Kapitel 1
I
»Du haust also einfach ab?«, meckerte die Stimme. »Das ist so typisch für dich, Justin. Wenn es ein Problem gibt, steigst du in ein Flugzeug und verschwindest.«
Collier fühlte sich in dem Leihwagen beengt und ärgerte sich darüber, dass ihn der nervende Anruf von der Umgebung ablenkte. »Evelyn, Schätzchen, ich würde eine Scheidung nicht als Problem bezeichnen. Das ist lediglich ein Ereignis. Das Problem ist eher, dass du und ich je dachten, wir würden als Ehepartner zueinanderpassen ... aber das ist ja nun hinfällig.«
Das kleine Mobiltelefon schien zu vibrieren, als sie protestierte. »Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Pass auf, Evelyn, ich muss dieses Buch zu Ende bringen. Der Abgabetermin ist nächste Woche. Wenn ich den nicht einhalte, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass mein Verleger den Vertrag kündigt, und dann müsste ich die fünfzigtausend Dollar Vorschuss zurückzahlen. Und jetzt setz mal die Denkermütze auf und überleg, was das für Auswirkungen hätte, zumal du bei der Scheidungsvereinbarung wahrscheinlich die Hälfte dieses Vorschusses bekommen würdest.«
Stille. Dann: »Oh.«
»Genau, Liebste. Oh. Zusammen mit der Hälfte – ich wiederhole: der HÄLFTE – von allem anderen, was ich je verdient habe.«
Neuerlicher Protest. »He, ich arbeite auch!«
»Schätzchen, mit Partyservices in Los Angeles verhält es sich so wie mit alten Leuten in Florida – es gibt zu viele.«
Collier wusste, dass er ihr gescheitertes Geschäftsunterfangen nicht hätte erwähnen sollen. Noch bevor sie es aussprach, wusste er, was sie sagen würde.
»Ich bin froh, dass deine bescheuerte Sendung aus dem Programm fliegt, du aufgeblasenes Arschloch!«
Ach, das schöne Leben, dachte Collier. Wahre Liebe und häusliches Glück. »Evelyn, lass uns nicht streiten. Ich bin in einer Woche zurück, um die Papiere zu unterzeichnen, in Ordnung? Ich weiche dem Thema nicht aus, falls es das ist, was du denkst. Aber ich muss das jetzt machen.«
»Wofür musst du nach Tennessee? Du schreibst Bücher über Bier.«
»Ich brauche nur noch einen Eintrag, bevor das Buch fertig ist, und ich glaube, ich habe hier gefunden, wonach ich suche. Es muss etwas Einzigartiges sein. Ich kann nicht einfach irgendein Bier einer Kleinbrauerei mit aufnehmen.«
»Na ja ... gut.« Ihr Zorn verrauchte.
»Ich muss jetzt auflegen. Ich bin schon vor vier Stunden vom Flughafen weg und hab immer noch keine Ahnung, wo ich hinmuss. Weißt du was, ich rufe dich Mitte der Woche an, um zu sehen, wie es dir geht, ja?«
»Okay. Bis dann.«
Klick.
Collier fühlte sich, als wäre soeben ein großes Tier von seinem Rücken geklettert. Er schlug sich den Ellbogen an, als er das Telefon wegsteckte.
Warum hab ich bloß je geheiratet? Alle meine verheirateten Freunde haben mir davon abgeraten. Wenn Verheiratete einen davor warnen, jemals zu heiraten, ist das so, als käme der Koch aus der Küche, um zu gestehen, dass sein Essen mies ist. Ein ziemlich kompetenter Rat. Natürlich war Evelyn eine wunderschöne Frau, allerdings fanden das anscheinend auch einige andere Männer in Los Angeles. So ist das in der modernen Welt – man hat tollen Sex, dann heiratet man und schließlich lässt man sich scheiden. Und der Mann darf der Frau die Hälfte von allem abgeben.
Das war toller Sex einfach nicht wert. Und tatsächlich hatte er inzwischen vergessen, was toller Sex war.
Herrlich grüne Weiden und Ackerland zogen zu beiden Seiten vorbei. Collier genoss die Aussicht, besonders nach diesen vier Jahren in Los Angeles. L. A. war keine Stadt, sondern ein Stadtstaat. Hollywood! Spago! Venice Beach! Rodeo Drive! Können sie alles behalten, dachte er. Hatte Los Angeles seinen Reiz verloren oder lag es an etwas anderem? Collier fiel auf, dass ihn materielle Dinge umso weniger interessierten, je älter er wurde. Seine Sendung bei Food Network TV, Justin Collier: Fürst der Biere, hatte ihm während der ersten drei Staffeln eine enorme Stange Geld eingebracht, nun jedoch hatte man vor, seine Sendezeit einem angesagten Koch aus San Francisco zu geben. Verrückt nach Meeresfrüchten sollte das neue Projekt heißen. Auch gut. Mittlerweile hasste Collier sowohl Los Angeles als auch seine Sendung – obwohl sie aus ihm einen Halbprominenten gemacht hatte, laugte sie ihn aus. Mit vierundvierzig war ein Großteil seines Haars mittlerweile grau, und er fühlte sich wie ein Idiot, wenn er es sich von einer Visagistin im Studio färben ließ. Seine Bücher über nicht industriell gebraute Biere verkauften sich immer noch gut genug, um ihm einen soliden Lebensstil zu sichern, und er sehnte sich danach, dazu zurückzukehren.
Vielleicht werde ich einfach alt, überlegte er. Aber vierundvierzig war doch nicht alt, oder?
Verdammt ...
Das Einzige, was Hertz am Flughafen zur Verfügung gehabt hatte, war dieser peinliche VW Beetle. Der sieht doch aus wie ein Spielzeugauto, war der erste Vergleich, der ihm durch den Kopf ging, als ihm der Mitarbeiter die Schlüssel gab. Noch schlimmer war die Farbe: Limonengrün. Ja, ich kann schon vor mir sehen, wie ich mit dem Ding auf der 405 fahre. Erschwerend kam hinzu, dass der Innenraum beengt war, aber immerhin konnte er den Lookout Mountain sehen, Schauplatz einer berühmten Schlacht im Bürgerkrieg, die dem Pomp der Konföderierten endgültig den Rest gegeben hatte. Der Anblick beruhigte ihn – nicht, weil der Berg für ein Kriegsgemetzel stand, sondern weil er die Bestätigung dafür war, dass sich Collier weit von Los Angeles entfernt befand.
Weitere Meilen blieben hinter ihm zurück. Als er bei Map-Quest eine Suchabfrage nach Gast, Tennessee durchgeführt hatte, bekam er immer wieder die Meldung: SEITE ABGELAUFEN. Er hatte den Ort schließlich auf einer 7-Eleven-Karte aufgespürt, aber das Geflecht von Nebenstraßen hatte sich in ein verwirrendes Labyrinth verwandelt. Wie schwierig konnte es sein, eine Ortschaft mit einem derart ungewöhnlichen Namen zu finden? Er brauchte eine weitere Stunde, bis er auf ein Schild stieß: Gast, Tennessee – Ortsgrenze. Historische Bürgerkriegsstätte.
Endlich!
Die Ortschaft präsentierte sich als strahlend wiedergeborener Anachronismus: Gepflegte Schindelgebäude säumten eine mit Kopfsteinen gepflasterte Hauptstraße namens Number 1 Street. Gewöhnlich wirkende Vertreter der Mittelschicht schlenderten auf makellosen Gehwegen, vorbei an den zu erwartenden Antiquitätenläden, Bistros und Geschäften für Sammler. Minié-geschosse!, verkündete ein Schild. Schlachtfeldkarten!
An der Kreuzung gingen zwei ältere Frauen an ihm vorbei und lächelten. Collier lächelte zurück – »Guten Tag, die Damen!« Dann jedoch beschlich ihn der Eindruck, dass sie kicherten. Wegen diesem Schandfleck auf Rädern!, begriff er. Das kuriose Auto sprang in dieser Ortschaft ins Auge wie ein bunter Hund. Mach schon, werd grün, drängte er in Gedanken die Ampel. Mittlerweile blieben weitere Fußgänger stehen, um den Wagen mit einem verstohlenen Lächeln im Gesicht zu betrachten. Was für ein Auftritt ... Wahllos bog er ab, um möglichst rasch vor den Umstehenden zu flüchten, aber gleich darauf erblickte er ein Schild samt Richtungspfeil: Gästehaus.
Collier querte ähnlich benannte Straßen – Number 2 Street, Number 3 Street und so weiter –, merkte sich jedoch jene, auf der er sich befand: Penelope Street. Er spähte voraus. Die Straße wand sich einen üppig grünen Hügel empor, auf dessen Kuppe ein prachtvolles Haus aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg stand. Konnte das ein Hotel sein?
Was für ein Bauwerk. Collier verstand nicht viel von Architektur, aber als er über den Vorhof rollte, war er unwillkürlich beeindruckt. Eine aufwendige, zweigeschossige Veranda, gestützt von dorischen, mit kunstvollen Riffelungen verzierten Säulen, bildete die Fassade des Haupthauses. Das mittlere Gebäude war achteckig und besaß Mauern aus handgefertigten roten Ziegeln. Es wurde von vier weiteren, eingeschossigen Trakten seitlich flankiert, alle mit weißen Schindeln und einem tiefen, umlaufenden Vorbau. Davor blies ein Junge aus Granit in Konföderiertenkluft Wasser aus einer Flöte in ein aus Mörtel und Stein errichtetes Becken, neben dem eine knorrige Eiche wuchs, größer als jede, an die sich Collier erinnern konnte. Er parkte und stieg aus. Der Schatten des mittleren Gebäudes verschaffte ihm Kühlung.
Prächtige, fünfzehn Meter hohe Weiden schmückten die Vorderseite des Anwesens, während einige noch ältere Eichen das restliche Grundstück zu säumen schienen.
Collier näherte sich dem Haus. Efeuranken wucherten die verwitterten Ziegelmauern des achteckigen Bauwerks empor. Er bemerkte mehrere Autos auf einem Nebenparkplatz und hoffte, dass sie Gästen gehörten, nicht nur dem Personal – trotz des altertümlichen Prunks des Anwesens wollte er nicht der Einzige sein, der hier übernachtete. Wenngleich er nicht sicher sein konnte, glaubte er, ein Gesicht gesehen zu haben, das durch ein schmales Fenster des nächstgelegenen Trakts zu ihm herausgeschaut hatte. Das Gesicht hatte neugierig gewirkt, aber vielleicht war es auch nur durch das alte Glas verzerrt gewesen.
Willkommen im Branch Landing Inn stand auf dem hohen Steingesims zu lesen. In einen Ziegel neben der Tür war in grober Schrift Haupthaus, 1850 eingraviert.
Weiße Granitblöcke umrahmten eine massive Eingangstür. Da es sich offensichtlich um einen Beherbergungsbetrieb handelte, empfand er es als unnötig zu klopfen, obwohl es einen merkwürdigen Türklopfer gab: ein Messinggesicht mit großen, leeren Augen, jedoch ohne Nase oder Mund. Aus unerfindlichem Grund löste der Klopfer ein sonderbares Gefühl in ihm aus – und als er nach dem Messingknauf griff, stellte er fest, dass auch auf diesem das konturlose Gesicht zu sehen war.
Dann hätte Collier beinahe aufgeschrien ...
Eine unsichtbare Hand legte sich auf sein Kreuz, während eine andere die Tür für ihn öffnete.
»Großer Gott!«
Eine kleine Frau Anfang dreißig hatte sich ihm lautlos von hinten genähert. Nach dem Schrecken, den sie ihm eingejagt hatte, musterte Collier sie: klein, zierlich, wohlgeformt. Sie lief barfuß und trug einen schlichten Jeanskittel. Das kann kein Gast sein, ging ihm durch den Kopf, bevor er das Namensschild bemerkte: Hallo! Mein Name ist Lottie.
Collier hob eine Hand an die Brust. »Mann, Sie haben mich ganz schön erschreckt. Ich habe Sie nicht gesehen.«
Sie lächelte und hielt weiter die Tür für ihn auf.
»Arbeiten Sie hier?«
Sie nickte.
Da sich sein Schrecken mittlerweile gelegt hatte, fiel ihm nun auf, dass zwar ihre Figur außergewöhnlich, ihr Gesicht jedoch nicht besonders hübsch war. Ihre Augen wirkten stumpf, ja sogar schief. Sie lächelte erneut. Ein Schopf ungekämmter, schlammbrauner Haare war auf Nackenhöhe gestutzt worden.
Der Moment hatte etwas Verwirrendes. Sie stand nur da und hielt wortlos die Tür auf.
»Danke.«
Collier betrat einen kleinen, aber überladenen Vorraum mit weiteren Türen aus verwinkeltem Spiegelglas. Der dicke, ovale Vorleger unter seinen Füßen schien handgewebt zu sein.
»Also, Lottie, habt ihr Zimmer frei?«
Wieder nickte sie.
Nicht gerade eine Plaudertasche.
Ein fröhliches Glockenspiel bimmelte, als sich die nächste Tür vollständig öffnete. Sie betraten einen weitläufigen Eingangssalon, dessen neun Meter hohe Decke Colliers Blick nach oben wandern ließ. Riesige Ölgemälde hingen weit oben hinter dem Empfangsschalter, noch höher darüber befand sich ein langer Treppenflur. Den Hartholzboden bedeckten weitere gemusterte Läufer, wesentlich kunstvoller als jener im Vorraum. Über den offenen Bereich verteilt standen antike Tische, umgeben von Stühlen mit hohen Rückenlehnen. Bücherregale und Vitrinen mit Glasfassaden säumten die Wände.
Beeindruckend, dachte Collier.
Halbrunde Treppenhäuser führten zu beiden Seiten des langen Mahagonischalters nach oben, und hinter dem Schalter wies eine Wand mit gebeizten Eichenpilastern handgeschnitzte Blumenmuster auf.
»Das ist wirklich ein wunderschönes Haus«, meinte Collier zu der jungen Frau.
Sie nickte.
Zum Empfangsschalter waren es sechs Meter. Dahinter schaute das Gesicht einer alten Frau auf, ein Lächeln im verrunzelten Gesicht. Vermutlich war sie Mitte sechzig. Gewitterwolkengraue, sehr kurz geschnittene Dauerwellen kräuselten sich um ihren Kopf – eine Frisur, die nur Frauen kurz vor dem Pflegeheimalter für attraktiv hielten. Selbst aus der Ferne konnte Collier die tiefen Gesichtsfalten und die Tränensäcke unter den Augen erkennen. Die schlaffen Wangen und der breite Kiefer gaben den Gesichtszügen beinahe etwas Männliches. Hätte Jack Palance eine Zwillingsschwester ... stünde ich ihr gerade gegenüber, ging es Collier spontan durch den Kopf.
»Das ist doch kaum zu glauben!«, ertönte ihre kräftige, näselnde Stimme. »Muss wohl Prominentenmonat sein!«
»Wie bitte?«
»Ich schwöre, ich habe Sie im Fernsehen gesehen!«
Collier hasste es, »erkannt« zu werden.
Die betagten Augen funkelten zwischen verquollenen Lidern. »Erst vor wenigen Wochen hatten wir einen Spieler der New York Yankees hier, und jetzt beehrt uns der Fürst der Biere!«
»Hallo«, sagte Collier und fühlte sich bereits deprimiert. Nun musste er den Schein wahren. »Justin Collier«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus.
»Ich bin Helen Butler. Willkommen im Branch Landing Inn. Das kleine Ding neben Ihnen ist meine Tochter Lottie. Ich führe den Betrieb, sie sorgt für Ordnung.«
Collier nickte Lottie zu, die begeistert zurücknickte.
»Lottie redet nicht«, erklärte Mrs. Butler. »Konnte sie aus irgendeinem Grund noch nie. Sie hat es versucht, als sie ein Kleinkind war, hat es aber nie hinbekommen, bis sie es irgendwann ganz aufgab.«
Lottie breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern.
Mrs. Butler plapperte weiter. »Also, erst gestern Abend habe ich Sie im Fernsehen gesehen.«
»Ah, also sind Sie eine Bierkennerin, Mrs. Butler?«
»Eigentlich nicht – ich will Sie nicht belügen. Ich sehe mir immer die Sendung an, die nach Ihrer kommt, Savannah Sammys pfiffige Räucherkammer.« Verträumt fügte sie hinzu: »Ich liebe diesen Savannah Sammy.
Diesen Arsch! Colliers Stolz rebellierte. Die Äußerung fühlte sich wie eine Herausforderung an. Zum einen stammt er gar nicht aus Savannah, sondern aus dem verfluchten Jersey, zum anderen schreibt er seine Sendungen nicht mal selbst! Collier fühlte sich verletzt, aber was sollte er sagen? »Ja, Ma’am, Sammy ist ein toller Kerl.«
»Aber verstehen Sie mich nicht falsch, Ihre Sendung ist auch klasse. Mein Sohn sieht sie sich immer an und schwärmt davon.« Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Sagen Sie ... kennen Sie Emeril?«
»Oh, sicher. Auch ein toller Kerl.« Tatsächlich war Collier dem Mann nie begegnet.
»Oh bitte, Mr. Collier«, sprudelte sie als Nächstes hervor. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie ein Weilchen bei uns bleiben.«
»Ja, ich möchte zumindest ein paar Tage bleiben.«
»Das ist wunderbar! Und zufällig ist gerade das Zimmer mit der besten Aussicht frei.«
Collier wollte ihr gerade danken, verfiel allerdings jäh in Sprachlosigkeit, als die alte Dame aufstand und zum Schlüsselschrank eilte.
Das glaub ich einfach nicht ...
Mrs. Butler trug eine schlichte orchideenfarbene Bluse mit Knopfleiste und einen dazu passenden, knielangen Rock. Doch es war nicht die Aufmachung, die Collier die Sprache verschlug, sondern die Figur.
Was für ein rattenscharfer Körper, schoss ihm unwillkürlich durch den Kopf.
Die schlichte Kleidung verhüllte einen Körperbau, der dem sprichwörtlichen Aussehen einer Sanduhr glich. Breite Hüften, aber schmale Taille; kräftige, definierte Beine wie die einer Schwimmerin; ein üppiger, aber straffer Busen – und Collier konnte keine Umrisse eines Büstenhalters erkennen. Diese Braut hat den falschen Kopf auf den Schultern, dachte er.
Der Busen wippte bei jedem energischen Schritt zurück zum Schalter. Sie reichte ihm einen Messingschlüssel jener altmodischen Machart, wie sie in große Buntbartschlösser passten. Aber ihn beschäftigte nach wie vor die Figur dieser Frau. Wie kann jemand mit einem so alten und abgezehrten Gesicht einen SOLCHEN Körper haben?
»Zimmer drei, das ist unser bestes, Mr. Collier«, versicherte sie ihm mit ihrem gedehnten Dialekt. »Ich sage Ihnen, eine tolle Aussicht – die beste!«
»Vielen Dank.« Durch den Kopf jedoch ging ihm: Der Anblick deines Gestells ist aber auch nicht ohne. Durch seine sexistischen Gedanken fühlte er sich unkultiviert und unreif, aber sie schien diese bizarre Sexualität zu reflektieren wie ein Spiegel gleißendes Sonnenlicht. »Ich hole nur eben schnell meine Koffer und bin gleich wieder hier ...«
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, fiel sie Collier im Befehlston ins Wort. »Lottie holt Ihr Gepäck.«
Collier fiel auf, dass die junge Frau verschwunden war. »Oh nein, Mrs. Butler. Lottie ist zu zierlich, um schwere Koffer zu schleppen.«
»Täuschen Sie sich da mal nicht ...« Mrs. Butler kam um den Schalter herum. Der Busen wogte bei jedem Schritt. »Lottie mag keine fünfzig Kilo auf die Waage bringen, aber sie kann ohne Weiteres doppelt so viel tragen. Sie ist ein kräftiges Mädel und an harte Arbeit gewöhnt. Mittlerweile ist das arme Ding dreißig und findet keinen Mann. Viele glauben, es liegt daran, dass sie nicht reden kann, aber sie ist blitzgescheit.«
»Ich bin sicher, das ist sie«, sagte Collier. Er starrte von hinten auf ihre wohlgeformten Beine, als sie ihn in die Mitte des Salons führte.
»Wie auch immer, kommen Sie doch noch mal zu mir, wenn Sie sich auf dem Zimmer eingerichtet haben. Dann zeige ich Ihnen das Haus. Wissen Sie, wir sind nicht bloß irgendein Gasthof im tiefsten Süden, sondern ein wirkliches historisches Denkmal. Was wir hier haben, ist besser als das Museum im Ort.«
Collier löste mühsam die Augen von dem breiten, strammen Hintern. »Ja«, stieß er zerstreut hervor. »All die Vitrinen. Sie sind mir aufgefallen, als ich hereinkam.«
»Und wir haben noch etliche mehr. Ich zeige sie Ihnen später.«
Er bemühte sich, seine verdrehte sexuelle Benommenheit abzuschütteln und etwas zu erwidern. »Ich freue mich schon darauf ...«
»Die meisten Menschen wissen nicht viel darüber, wie die Leute damals gelebt haben.« Sie sprach sichtlich gern darüber. Ihre Augen funkelten noch lebendiger unter den hängenden Lidern.
Allerdings hing Colliers Gehirn weiter den schmutzigen Gedanken nach. Er stellte sich vor, die Hände auf die üppigen Brüste zu legen, die sich zweifellos fest wie Grapefruits anfühlen würden.
Dann zuckte er zusammen und befahl seinem Verstand, das Thema zu wechseln. Rasch drehte er sich um ...
An der seitlichen Wand hing ein großes Ölgemälde: ein mit einem Frack bekleideter Mann mit strenger Miene und Koteletten. Sein Gesichtsausdruck wirkte gedankenverloren und unangenehm. »Wer ist das?«
Mrs. Butlers faltiges Antlitz wurde bei der Frage noch faltiger. »Das ist der Mann, der das Haus gebaut hat, in dem Sie gerade stehen. Harwood Gast. Der berühmteste Mann, der je in dieser Stadt gelebt hat.«
»Vermutlich der Gründer der Stadt, richtig?«
Warum wirkte sie plötzlich beunruhigt? »Nein, Sir. Ursprünglich hieß die Ortschaft Branch Landing.«
»Genau wie Ihre Pension. Aber ... das verstehe ich nicht.« Ohne bewusstes Zutun seinerseits wanderte sein Blick erneut über den drallen Körper in den eng anliegenden Baumwollkleidern. Herrgott ...
»Nun ja, als Harwood Gast damals mit all seinem Baumwollgeld – und seiner verfluchten Eisenbahn – hier eintraf, waren die Bewohner nur allzu gern bereit, den Ort zu seinen Ehren umzutaufen. Sogar dieses Haus hieß Gasts Haus bis zu dem Tag, an dem ich es von meinem Onkel kaufte. Wissen Sie, er war mit den Leuten verwandt, die das Anwesen 1867 erwarben. Aber kaum hatte ich hier übernommen, änderte ich den Namen der Herberge.«
Die Worte trieben dahin. Collier, der das greise Gesicht der Frau ignorierte, war wieder auf den verlockenden Busen fixiert und wie besessen von der Vorstellung, wie dieser nackt aussehen musste. Doch als sich das Bild zusammenfügte, wurde ihm schließlich bewusst, wie untypisch ein solcher Charakterzug für ihn war.
Was stimmt bloß nicht mit mir?, brüllte er in Gedanken regelrecht auf. Schlagartig schämte er sich. Um Himmels willen, ich bin geil auf eine ALTE FRAU! Komm zur Vernunft, du Perverser! Mühsam richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Erklärung.
Sie hat den Namen geändert, dachte er. Warum? »Ich bin immer noch etwas verwirrt. Diese gesamte Stadt ist eine Bürgerkriegsattraktion. Warum nennen Sie Ihre Pension nicht Gast Inn? Aus wirtschaftlicher Sicht wäre es doch am sinnvollsten, den Namen der berühmtesten Person des Ortes beizubehalten, oder?«
Verdrossenheit senkte sich über die alte Dame wie der Schatten einer Wolke. »Nein, Mr. Collier, und ich sage Ihnen auch, warum. Harwood Gast war nicht nur die berühmteste Person der Stadt. Er war auch die böseste Person der Stadt.«
II
Neuer Tag, dieselbe Scheiße, dachte der junge Mann, sagte jedoch: »So isses gut, Miststück. Du lernst’s allmählich.«
Der vor ihm kniende fettleibige Mann stöhnte vor Anstrengung, während sich sein Kopf vor dem nackten Unterleib des jungen Mannes vor- und zurückbewegte. Tränen strömten aus den fest zugepressten Augen – Freudentränen.
Die Sonne schien heiß auf den nackten Rücken des Jüngeren; für diesen Kerl zog er immer sein Hemd aus. Schweiß brachte die muskulösen Konturen zum Glänzen. Natürlich fühlte er sich zu dem fetten Mann überhaupt nicht hingezogen, weshalb er in seinem Kopf die Bilder der tollsten Männer Hollywoods heraufbeschwor: Cruise, Pitt, Crowe. Das war immer notwendig, wenn er seinen »Job« auf diese für ihn eher ungewöhnliche Weise erledigte. Allerdings konnte alle Fantasie der Welt die Wirklichkeit nicht völlig vertreiben. Der Mann, der ihm so innig einen blies, war abstoßend und ging auf die sechzig zu. Wann immer der Jüngere die Augen öffnete, verwandelten sich Pitts fein geschnittene Züge in den kahlen Kopf des fetten Kerls. Ich muss das beenden. Er packte die schwabbeligen Wangen des Mannes, stieß dessen Mund von sich und begann zu masturbieren ...
»Ja, so isses gut. Das gefällt dir, was? Und du hast richtig große, fette Möpse. Nächstes Mal könnt’ ich mir ja vielleicht ’n Tittenfick gönnen, was meinste?«
»Oh Gott, ja!« Der fettleibige Mann hielt inne und schluchzte.
Eine Minute später war es vollbracht, und der Fette sank stöhnend – und mit vollgespritztem Gesicht – zurück ins Gras.
»Wie hat dir das gefallen, du großes, dickes Miststück?«
»Ich ... ich bete dich an ...«
Der Jüngere trat wieder in die Sonne. Armer durchgeknallter Bastard, dachte er. Schnurr- und Kinnbart des Mannes waren total vollgesaut.
»Das war’s«, sagte der jüngere Mann und zog seine Jeans hoch.
»Ich ... ich bete dich an ...«
»He, hör auf damit. Du kennst die Regeln. Ich muss los.«
»Aber ... bitte. Nur noch ...«
Die Muskeln des glänzenden Waschbrettbauchs spannten sich, als der Jüngere das enge T-Shirt überstreifte. »Hä?«
Verlegenheit. »Du weißt schon ...«
Der jüngere Mann runzelte die Stirn. »Oh, richtig.« Er trat vor und ...
Kkkrrrr-tschock!
... spuckte dem Fetten ins Gesicht.
»Oh Gott! Danke, danke!«
Ich HASSE solche Geschichten, dachte der jüngere Mann. Er ließ den Blick über das weitläufige Feld wandern. Eine sanfte Brise strich über das meilenweit reichende, hüfthohe Weidelgras. Er hatte gehört, dass Gasts Plantage während des Bürgerkriegs Tausende Morgen umspannte: vorwiegend Baumwolle, Sojabohnen und Mais. Nun war sie nur noch grünes Ödland, und er wusste, weshalb. Allerdings war er nicht tiefsinnig genug, um zu begreifen, wie fest er auf einer Stätte bedeutender amerikanischer Geschichte stand.
Der Fette kauerte immer noch weinend auf den Knien.
Herrgott noch mal! »Warum stehste nich’ auf? Ich muss zurück.«
Die Worte erklangen unter abgehacktem Schluchzen. »Aber du bist so wichtig für mich! Ich könnte nicht ohne dich leben!«
Was für ’ne Nervensäge. Der Jüngere verstand davon nur wenig. Normalerweise werd ich dafür bezahlt, zu blasen, nicht dafür, geblasen zu werden. Wäre er gebildeter gewesen, hätte er gewusst, dass die sexuelle Psyche mancher Menschen ziemlich verdreht sein konnte. Erniedrigung, wie beispielsweise Masochismus, legte im Kopf einen merkwürdigen, seit Jahren – oft seit der Kindheit – vorhandenen Schalter um, sodass etwas, das tendenziell die meisten Menschen abstieß – Hässlichkeit, Missbrauch, Demütigung –, stattdessen Erregung auslöste. Na ja. Er mochte den übergewichtigen Glatzkopf nicht besonders, trotzdem bereitete es ihm kein Vergnügen, ihn wie sexuellen Abschaum zu behandeln. Er hatte mal jemanden über diesen Kerl namens Hitler reden gehört, der vor langer Zeit so etwas wie der König von Deutschland war und angeblich nur erregt wurde, wenn eine Frau auf ihn kackte. Der junge Mann vermutete, dass hier etwas Ähnliches vor sich ging. Verrückt, dachte er. »Komm jetzt, gehn wir. Oh, und wo is’ meine Knete?«
Die zitternde, fleischige Hand streckte ihm einen persönlichen Scheck über dreißig Dollar entgegen.
»Danke«, sagte der jüngere Mann.
»Lass uns zusammen zu Mittag essen«, schlug der Fette unter weiterem Schluchzen vor. »Wo immer du willst.«
»Nein. Hab zu tun.«
Feuchte Augen sahen ihn flehentlich an. »Sag ... sag mir wenigstens, dass ich es besser mache als dein Lover ...«
Ein genervter Atemstoß. »Du machst’s gut, so viel steht fest«, lautete die ausgesprochen großzügige Erwiderung. In Wirklichkeit war es eher mittelmäßig. »Aber ich hab dir schon gesagt, ich hab kein’ Lover, und ich lass’ mich nie auf solche Geschichten ein. Das weißte ja. Das zwischen uns muss so bleiben, wie wir’s vereinbart haben. Eine Sache im Austausch gegen ’ne andre. Klar?«
Trübselig nickte der fette Mann.
»Wart, ich helf’ dir auf«, bot der Jüngere an und ergriff eine fleischige Hand. Puh! Du wiegst ja fast so viel wie ’n verfluchter Wäschetrockner! Als der Dicke stand, wollte er die Hand nicht loslassen. Es gibt nix Schlimm’res als ’ne rührselige Schwuchtel. Der Jüngere löste sich von ihm.
Der Dicke starrte ihn an. Immer noch rannen die Tränen. »Ich würde alles für dich tun ...«
Oh Mann! Der Jüngere wusste, dass er vorsichtig sein musste. Immerhin war dies gutes Geld für schnelle Arbeit. »Hör mal, ich merk, dass du im Moment ’n bisschen durcheinander bist, also verschwind’ ich besser. Ich lauf zurück. Du bleibst noch ’n Weilchen und beruhigst dich erst mal. Du willst doch nich’ flennend in die Stadt zurück. Und wisch dir den Schweinkram aus’m Gesicht.«
Ein wabbeliges Nicken, und ein Taschentuch wischte über die Augen, die Lippen und den Bart.
»Schon besser.« Der jüngere Mann hielt den Scheck hoch. »Du rufst mich an, wennde wieder Lust hast.« Damit drehte er sich um und ging davon.
Er verließ die Lichtung und betrat einen kaum schulterbreiten Pfad zwischen dem hohen Gras. Verhaltene Worte folgten ihm.
»Ich liebe dich ...«
Scheiße ...
Er beschleunigte die Schritte, um schnell zu verschwinden. Laufen war in Ordnung. Zwar mochte er das Auto des Dicken – einen neuen Cadillac mit einer guten Klimaanlage –, aber wenn ihn solche schmalzigen Launen überkamen ... Oh Mann!
Ich lauf lieber.
Ein weiterer Schritt, und ...
Verdammt noch mal!
... er taumelte und fiel. Seine Knie landeten hart auf dem Boden, und als er sich umdrehte, um zu sehen, worüber er gestolpert war ...
Seine Gedanken erstarrten.
Ein halb vergrabener, brauner Schädel starrte ihn an.
Er war nicht zimperlich, aber einen Teil der Geschichten glaubte er. Immerhin hatte er schon so manches gesehen – sowohl hier draußen als auch im Haus ...
Ein Schauder kroch über seinen sonnengebräunten Rücken. Er wusste, dass der Schädel sehr alt war. Außerdem wusste er, dass es sich vermutlich um den Schädel eines Sklaven handelte, nicht um den eines gefallenen Soldaten.
Die Schädel waren überall.