehr so beunruhigend.«
»Das freut mich. Demnach glauben Sie nicht an Geister?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Auch nicht an Dämonen?«
»Nein. Ich bin in einer christlichen Familie aufgewachsen ...« Plötzlich musste Collier innerlich würgen. Eine Fünfundsechzigjährige heimlich beim Baden beobachten, Coitus interruptus mit Lottie, ein Vollrausch und dazu noch lodernde, unverminderte, schamlose LUST ... Herrgott, was versuche ich da eigentlich zu sagen? »Was ich meine, ist, dass ich zwar nicht das bin, was man als einen praktizierenden Christen bezeichnen würde, aber ...«
Sute nickte mit einem kryptischen Lächeln. »Sie wurden vom Glauben beeinflusst. Angeblich besucht über die Hälfte der Amerikaner, die sich als Christen bezeichnen, nie die Kirche.«
Was auf mich eindeutig zutrifft, erkannte Collier.
»Aber ich glaube, was Sie eigentlich zu sagen versuchen, ist, dass Ihnen ein Teil Ihrer Erziehung mit christlichen Werten geblieben ist.«
»Genau. Und ich glaube nicht an Dämonen.«
»Und was ist mit christlichen Thesen generell? Glauben Sie daran?«
»Na ja, sicher. Die Zehn Gebote, das Neue Testament und so. Selig sind die, die reinen Herzens sind. Ich meine, ich schätze, ich glaube sogar an Jesus.«
»Dann glauben Sie an die grundlegende christliche Ideologie«, stellte Sute fest.
Innerlich fühlte er sich wie ein Heuchler übelster Sorte. Ich bin profan, ich bin geil, ich bin maßlos, insgesamt also ein ziemlich schlimmer Sünder, aber klar, ich glaube daran. »Ja«, sagte er.
Sute erhob sich und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Wenn das so ist, Mr. Collier, dann glauben Sie an Dämonen. Denn Christus hat sie als Realität anerkannt. ›Legion heiße ich; denn wir sind unser viele.‹ Und damit muss ich mich kurz entschuldigen.«
Collier schaute ihm auf dem Weg zu den Toiletten nach.
Über ihm hing der Schatten ihrer Unterhaltung. In Wirklichkeit wusste er nicht, wie er seinen Glauben definieren sollte. Als er sich umdrehte, füllten zwei üppige Brüste in einem engen weißen T-Shirt und ein Silberkreuz dazwischen sein Blickfeld aus.
»Habe ich richtig gehört? Sie haben über ... christliche Thesen gesprochen?«
Mit offenem Mund schaute Collier auf. Es war Dominique. Sie hatte die Schürze abgelegt und stand unmittelbar neben ihm.
Collier wusste nicht, was er erwidern sollte. Dass er heuchlerisch auf ein christliches Ideal pochte, um zu erklären, weshalb er nicht an Dämonen glaubte? Das würde sich wie völliger Schwachsinn anhören. Dominique war – so schien es zumindest – eine echte Christin, keine falsche. Einen Moment lang spielte er sogar mit dem Gedanken, sie zu belügen, um sie zu beeindrucken.
Und sie würde es so mühelos durchschauen, wie ich durch dieses Bierglas schaue.
Schließlich meinte er: »Mr. Sute und ich haben uns rein subjektiv unterhalten.«
»Worüber?«, hakte sie sofort nach. Ein verhaltenes Katzenlächeln schien sich auf ihn zu richten.
Collier versuchte, wie ein Schriftsteller zu klingen. »Theoretische christliche Interpretation von Dämonologie.«
Sie veränderte die Haltung und stand mit einer Hand an der Hüfte da. »Nun, Jesus war Exorzist. Er hat Dämonen ausgetrieben wie ein Football-Schiedsrichter, der Strafflaggen schwenkt.«
Colliers Gedanken gerieten ins Stocken. Das ist die Frau deiner Träume, du Trottel. Halt das Gespräch am Laufen. »Also ... glauben wahre Christen an Dämonen?«
»Selbstverständlich!«
»Und an den Teufel?«
»Tja, es war jedenfalls nicht der Li-La-Launebär, der Jesus vierzig Tage lang in der Wüste versucht hat. Wenn man an Gott glaubt, muss man auch an den Teufel und dessen Günstlinge glauben. Luzifer ist keine Metapher – Gott, das kann ich echt nicht mehr hören. Er ist weder ein Abstraktum noch ein Symptom für Geisteskrankheit.« Sie stöhnte. »Gott hat Satan wegen seiner Eitelkeit und seines Stolzes vom zwölften Himmelstor gestoßen – einst sein Liebling, ein Engel namens Luzifer. Mit anderen Worten, der Teufel ist echt, und dasselbe gilt für seine Dämonen. Glaubt man nicht an Dämonen, kann man auch nicht glauben, dass Christus sie rausgeworfen hat, und glaubt man das nicht, ist das genauso, als behaupte man, das Neue Testament sei blanker Blödsinn ...«
Verblüfft vom Umfang ihrer lebhaften Erklärung saß Collier da.
Dominique beendete ihre Ausführungen mit einem lässigen Schulterzucken. »Wenn also jemand, der sich als Christ bezeichnet, nicht an das Neue Testament glaubt, dann ist derjenige gar kein Christ. Ganz einfach.«
Collier hätte über ihre Vielschichtigkeit lachen oder verblüfft von ihrer Überzeugung bleiben können. Bevor er etwas erwidern konnte, fragte sie: »Wie sind Sie überhaupt auf das Thema gekommen? Hätte nicht gedacht, dass Amerikas bedeutendster Bierchronist ausgerechnet darüber palavert.«
Nun musste Collier tatsächlich lachen. »Ich würde sagen, einige religiöse Aspekte haben sich in meine Neugier über die Folklore der Stadt geschlichen.«
Dominique verdrehte die Augen, als sie das leere Martiniglas bemerkte. »Ach, er ist das, der unzählige Grey Goose Martinis bestellt.«
Collier verrenkte sich den Hals, um zu ihr aufzuschauen. Sonnenlicht ließ das Kreuz zwischen ihren Brüsten wie geschmolzenes Metall funkeln. »Sagen Sie ...«
»Was?«
»Glauben Sie etwas davon? Ich meine von diesen alten Geschichten.«
Ihr Katzengrinsen verlor sich ein wenig. »Ja.«
Aus irgendeinem Grund jagte ihm der Tonfall ihrer Antwort einen Schauder über den Rücken. Veralbert sie mich etwa?
»Sie haben ja kaum etwas von Ihren Forellenfrikadellen gegessen«, stellte sie fest. »Muss ich in die Küche raus und jemandem in den Hintern treten?«
Collier kicherte. »Nein, sie sind fantastisch. Aber ich habe eine Schwäche für gute Geschichten, und Mr. Sute hat mich tatsächlich völlig in seinen Bann geschlagen.«
»Mr. Sute ... oder Harwood Gast?«
»Na ja, beide, schätze ich. Aber wissen Sie, letzte Nacht hat es für mich so geklungen, als ginge es Ihnen genauso.«
Sie zuckte erneut mit den Schultern und warf das Haar zurück. »Ich habe auch eine Schwäche für gute Geschichten. Aber bitte fragen Sie mich nicht, ob ich je etwas im Haus der Gasts gesehen habe. Das würde mich in eine unangenehme Lage bringen.«
Ist sie tatsächlich genauso schlimm wie Sute, oder klebt auf meiner Stirn Bitte manipulieren Sie mich?
»Wie auch immer, ich muss jetzt los. Eigentlich bin ich bloß gekommen, um mich zu verabschieden.«
Collier war am Boden zerstört. »Ich dachte, Sie arbeiten bis sieben«, hätte er beinahe geschluchzt.
»Ich hatte gerade einen Anruf von einem meiner Lieferanten. Ich muss nach Knoxville rauffahren, um eine Hopfenbestellung abzuholen. Ich bin erst in einigen Stunden wieder zurück, und ich glaube kaum, dass Sie so lange hier warten wollen.«
Scheiße! Mit einem Schlag war Collier stinksauer. Er war so beschäftigt damit gewesen, sich Sutes Schauermärchen anzuhören, dass er die Gelegenheit verpasst hatte, mit Dominique zu reden. »Verdammt. Na ja, dann komme ich morgen vorbei, um Ihnen die Einverständniserklärung zu geben.«
»Das wäre toll«, gab sie zurück. »Dafür wäre ich Ihnen wirklich dankbar.«
»Danken Sie nicht mir. Sie sind diejenige, die dieses Bier braut.« Colliers Verstand setzte aus, und bevor ihm klar wurde, was er sagen würde, hatte er es bereits ausgesprochen. »Vielleicht könnten wir ja mal zusammen ausgehen ...«
Was?!, dachte er. Was habe ich gerade gesagt? Ich hab sie doch nicht wirklich ...
»Gern. Wie wär’s mit heute Abend?«
Collier erstarrte. »Äh, ja. Perfekt.«
»Dann holen Sie mich doch um acht ab. Bis dann!«
Damit eilte Dominique zum Haupteingang hinaus.
Collier fühlte sich wie ein Fallschirmspringer, der soeben aus dem Flugzeug gestiegen war. Sein Gesicht schien zu glühen. Ich habe sie gerade um eine Verabredung gebeten ... und sie hat zugesagt!
Er nahm es kaum wahr, als Sutes üppige Masse wieder Platz nahm. Waren die Augen des Mannes gerötet? Entweder ist er gegen irgendetwas allergisch, vermutete Collier, oder der Kerl hat geweint.
»Alles in Ordnung, Mr. Sute?«
Sute wirkte völlig aufgelöst. »Oh ja, es ist nur ... ich stecke in ein paar persönlichen Sümpfen und weiß nicht recht, wie ich damit umgehen soll.« Er bestellte sich einen weiteren Martini.
Tja, das ist eine Möglichkeit, dachte Collier. Selbst während der angeregtesten Phase ihres Gesprächs hatte Sute leicht abwesend gewirkt, beinahe, als würde er sich nach etwas verzehren. Ob es mit Jiff zu tun haben konnte?
Collier wusste, dass er es besser nicht tun sollte ... »Ach ja, da ist noch etwas, das ich mich gefragt habe. Das Land. Als Jiff mir gestern mein Zimmer gezeigt hat, wollte ich von ihm etwas über all das Land rings um die Stadt wissen. Für mich sieht es wie tadelloses Ackerland aus. Aber Jiff sagte, es wird seit Jahren nichts mehr darauf angebaut.«
Sute schluckte schwer und nickte. Aber die Taktik hatte funktioniert; beide Male, als der Name Jiff gefallen war, hatte Sute mit den Augen reagiert – mit demselben gequälten Ausdruck. Der Mann hatte sichtlich damit zu kämpfen, eine Antwort herauszubringen.
»Tatsächlich wird das Land seit Harwood Gasts Tod im Jahr 1862 nicht mehr bestellt. Dabei war es hervorragendes Land, großartige Erde. Davor gab es reiche Ernten – Baumwolle, Mais und Sojabohnen, so weit das Auge reichte.« Sutes Stimme verfiel in einen düsteren Tonfall. »Würden die Bauern jetzt hier etwas anbauen ... würde niemand etwas davon essen.«
»Weil das Land verflucht ist?« Collier nahm eine nachdenkliche Haltung ein. »Ich meine mich zu erinnern ... dass Jiff etwas in der Richtung gesagt hat.«
Zitterte Sutes Hand?
»Natürlich hat Jiff nicht gesagt, dass er selbst glaubt, das Land sei verflucht«, fuhr Collier fort, um den Effekt zu verstärken. »Nur, dass es der Legende nach so sei.«
»So ist es in der Tat.« Schließlich gelang es Sute, die Fassung zurückzuerlangen. »Die Leute glauben, das Land sei wegen der Dinge verunreinigt, die darauf geschehen sind, als es noch Gast gehörte. Soweit bekannt ist, hat er darauf unzählige von Sklaven hinrichten lassen.«
»Wirklich? Ist das eine Tatsache?«
»Höchstwahrscheinlich eine übertriebene Tatsache. Meinen Recherchen zufolge wurden vielleicht dreißig bis vierzig Sklaven hingerichtet, nicht Hunderte, wie es die Legende behauptet. Aber trotzdem, es wurden dort Menschen getötet.«
»Mit anderen Worten: gelyncht.«
»Ja, allerdings nicht durch Erhängen, was man landläufig darunter versteht. Natürlich waren diese Männer Sklaven, einen Prozess gab es davor nie. Vergessen Sie nicht, es war die Ära von Dred Scott – Sklaven wurden rechtlich als bewegliches Eigentum betrachtet, nicht als Bürger, die Anspruch auf Grundrechte hatten. Deshalb sahen Sklaven, die man eines Verbrechens beschuldigte, nie ein Gericht. Immer, wenn Weiße sie einer Straftat verdächtigten, wurden sie kurzerhand hingerichtet.«
»Legaler Mord.«
»Oh ja.«
»Diese Sklaven – was hat man ihnen zur Last gelegt?«
»Fast ausschließlich Sexualverbrechen. Hatte eine weiße Frau aus freien Stücken Geschlechtsverkehr mit einem Sklaven – hatte sich der Sklave der Vergewaltigung schuldig gemacht. Betatschte ein Sklave eine weiße Frau oder sah er sie auch nur wollüstig an ... dasselbe. Mehrere dieser Anschuldigungen wurden von niemand Geringerem als Penelope Gast selbst vorgebracht. Es gibt sogar Berichte, dass Sklaven ihre Avancen zurückgewiesen haben sollen, was sie dermaßen wütend machte, dass sie schwor, der Mann hätte sie entweder vergewaltigt oder belästigt. Die Folge: sofortige Exekution. Und natürlich wissen wir, dass sie viele, viele freiwillige Techtelmechtel mit Sklaven hatte, von denen einige zweifellos zu höchst unerwünschten Schwangerschaften geführt haben dürften. Das Ganze war eine schaurige Farce. Ich bezweifle, dass überhaupt je einer der hingerichteten Sklaven einer echten Vergewaltigung schuldig war.«
Collier verengte die Augen. »Wenn man sie nicht gehängt hat, wie wurden diese Männer dann hingerichtet?«
»Sie wurden von Pferden zu Tode geschleift oder manchmal auch nur abgeschlachtet. Anschließend wurden sie enthauptet, während alle anderen Sklaven dabei zusehen mussten. Harwood Gast war ein überzeugter Verfechter der Grundsätze der Abschreckung. Die abgetrennten Köpfe spießte man auf Pfähle und ließ sie einfach weithin sichtbar stehen. Manche blieben jahrelang aufgestellt.«
Jäh schossen Colliers Augenbrauen nach oben. »Tja, jetzt verstehe ich, wieso abergläubische Menschen glauben, das Land sei verflucht.«
Sutes Martini wurde in kleinen, schnellen Schlucken geleert. »Nein, die Enthauptungen waren noch nicht der Höhepunkt. Nachdem man den Unglückseligen die Köpfe abgeschlagen hatte, wurden ihre Körper mit Vorschlaghämmern zerstampft, mit Äxten zerkleinert und dann in die Erde geharkt. Was halten Sie davon als Geschichte vom ›verfluchten Feld‹?«
Collier drehte sich der Magen um. Grundgütiger. Dieser Gast war ja ein reinrassiger Psycho. Gegen den nimmt sich Dschingis Khan wie Mickey Maus aus. »Jetzt weiß ich, warum die Einheimischen Gast als den bösesten Menschen bezeichnen, den die Stadt je erlebt hat.«
»Im Wesentlichen stand hinter allem, was Harwood Gast je gemacht hat, ein bösartiges Motiv.«
»Schon der Bau der Eisenbahn selbst«, fügte Collier hinzu. »Ausschließlich dafür, gefangen genommene Zivilisten in Konzentrationslager zu transportieren – allein das schießt den Vogel ab.«
Sute zog bei Colliers Worten die Augenbrauen hoch.
Beinahe so, als hielte er eine zusätzliche Äußerung zurück.
Auch das fiel Collier auf. Das und die Trübsal des Mannes – aufgrund irgendwelcher »persönlicher Sümpfe« – ließen Collier denken: Ich wüsste ja nur allzu gern, was wirklich in der Birne dieses Typen vorgeht ...
»Es heißt, das ›Böse‹ sei relativ«, fuhr Sute fort, nachdem er seinen nächsten Drink geleert hatte. »Aber ich bin mir da nicht so sicher.«
»Gast war wahnsinnig.«
»Das hoffe ich. Was seine Frau angeht, bin ich nicht überzeugt, dass sie tatsächlich wahnsinnig war – wahrscheinlich wohl eher eine soziopathische Sexbesessene.«
Collier lachte.
Im Verlauf ihres Gesprächs schien Sutes Gesicht um zehn Jahre gealtert zu sein. Die Ringe unter seinen Augen waren dunkler geworden, seine Lider hingegen hatten sich verstärkt gerötet.
»Mr. Sute, sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Sein Gegenüber schluckte und tupfte sich erneut mit dem Taschentuch die Stirn ab. »Ich glaube nein, Mr. Collier. Ich fühle mich nicht besonders. Es war wunderbar, mit Ihnen zu essen, aber ich fürchte, ich muss mich jetzt entschuldigen.«
»Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich ein wenig aus«, riet Collier. Und trink nächstes Mal keine Wagenladung Martinis. »Ich bin sicher, es geht Ihnen bald wieder besser.«
»Danke.« Schwankend erhob sich Sute und schüttelte Collier die Hand. »Und ich hoffe, meine Schilderungen der merkwürdigen Geschichte dieser Stadt haben Sie unterhalten.«
»Sehr sogar.«
Plötzlich schlängelte sich ein etwa sechzigjähriger, wahrscheinlich noch schwererer Mann als Sute um den Tisch: fortschreitende Glatze, weißer Bart, ein breites, fröhliches Weihnachtsmanngesicht. »J. G.!«, begrüßte der Neuankömmling Sute. »Gehst du schon? Bleib doch noch und trink etwas.«
»Oh nein, Hank, ich hatte schon zu viel ...«
Der breit grinsende Mann wandte sich Collier zu.
»Und Mr. Justin Collier! Die Neuigkeit verbreitet sich schnell, wenn ein Prominenter die Stadt besucht, und ich bin immer der Erste, der Neuigkeiten erfährt.« Er schüttelte Colliers Hand wie einen Wagenheber. »Ich bin Hank Snodden und kann nur sagen, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen! Übrigens liebe ich Ihre Sendung. Ich kann den Beginn der nächsten Staffel kaum erwarten.«
Tut mir leid, Kumpel, aber darauf kannst du lange warten, dachte Collier. »Danke für die netten Worte, Mr. Snodden.«
»Hank ist der Bürgermeister unserer bescheidenen kleinen Gemeinde«, teilte ihm Sute mit.
Der überschwängliche Mann klopfte Collier auf den Rücken. »Außerdem bin ich Landkreisverwalter, Genehmigungsinspektor der Stadt und Grundbuchführer.« Er stupste Collier einen Ellbogen in die Rippen. »Und mir gehört das Autohaus an der Ecke. Kommen Sie mal vorbei, und ich mache Ihnen ein Spitzenangebot!«
Collier heuchelte ein Kichern. »Mir gefällt Ihre Stadt sehr, Mr. Snodden.«
Der quirlige Mann drehte sich wieder Sute zu und runzelte die Stirn. »J. G., du siehst nicht gut aus.«
Sute wankte auf den Füßen. »Ich bin ein wenig unpässlich ...«
»Von wegen, betrunken bist du!« Snodden lachte. »Genau wie ich! Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus ...«
»Ja, ich gehe jetzt ...«
»... aber vergiss am Montag nicht den Schachklub! Ich werd’ dir den Arsch versohlen.«
Sute entfernte sich mit unsicheren Schritten. »Nochmals danke, Mr. Collier. Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal.«
»Wiedersehen ...«
Schließlich ging Sute und stolperte regelrecht zur Tür hinaus.
»Er ist schon ein echtes Original, Mr. Collier«, flötete der Bürgermeister. »Ich kenne ihn jetzt seit dreißig Jahren, aber ich glaube, so besoffen habe ich ihn noch nie erlebt. Und da wir gerade von besoffen reden, gestatten Sie mir, dass ich Sie auf einen Drink einlade.«
Der Kerl steht mir ein wenig zu sehr unter Strom, dachte Collier. Außerdem fühlte er sich durch all die Biere schon ziemlich angetrunken. »Danke, Sir, aber ich muss auch los.«
»Also, falls Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie einfach im Büro des Bürgermeisters an, sagen, dass Sie ein persönlicher Freund von mir sind, und ich kümmere mich in Nullkommanix darum.«
»Danke, Sir.«
Die Augen des dicken Mannes leuchteten. »Ich vermute mal, J. G. hat über seine Bücher geredet.«
»Ja. Ich habe ein paar gekauft. Aber er hat auch erwähnt, dass eines davon nie ...«
»... nie veröffentlicht wurde, weil, na ja, weil er kein besonders guter Schriftsteller ist. Darüber also hat er Sie vollgelabert – Harwood Gast und seine berüchtigte Eisenbahn.«
»Ja, es ist eine ziemlich düstere, aber auch faszinierende Geschichte ...«
Wieder ein Ellbogen in seinen Rippen. »Und reiner Quatsch, Mr. Collier, aber Sie wissen ja, wie die Südstaatler sind. Sie lieben es, zu fabulieren. Harwood der Schreckliche und Mrs. Pinkel hat man sie genannt.«
Collier kniff die Augen zusammen. »Mrs. Dinkel?«
»Pinkel, Mr. Collier, Mrs. Pinkel – das war einer ihrer Spitznamen.«
»Warum hat man sie so genannt?«
»Oh, da ist meine Frau, Mr. Collier – ich sollte besser gehen, bevor sie anfängt, mich zur Schnecke zu machen ...« Er drückte Collier eine Visitenkarte in die Hand. »Aber es war ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben!«
»Gleichfalls, Sir, aber warten Sie – warum hat man sie so genannt?«
Snodden eilte zu einer mürrisch dreinblickenden Frau davon, die ein Kleid trug, das wie ein Notzelt mit Blumenmuster anmutete.
Mrs. Pinkel? Stirnrunzelnd bezahlte Collier die Rechnung. Das war etwas, das Sute bei seiner geschmacklosen Beschreibung von Penelope Gast ausgelassen hatte. Collier brauchte nicht lange, um zwischen den Zeilen eine Vermutung aufzustellen. Eine echte Sexbesessene. Natursekt-Spiele, mutmaßte er. Wahrscheinlich war sie eine dieser durchgeknallten Schnepfen, die darauf stehen, von Männern angepisst zu werden. Von wegen Schutenhut und Mint Juleps auf der Veranda. Offenbar gab es den schönen Schein in jeder Epoche.
Er schüttelte den Kopf, als er das Restaurant verließ. Sie stand auf Pisse ... Doch plötzlich knotete sich sein Magen zusammen, als ihm einfiel, dass er in seinem Zimmer Urin gerochen zu haben glaubte.
Der herrliche Tag half ihm, Sutes grausige Geschichte aus dem Kopf zu bekommen. Allerdings ...
Vielleicht laufe ich noch ein wenig durch die Ortschaft, um diesen Schwips loszuwerden. Er wusste, dass er stocknüchtern sein musste, wenn es Zeit für seine Verabredung mit Dominique wurde.
Moment mal!, fiel ihm dann ein. Sie wird natürlich nicht in ihrem eigenen Restaurant essen wollen. Ich muss sie woandershin ausführen ... Plötzlich nistete sich eine neue Beklommenheit in seinem Bauch ein. Ich kann die Frau meiner Träume unmöglich in dieser Limone auf Rädern herumkutschieren. Er sah sich nach einer Autovermietung um, doch es überraschte ihn nicht, dass es in einer Kleinstadt wie dieser keine gab. Mit einem Schlag fühlte sich das Problem wie eine ausgewachsene Krise an.
Ich hätte Sute fragen sollen. Wahrscheinlich hätte er mir seinen Cadillac geliehen. Damit hätte er beim Schachklub prahlen können – dass der Fernsehstar gefragt hatte, ob er sich seinen Wagen borgen könne. Aber Sute war weg und zu unerklärlich aufgelöst, um ihn nun anzurufen. Dann hatte Collier eine neue Idee: Jiff! Ich wette, er hat ein Auto. Und ich bin sicher, er leiht es mir, ohne auch nur zu überlegen ...
Collier wollte gerade zurück zur Pension aufbrechen, dann jedoch hielt er auf der Straße inne. Er war ziemlich sicher, dass er gesehen hatte, wie Jiff zwei Häuserblöcke weiter ein Geschäft betreten hatte.
Er folgte dem sauberen Gehweg und zog jedes Mal den Kopf ein, wenn es den Anschein hatte, als sei er erkannt worden. Dieser Prominentenscheiß geht mir echt auf die Nerven. Ich hätte mir einen Bart wachsen lassen sollen ... Als er sich dem Geschäft näherte, stellte er fest, dass es sich um kein Geschäft handelte, sondern um das Lokal, dass er vergangene Nacht gesehen hatte.
Der Eisenbahnnagel, verkündete das Schild am Vordach.
Genau das, was ich jetzt noch brauche. Schon wieder eine Bar ...
Hinter einer Schwingtür mit einem runden Fenster erwartete Collier trübe Düsternis. Zigarettengestank schlug ihm entgegen, und es roch nach abgestandenem Miller Lite. Eine lange Bar erstreckte sich durch den Raum, davor befanden sich gepolsterte Hocker, als sei das Lokal früher einmal eine Imbissstube gewesen. Collier spähte durch die Düsternis, konnte Jiff jedoch nirgendwo ausmachen. Eine Frau saß alleine an einem Tisch und trug Lippenstift auf. Von einem anderen Tisch aus musterten ihn mehrere Männer. An der Bar hielten sich keine Gäste auf.
Was für eine Spelunke, dachte Collier.
Ein groß gewachsener Barkeeper bewegte sich langsam auf ihn zu. Seine Aufmachung war unorthodox, um es vorsichtig auszudrücken – eine Lederweste ohne Hemd darunter, dazu ein Haarschnitt, der Collier irgendwie an den von Frankensteins Monster erinnerte. Der Mann hielt einen Kurzen in der Hand, stellte ihn geräuschvoll auf die Bar und schob ihn Collier zu.
»Das ist ein Blechdach, speziell für Sie«, erklärte der Kerl mit der Stimme eines Wrestlers.
»Ein Blechdach?«, fragte Collier.
Der Barkeeper verdrehte die Augen. »Geht aufs Haus.«
»Äh, danke«, gab Collier bestürzt zurück. Verdammt, ich hasse Kurze, und ich will nicht bleiben, wenn Jiff nicht hier ist. Allerdings wäre es unhöflich gewesen, einfach abzulehnen. Er setzte sich vor die mit Zigarettenbrandflecken übersäte Theke und trank den Kurzen. Nicht übel, obwohl ich Kurze HASSE. »Danke. Das war ziemlich gut.«
»Freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat, Mr. Collier, und wie gesagt, das geht aufs Haus. Hab gestern erfahren, dass Sie in der Stadt sind. Ist verdammt aufregend, einen Fernsehstar in meiner Bar zu haben.«
Das hört wohl nie auf, stöhnte Collier innerlich.
»Ich bin ein Fan Ihrer Sendung, und es passt hervorragend, dass Sie ein Bierkenner sind.« Der Mann schwenkte eine riesige Hand hinter sich und deutete auf eine Reihe von Zapfhähnen. »Wir sind hier kein Haufen von Hinterwäldlern, Mr. Collier. Wir haben den guten Stoff.«
Collier fühlte sich beinahe beleidigt vom Anblick der typischen heimischen Marken. Das Zeug würde ich selbst dann nicht trinken, wenn mein Kopf in einer Guillotine läge ... »Äh, eigentlich wollte ich nur kurz hereinschauen ...«
»Ach, Buster!«, rief eine blecherne Stimme von einem der Tische. »Er trinkt kein heimisches Bier! Gib ihm ein Heineken. Auf meine Rechnung.«
Colliers Mut sank. »Oh nein, danke, aber ...«
Die grüne Flasche wurde lautstark vor ihm abgestellt. »Das geht auf Barry.«
Colliers Schultern sackten herab. Er hob die Flasche in Richtung des Mannes an dem Tisch – den er kaum sehen konnte – und nickte. »Danke, Barry.« Verflucht ... Wenigstens war Heineken so etwas wie das Budweiser eines Bierkenners und ließ sich zur Not trinken. Nur wollte Collier eigentlich gar nichts mehr trinken. »Sagen Sie«, wandte er sich an den Barkeeper. »Ich suche Jiff Butler. Ich hätte schwören können, gesehen zu haben, dass er hier reinkam.«
»Oh, das erklärt einiges.« Der Barkeeper wirkte zufrieden.
»Was erklärt das?«
»Warum Sie in so einen Laden kommen. Wissen Sie, ich habe ein ziemlich gutes Auge. Ich hab gleich gemerkt, dass sie hetero sind.«
Collier blinzelte. »Wie bitte?«
»Aber wie können Sie das sein, wenn Sie hier reinkommen und nach Jiff suchen?« Lächelnd begann der Barkeeper, Cocktailgläser zu polieren.
»Warten Sie mal, wie meinen Sie das?«
»Das ist eine Schwulenbar, und ich habe Sie nicht für schwul gehalten.«
Abermals blinzelte Collier, diesmal heftiger. »Ich, äh, wusste nicht, dass es eine Schwulenbar ist ...«
Mit einem Schlag wurde die freundliche Miene des Barkeepers angriffslustig. »Was denn? Haben Sie etwa ein Problem mit Homosexuellen?«
Großer Gott ... »Hören Sie, Mann, ich bin aus Kalifornien – mir sind die Vorlieben anderer schnurzegal. Aber ich bin nicht schwul. Ich hatte bloß keine Ahnung ...« Plötzlich ging Collier noch einmal der Name der Bar durch den Kopf, und er kam sich dämlich vor. »Ah. Jetzt verstehe ich.«
Der Barkeeper schaute fragend drein. »Und Sie sind hier, weil Sie Jiff suchen?«
»Ja. Ich wohne in der Pension seiner Mutter und wollte ihn fragen, ob er mir sein Auto leiht, aber ...«
»Er wird gleich rauskommen. Sagen Sie, kennen Sie Emeril?«
Ich gerate wirklich immer an die Richtigen, dachte Collier.
Um ein Haar hätte er sein Heineken umgestoßen, als sich ein Arm um seine Schulter legte. Ein gut aussehender Mann mit Anzug lächelte ihn an. »Sie sagen, Sie brauchen ein Auto, Justin? Wollen Sie sich meinen BMW borgen?«
»Äh, nein ... äh, danke.«
Seine Schulter wurde gedrückt. »Ich liebe Ihre Sendung.« Der Mann zeigte mit einem Finger auf den Barkeeper. »Sein Nächstes geht auf mich.«
»Oh danke, aber ...«
»Die Ken-Puppe, die Sie gerade auf ein Bier eingeladen hat, ist Donny«, teilte ihm der Barkeeper mit. »Donny, lass Mr. Collier in Ruhe. Er ist hetero.«
»Oh ...«
Der Mann verschwand in die Düsternis.
Collier beugte sich vor und flüsterte: »Verraten Sie mir mal etwas. Wenn das eine Schwulenbar ist, warum sieht die Frau dort drüben dann so aus, als wolle sie abgeschleppt werden?«
Der Barkeeper kicherte. »Die Frau heißt Mike. Ich rufe ihn herüber, wenn Sie wollen.«
»Nein, nein, nein, nein, bitte nicht. Nein.« Colliers Herz schlug schneller. »Ich war bloß neugierig.« Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Habe ich Sie richtig verstanden? Sagten Sie, Jiff sei hier?«
»Ja, er ist hinten. Wird nicht lange dauern.«
»Ach, Sie meinen, er arbeitet hier?«
Der Barkeeper grinste, wodurch er eine beachtliche Lücke zwischen den Schneidezähnen entblößte. »In gewisser Weise. Und da Sie’s gerade erwähnen, er schuldet mir noch Geld ... aber das ist eine andere Geschichte, Mr. Collier.«
Das war völlig verrückt. Ich sitze in einer Schwulenbar und trinke Massenmarktbier, dachte Collier. Und noch etwas: Jiff ist offensichtlich schwul – warum sonst sollte er »in gewisser Weise« hier arbeiten? Kein Wunder, dass der junge Mann vergangenen Abend keinerlei Interesse an der Augenweide bei Cusher’s gezeigt hatte. Und Sute ... Könnte er ein ehemaliger Lover von Jiff gewesen sein? Verzweifelt genug dafür hatte Sute gewirkt, nur der Rest ergab keinen Sinn. Jiff ist jung und gut in Form, Sute hingegen alt und fett ... Eigentlich interessierte es Collier nicht – er wollte sich nur Jiffs Auto leihen. Er stand auf und sah auf die Uhr – 13:30 Uhr. Noch reichlich Zeit, um sich auf seine Verabredung am Abend vorzubereiten. »Sagen Sie, wo ist die Toilette?«, erkundigte er sich beim Barkeeper.
»Sie stehen mittendrin!«, rief eine Stimme von einem der hinteren Tische. Gelächter folgte darauf.
»Hören Sie nicht auf diese Tunten, Mr. Collier.« Der Barkeeper zeigte ihm mit der Hand die Richtung. »Den Flur runter, letzte Tür links.«
Collier lächelte unbehaglich, als er die anderen Tische passierte. Männer, die er in den Schatten kaum erkennen konnte, grüßten ihn und lobten seine Sendung. Im Gang wurde es noch dunkler; er musste sich den Weg praktisch ertasten. Hat er letzte Tür links oder rechts gesagt? Nur eine winzige gelbe Glühbirne erhellte notdürftig den gesamten Korridor. Collier sah auf beiden Seiten je eine Tür.
Dann hörte er etwas – beziehungsweise glaubte er, etwas zu hören: »Mach schon, leg los.«
Collier verlangsamte die Schritte. Das klang nach Jiff ... Aber wo mochte er sein? Auf der Toilette?
Mattes Licht schien durch einen etwa zwei Zentimeter breiten Spalt der letzten Tür rechts. Das ist doch nicht die Toilette, oder? Jedenfalls sah Collier kein Schild.
Dann hörte er: »Ja ...«
Eine Männerstimme, aber eindeutig nicht die von Jiff. Collier spähte durch den Spalt hinein.
Zunächst wusste er nicht recht, was er sah, bloß ... zwei Schemen in der Dunkelheit. Nur ein entfernter Lichtkeil erhellte den Raum, der eine Art Salon zu sein schien. Mehrere abgewetzte Sofas standen herum, ein Tisch und einige Sitzsäcke. Die Schemen, die er bemerkt hatte, bewegten sich.
Jiffs Stimme erklang. »Leg ’n Zahn zu, deine dreißig Mäuse laufen ab.«
Colliers Sicht wurde besser – wie bei einer rückwärts laufenden Zeitlupe.
Das kann doch nicht wahr sein!
Es handelte sich tatsächlich um Jiff, und er stand vornüber gebeugt da, wie jemand, der seine Zehen berührt. Außerdem war er nackt. Hinter ihm stand ein anderer Mann, dessen Hintern sich vor- und zurückbewegte.
Dann: »Jaaa ...«
Die Bewegung verlangsamte sich und kam schließlich zum Erliegen, dann trennten sich die beiden Schemen voneinander. Der andere, sichtlich erschöpfte Mann stieß hervor: »Danke, das war toll.«
»Freut mich, wenn’s dir gefallen hat«, erklang Jiffs Stimme aus der Dunkelheit. »Wo sin’ meine dreißig Kröten?«
Collier zog sich zurück und huschte in die gegenüberliegende Toilette. Jetzt habe ich alles gesehen. Er lehnte sich gegen die Wand der Toilette und kniff die Augen gegen das plötzlich grelle Licht zusammen. Jiff ist ein Prostituierter. Er schafft an, und J. G. Sute muss einer seiner Kunden sein. Es schien die uralte Geschichte zu sein, die es gleichermaßen bei Schwulen und Heterosexuellen gab – der fette alte Mann verliebt sich in den heißen jungen Stricher ... und wird zurückgewiesen. Das muss der Grund sein, weshalb Sute beim Essen fast in Tränen ausgebrochen war.
Die Toilette erinnerte an die einer Tankstelle. Collier erleichterte sich, wusch sich die Hände und dachte: Wahrscheinlich zahlt Jiffs Mutter ihm in der Pension nicht genug. Er war nicht so schockiert, wie er erwartet hatte, doch plötzlich bestürmte ihn ein ekelerregendes Bild – die Szene, die er gerade in dem kleinen Salon mit angesehen hatte, nur mit J. G. Sute als Jiffs Kunde ...
Er kehrte durch den düsteren Gang zurück zur Bar.
»Sie haben doch nichts dagegen, oder, Mr. Collier?«, fragte der Barkeeper, der ihn am Ende des Gangs überraschte.
»Was ...«
Der Barkeeper legte ihm einen Arm um die Schultern, dann ...
»Cheese!«
Blitz!
Jemand hatte ein Foto von ihnen geschossen. Durch den grellen Blitz war Collier einen Moment lang geblendet.
»Danke, Mr. Collier«, hörte er den Barkeeper sagen. Eine Hand an seinem Arm führte ihn zurück zu seinem Hocker.
»Das wird sich gerahmt hinter der Bar prima machen. Unser erster Promi!«
Collier konnte immer noch kaum sehen. Ich sollte besser verschwinden und für heute Abend nüchtern werden. Er griff nach seiner Brieftasche.
»Oh, Sie können noch nicht gehen, Mr. Collier. Frank und Bubba haben auch je ein Bier für Sie bezahlt.«
»Nein, wirklich, ich muss ...«
»Ach, seien Sie nicht so. Schließlich haben wir nicht jeden Tag jemanden aus dem Fernsehen hier.«
Na ja, eines mehr wird mich schon nicht umbringen, dachte Collier, doch er spürte noch die Nachwehen der Erkenntnis, was Jiffs »Handwerkerarbeiten« in Wirklichkeit waren.
Die nächste Stunde scherzte er mit dem Barkeeper und den anderen Gästen und gab einige Anekdoten aus der Fernsehbranche zum Besten. Die Biere wurden rasch konsumiert, und nur Gott wusste, wie viele Autogramme er gab. »Ach ja, richtig«, fiel dem Barkeeper schließlich ein. »Sie wollten doch zu Jiff. Mike, geh doch mal nach hinten und sieh nach, was er treibt.«
Der attraktive Transvestit erhob sich vom Tisch und ging den Flur hinab. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf. »Er ist nicht da, Buster«, verkündete Mike mit seidenweicher Stimme und rückte unter einer engen Bluse den Büstenhalter zurecht.
Der Dialog schien wegen Collier entschärft abzulaufen, dennoch bekam er trotz des Alkoholschleiers in seinem Kopf mit, worum es ging. »Eigentlich sollte er mir jedes Mal einen Zehner zustecken.« – »Wahrscheinlich ist er hinten rausgegangen.« – »Was sagt man dazu!«
Die weiteren Biere waren genau das, was Collier nicht brauchte. Er fühlte sich benommen. »Problem?«, fragte er, als der Barkeeper zurückkam.
»Ne, nichts Schlimmes, Mr. Collier. Aber ich fürchte, Jiff ist weg; er muss hinten raus sein. Falls er später noch mal kommt, sagte ich ihm, dass Sie nach ihm gesucht haben.«
»Ich bin sicher, ich treffe ihn in der Pension ...«
Eine Pabst-Uhr an der Wand teilte ihm mit, dass es mittlerweile 14:30 Uhr war. Weniger als fünf Stunden bis zu meiner Verabredung mit Dominique ... Die Tatsache drängte sich vor die skurrilen Umstände der Situation. Collier fasste den Entschluss, bald aufzubrechen. Er brauchte etwas Zeit, um seinen Rausch auszuschlafen. Der Höflichkeit halber trank er ein weiteres Bier, doch danach schwirrte ihm der Kopf. Er legte einen Zwanziger als Trinkgeld hin, brauchte weitere fünfzehn Minuten, um sich von allen zu verabschieden, und stolperte schließlich hinaus ins Tageslicht.
Heilige Scheiße, ich bin sturzbesoffen ...
Als er die Number 3 Street hinabschaute, erblickte er eine Touristentraube, die sich auf ihn zubewegte. Meinen Zustand kann ich unmöglich überspielen, dachte er. Und bei meinem Glück wollen die alle Autogramme. Im Moment bin ich dermaßen blau, dass ich nicht sicher bin, ob ich überhaupt meinen Namen schreiben kann ... Er vollführte auf dem Gehweg einen Schwenk um fünfundvierzig Grad – Da geht’s lang! – und lief direkt in den Wald.
Ich gehe durch den Wald um den Hügel rum. So sieht mich niemand, und das ist gut, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass ich ein paarmal auf die Schnauze fallen werde.
Zwischen den Bäumen stieß er praktischerweise auf einen Trampelpfad und ...
Plautz!!
... landete auf dem Gesicht.
Ich als die Witzfigur des Dorfes, dachte er. Abgehalfterter, dem Alkohol verfallener ehemaliger Fernsehstar und ausgebranntes, nutzloses Opfer der Tretmühle von Los Angeles. Besäuft sich am helllichten Nachmittag ... Collier hoffte, dass es kein Leben nach dem Tod gab. Er wollte sich nicht vorstellen müssen, dass ihn seine lieben verstorbenen Eltern so sehen und sich kläglich fragen könnten: »Was haben wir bloß falsch gemacht?«
Mühsam rappelte er sich auf und taumelte etwa hundert Meter weit von einem Baum zum nächsten. Er konnte nur erahnen, wo sich die Pension befand. Irgendwo da drüben, dachte er und spähte betrunken nach links. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf die doppelten Zifferblätter seiner Uhr und stellte fest, dass ihm noch rund vier Stunden bis zu seiner Verabredung blieben ...
Ich schaff’s nicht. Muss mich ein Weilchen hinsetzen. Sein Hintern plumpste auf den Boden, und er vermeinte zu hören, wie die Hose riss. Aber er vernahm noch etwas, ein stetes, ununterbrochenes Geräusch ...
Fließendes Wasser?
Er hob den Kopf und glaubte, einen durch den Wald gurgelnden Bach zu erkennen. Da sollte ich den Kopf reinstecken, überlegte er, aber nun, da er bereits saß, wollte er nicht mehr aufstehen.
Immer wieder nickte er kurz ein. Das gleichmäßige Geräusch des Baches erinnerte ihn an diese Einschlafhilfen, die angeblich beruhigende Laute erzeugten, letztlich jedoch nur bewirkten, dass man erst recht wach blieb. Abermals döste er ein, diesmal tiefer. Er fühlte sich, als würde er in Sand versinken.
Traumfragmente suchten ihn heim: die klingenden Geräusche von Eisenbahnarbeitern und Männer, die wie Galeerensklaven sangen. Er träumte von Penelope Gast, die sich in einem protzigen Salon Luft zufächelte, während sie von Hausmädchen bedient wurde, und er träumte von Uringestank.
Ein prächtiger Horizont, auf den eine Dampflokomotive zufährt, aufsteigender Rauch, das Schrillen einer Pfeife, deren Laut in der Ferne entschwindet ...
»Ich will’s auch machen«, sagte die quengelnde Stimme eines jungen Mädchens.
»Sei nicht albern!«, gab ein anderes Mädchen zurück, das sich älter anhörte.
Der Bach plätscherte weiter vor sich hin, aber darunter hatte sich ein leiseres Geräusch gemischt.
... kratz-kratz-kratz ...
»Dann lass es mich bei dir machen.«
»Du bist zu klein, Dummkopf! Du würdest mich schneiden.«
»Nein, würde ich nicht!«
Ein leichtes Erschrecken ließ Collier mühsam die Augen öffnen. Die Stimmen entsprangen keinem Traum. Er reckte den Hals und starrte auf zwei Mädchen, die irgendetwas in der Nähe des Baches taten. Eine schmutzig-blonde etwa Dreizehn- oder Vierzehnjährige und eine ungefähr Zehnjährige mit zerzauster, helmartiger Frisur wie aus den 1920er-Jahren, die Haare braun wie dunkle Schokolade. Beide waren barfuß und trugen weiße, kittelähnliche Kleider.
Scheiße! Zwei Kinder, und sie haben mich noch nicht bemerkt, dachte Collier. Wahrscheinlich würde er ihnen Angst einjagen, wenn er sich zu erkennen gäbe. Die Jüngere stieg ins Wasser und blickte auf die andere hinab, die mit dem Rücken zu Collier auf dem Boden saß und sich nach vorne beugte.
... kratz-kratz-kratz ...
Was um alles in der Welt macht sie da? Dann schrie Collier beinahe auf, als ihm ein lebhafter, schlammfarbiger Hund auf den Schoß sprang und begann, ihm das Gesicht abzulecken. »Herrgott noch mal!«
Beide Mädchen schauten herüber, und die Jüngere sagte: »Sieh nur, da ist ein Mann.« Sie hatte einen ausgeprägten Südstaatenakzent.
Die Aussprache der Blonden klang etwas gedehnter. »He, Mister. Das ist bloß unser Hund. Keine Sorge, er beißt nicht.«
»Er ist ein braver Hund!«
Collier drückte sich das Tier vom Leib. Er war nicht sicher, aber irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, der Hund hätte in seinem Überschwang versucht, sein Bein zu rammeln.
»Lass den Mann in Ruhe!«, rief eines der Mädchen.
Der Hund löste sich von ihm und rannte auf der Lichtung aufgeregt im Kreis. Plötzlich erkannte Collier: Ich glaube ... das ist der Hund, den ich in meinem Zimmer gesehen habe.
»Was machen Sie hier, Mister?«, wollte die Dunkelhaarige wissen. Sie hatte Schmutzflecken auf dem Kleid, und etwas an der Art, wie sie dastand und zu ihm herüberschaute, vermittelte den Eindruck von Hyperaktivität.
»Ich, äh ... oh, ich habe nur ein Nickerchen gemacht.«
»Zu viel Whiskey, was, Mister?«, vermutete die Ältere. Sie ließ ihm den Rücken zugewandt und beugte sich immer noch nach vorn, als starre sie in den Bach.
»Ein Trunkenbold!«, kreischte das jüngere Mädchen beinahe. »Ein Säufer, wie Mutter immer sagt. Sie meint, davon gibt es jede Menge.«
Colliers Kopf pochte. »Nein, nein, ich wohne in der Pension.« Dann log er: »So ist es gar nicht. Ich wollte nur ein Nickerchen im Wald machen, weil es hier draußen so schön ist.«
»Säufer! Säufer!« Das kleine Mädchen tanzte im Wasser, und der Hund gesellte sich zu ihr.
Frühreifes kleines Miststück, dachte Collier.
»Halt die Klappe, Cricket. Sei nicht respektlos ...«
... kratz-kratz-kratz ...
Collier beschlich das Gefühl, etwas beweisen zu müssen. Vorsichtig stand er auf und stellte fest, dass er seinen Rausch zumindest teilweise ausgeschlafen hatte. Wenngleich nicht ganz. Langsam. Er ging zu den Mädchen hinüber. »Was treibt ihr hier? Ich höre andauernd so ein Geräusch ...«
Die Blonde schaute auf und lächelte mit einem teigigen Gesicht, das irgendwie zu hängen schien. Ihre Augen wirkten trotz des breiten, stolzen Lächelns stumpf. »Ich rasiere mir die Beine, weil ich jetzt eine junge Dame bin und ich damenhafte Dinge tun muss.«
»Das sagt unsere Mutter«, erklärte die Jüngere in bedauerndem Tonfall. »Ich kann’s kaum erwarten, selbst eine junge Dame zu werden, damit ich mir auch die Beine rasieren kann.«
Collier zuckte bei dem Anblick beinahe zusammen. Neben der Blondine lag eine Schale mit Rasierschaum, und sie rasierte sich tatsächlich im Bach mit einem altmodischen Rasiermesser die Beine.
... kratz-kratz-kratz ...
Anschließend wusch sie den Schaum mit Wasser aus dem Bach ab.
»Also ehrlich, du solltest vorsichtig sein«, warnte Collier. »Das solltest du lieber zu Hause machen. Wenn du dich schneidest, kannst du dir mit dem Wasser alle möglichen Keime einfangen.«
Die beiden Mädchen wechselten einen verwirrten Blick. Dann spritzte die Blonde weiteres Wasser auf ihre glänzenden Beine und streckte sie empor. Sie wackelte in der Luft mit den Zehen und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. »So«, meinte sie gedehnt. »Ganz glatt, wie bei einer richtigen Dame.« Die Züge des teigigen Gesichts hellten sich auf. »Ich heiße Mary, und das ist meine Schwester Cricket. Ich bin vierzehn, sie ist elf.«
»Hallo«, sagte Collier und schmeckte einen Anflug von schalem Bier.
Das jüngere Mädchen sprang aus dem Wasser und zeigte mit einem Finger auf ihn. »Wie heißen Sie, Mister?«
»Justin.«
Ein breites Grinsen verwandelte Crickets Gesicht in eine zerfurchte Maske. »Sie sind doch nicht einer von denen, die sich an kleine Mädchen ranmachen, oder? Jedenfalls schauen Sie nicht so aus.«
Weg hier!, dachte Collier. Diese Kinder heutzutage ... sie sehen diesen ganzen Missbrauchskram bei Oprah. »Nein, nein, aber ich muss jetzt los. Habt noch einen schönen Tag, Mädels.«
»Ach, Cricket. Wieso hast du das gesagt? Jetzt hast du ihm Angst gemacht. Gehen Sie nicht, Mister, sie zieht Sie nur auf.«
»Nein, ich muss wirklich los ...« Erneut zuckte er zusammen. »Bitte, Mary, sei vorsichtig mit dem Rasiermesser ...«
Mittlerweile arbeitete sie an den Achselhaaren.
... kratz-kratz-kratz ...
Sie schabte den Schaum aus einer Achselhöhle und schnippte ihn ins Wasser. Collier bemerkte eine hauchdünne rote Linie.
»Siehst du, jetzt hast du dich geschnitten ...«
»Pah, das ist bloß ein Kratzer. Aber mit dieser Hand geht es so schwer.« Sie hob den Zeigefinger an.
Auf den ersten Blick glaubte Collier, sie trüge einen dicken, dunklen Ring, dann jedoch erkannte er, dass es sich um einen Bluterguss handelte.
»Ich hab auch einen, aber nicht so schlimm.« Cricket zeigte ihm ihren Finger. »Ich hab eine Zuckerstange aus dem Laden stibitzt und wurde erwischt.« Ein irres Kichern. »Aber das war nicht so schlimm wie das, wobei man Mary erwischt hat ...«
»Halt die Klappe!«
Wieder die breit grinsende Maske. »Sie hat fünf Minuten gekriegt, weil sie in der Schule ’nen Jungen geküsst hat!«
Mary schlug ihrer Schwester mit der flachen Hand heftig auf den Oberschenkel. Das klatschende Geräusch peitschte durch den Wald.
»Aua!«
»Geschieht dir recht. Mister, hören Sie nicht auf sie.«
Collier ging zu viel gleichzeitig durch den Kopf. Wer waren diese Mädchen? Wohnten sie auch in der Pension? Collier bezweifelte es. Wahrscheinlich eher in einer Wohnwagensiedlung in der Nähe. Dann dachte er: Diese Blutergüsse ... Ihm fiel Mrs. Butlers schmerzliche Vorführung der »Klammern für unartige Mädchen« aus der Vitrine ein ...
... kratz-kratz-kratz ...
»Bitte, das solltest du wirklich nicht tun ...«
Mittlerweile rasierte die Blonde die andere Achselhöhle.
»Mach dann meine, mach dann meine!«, beharrte Cricket.
»Da gibt’s nichts zu rasieren«, gab Mary gereizt zurück. »Du hast da noch keine Haare.« Dann richtete sie ein schadenfrohes Lächeln auf Collier. »Sie ist neidisch, Mister, weil ich schon Haare habe und sie noch keine. Und das Blut hab ich auch schon.«
Colliers Kehle fühlte sich zugeschnürt an. »Das ... Blut?«
»Evas Fluch, von dem uns unsere Mutter erzählt hat. Eva hat im Garten Eden irgendetwas Schlimmes angestellt, und seither bekommen alle Mädchen den Fluch. Aber durch den Fluch kriegen wir auch Haare. Stimmtֹ’s, Mister?«
Collier stand sprachlos da. Er räusperte sich und fragte: »Seid ihr, äh, aus der Stadt?«
»Oh ja. Wir sind hier geboren.«
»Wo sind eure Eltern?«
Cricket wackelte im Schlamm des Baches mit den Zehen. »Unser Vater ist unterwegs bei der Arbeit, und unsere Mutter ist daheim. Woher sind Sie denn, Mister?«
»Aus Kalifornien ...«
Die beiden Mädchen wechselten erneut einen Blick, der diesmal erstaunt wirkte.
»Ich bin nur zu Besuch hier. Ich wohne in Mrs. Butlers Pension.«
Mary wusch sich die andere Achselhöhle ab. Da kam Collier der Gedanke, dass sie für Schwestern kaum unterschiedlicher hätten aussehen können.
»Mrs. Butler kennen wir nicht.«
Sie müssen aus einer Ortschaft in der Nähe hierherspaziert sein. Aber ... war es wirklich dieser Hund gewesen, den er in der vergangenen Nacht gesehen hatte? Nein. Das war bloß ein Traum. Nur eine Halluzination ...
Andererseits schien die Vermutung, dass sich dieser Hund eingeschlichen haben könnte, auch nicht zu weit hergeholt zu sein. Mrs. Butler hatte sogar eine solche Möglichkeit angedeutet.
»Stimmt«, bestätigte Mary. »Beim Fassbinder arbeitet zwar ein Mann namens Butler, aber der hat keine Frau.«
Cricket meldete sich flötend zu Wort. »Einmal war er sturzbetrunken und hat uns einen halben Dollar angeboten, wenn wir ihm unsere ...«
»Cricket! Sei still!«
Colliers Gedanken streckten sich wie ein zäher Kaugummi.
»He!«, stieß Cricket hervor. »Was machst du denn da?«
Der Hund tollte im Wasser umher und jagte die im Bach treibenden Rasierschaumklumpen. Er schien sie fressen zu wollen.
»Er ist ein dummer Hund«, meinte Mary.
»Manchmal wirklich dumm ...«
Dann jaulte der Hund auf, preschte in den Wald und rannte im Kreis. Einmal hielt er abrupt inne, um einen Haufen zu setzen. Dabei schien er Collier direkt anzusehen.
»Er kackt!«
»Ich muss gehen ... lebt wohl«, sagte Collier rasch und setzte sich in Bewegung.
»Gehen Sie nicht!«, rief Cricket ihm hinterher. »Wollen Sie nicht zusehen, wie sich Mary ihre ...«
Colliers Schritte wurden länger.
Im Laufen hörte er wieder das Geräusch.
... kratz-kratz-kratz ...
Trotz seiner Benommenheit – halb betrunken, halb verkatert – ging er in gerader Linie. Als er einen Hang erreichte, der ihn, wie er inständig hoffte, zurück zur Pension führen würde, wurde er langsamer. Kinder von weißem Gesindel, vermutete er. Arme, nachlässige Eltern, keine anständigen Vorbilder. So etwas kam überall vor. Dann dachte er: Oder vielleicht ...
Vielleicht hatte er eine weitere Halluzination.
Die Fingerklammern? Der Hund? Ein junges Mädchen, das sich die Beine in einem Bach rasiert?
Leise vernahm er ein Kichern, obwohl er mittlerweile um die hundert Meter weit entfernt sein musste.
Ein perverser Kobold in seiner Psyche zwang ihn, sich gegen seinen Willen umzudrehen.
Und zurück hinunter in den Wald zu schauen.
Die Mädchen befanden sich immer noch am Bach. »Böser Hund!«, rief Cricket genießerisch unter einer Flut von weiterem Kichern, das nur von Mary stammen konnte.
Collier drehte sich angesichts dessen, was er sah – oder zu sehen glaubte –, der Magen um. So schnell ihn die Beine trugen, rannte er in Richtung der Pension los.