Kapitel 2
I
»Sie haben recht«, sagte Collier zu der alten Frau, während er eine der zahlreichen Glasvitrinen bewunderte. »Ihre Pension ist wirklich wie ein kleines Museum.« Sein Blick wanderte über eine Sammlung von Gegenständen aus der Bürgerkriegszeit. Jeder wies ein Etikett auf. Esspfanne – 1861, Lochbeitel – 1859, Selbstspannender Starr-Revolver Kaliber 36 – 1863.
»Besuchen Sie mal das Gast-Museum in der Stadt, und Sie werden sehen, was wir hier haben, ist viel schöner und interessanter«, prahlte Mrs. Butler.
Die nächste Vitrine enthielt Handschuhe, Gürtel und Schuhwerk. »Arbeitsschuhe?«, fragte er und zeigte auf den klobigen schwarzen Schuh.
»Das waren damals die üblichen Kampfstiefel. Sie waren für das Überleben eines Mannes auf dem Schlachtfeld genauso wichtig wie sein Gewehr.« Sie beugte sich vor und zeigte auf einen Schuh anderer Machart. Die Geste veranlasste Collier, den Blick über die Rundungen ihres Busens wandern zu lassen. Danach blinzelte er heftig, um die Ablenkung abzustreifen.
»Aber der da war bei Schuhen das Maß der Dinge«, fuhr sie fort. »Der Jefferson-Schuh oder Halbstiefel, wie er auch genannt wurde. Mr. Collier, Sie könnten diesen Schuh heute noch anziehen, und er würde besser sitzen als jeder modische Gucci, den man kaufen kann.«
Collier betrachtete den hohen Lederschuh. Abgesehen von einigen Schrammen schien er in hervorragendem Zustand zu sein. Auf dem Etikett stand: Jefferson-Halbstiefel, Föderiertenmodell – 1851 – Getragen von Mr. Taylor Cutton, Streckenkontrolleur der East Tennessee & Georgia Railroad Company.
»Alles hier wurde irgendwann mal auf diesem Grundstück gefunden«, erklärte Mrs. Butler. Stolz trat sie zurück und verschränkte die Arme unter den Brüsten, wodurch diese nur noch größer wirkten. »Ich bekomme von der staatlichen Historikerkommission eine Steuervergünstigung dafür, dass ich alles ausstelle ... und dieses verfluchte Porträt von Gast dort oben hängen lasse.«
Der böseste Mann, der je hier gelebt hat?, dachte Collier belustigt. Wahrscheinlich bloß ein Werbegag. »Wenn der Mann so böse war, dann spukt es in diesem Haus wohl, was?«, köderte er sie.
»Nur durch die Erinnerung an diesen gemeinen Mistkerl«, lautete die seltsame Antwort.
Collier wechselte das Thema, wandte sich wieder dem Jefferson-Schuh und dessen längst verstorbenem Besitzer zu. »Aber von dieser Eisenbahn habe ich noch nie gehört. War sie aus der Zeit vor dem Krieg?«
»Der Bau begann 1857 und wurde 1862 fertiggestellt«, antwortete Mrs. Butler. »Es war Gasts Eisenbahn. Er hat Gleise von hier bis mitten nach Georgia verlegt, der perfekte Anschluss für die Hauptstrecken, die in die Stadt führten. Den Bau bewältigte er mit hundert Sklaven und fünfzig Weißen – keine schlechte Leistung für die damalige Zeit. Es waren jede Menge Schienen zu verlegen.«
Die Vorstellung beeindruckte Collier. Damals hatte man keine Maschinen gehabt, nur menschliche Muskelkraft, mit deren Hilfe Eisenschienen geschleppt und Nägel mit Hämmern in die Trassen geschlagen wurden. Fünf Jahre ... Die schwerste Arbeit, die Collier je verrichtet hatte, war vermutlich das Tragen von Einkaufstüten vom Auto ins Haus gewesen.
»Und das?«, fragte er.
ASCHEQUADER – 1858.
»Aschequader hat man damals statt Seife verwendet«, erläuterte Mrs. Collier. »Das war noch etwas anderes als Marken wie Dove oder Lux.«
Der graue Riegel wies die Größe eines Eishockeypucks auf. »Wie wurde das hergestellt?«
»Man warf einen Haufen Tierfett in einen Kessel mit kochendem Wasser. Hauptsächlich Pferdefett. Nie das von Schweinen oder Rindern, denn das konnte man essen. Das Fett wurde also gekocht, und gleichzeitig wurde langsam Asche dazugemengt – irgendwelche: von Laub, von Gras, von Pflanzen. Weiterkochen, mehr Asche dazu, weiterkochen, mehr Asche dazu, den ganzen Tag lang. Wenn das gesamte Wasser verdampft war, hatte sich das Fett zersetzt und mit der Asche vermischt. Dann schnitt man aus der Masse Riegel und ließ sie trocknen.« Ihre alten Finger klopften auf das Glas. »Funktioniert genauso gut wie alles, was heute in aufwendigen Fabriken hergestellt wird. Ist zwar rau, aber man wird damit blitzsauber. Wissen Sie, damals wuschen sich die Leute nicht oft, nur jeden Samstag vor dem Ruhetag, und im Winter noch weniger – zu der Zeit konnte man sich durch ein Bad eine Lungenentzündung holen. Damen pflegten sich ein wenig mehr als Männer, mit Sitzbädern.«
»Sitzbädern?«
»Eine kleine Wanne mit Aussparungen für die Beine. Man setzte sich mit den Genitalien rein. Wir haben eines hier – tatsächlich sogar direkt neben Ihrem Zimmer oben. Ich zeige es Ihnen später.«
Collier konnte es kaum erwarten, das Sitzbad zu sehen.
»Über so vieles aus den alten Zeiten haben die Leute eine völlig falsche Vorstellung. Und über den Süden generell.«
Die nächsten Gegenstände in der Vitrine wirkten bizarr: fünfzehn Zentimeter lange Metallvorrichtungen mit Spannfedern an einem Ende. Klammern für unartige Mädchen – 1841. »Was um alles in der Welt ist das? Sieht aus wie Wäscheklammern.«
Mrs. Butler lächelte und griff in die Vitrine.
Colliers Augen weiteten sich, als sie sich vorbeugte. Er konnte den Blick einfach nicht von ihrem Busen lassen ...
»Strecken Sie einen Finger aus, Mr. Collier«, forderte sie ihn auf.
»Was?«
»Los doch. Strecken Sie einen aus.«
Collier kicherte, tat es dann aber.
Die Enden drückten sich zusammen und verursachten auf Anhieb Schmerzen.
»Wissen Sie, wenn kleine Mädchen unartig waren, steckten ihnen ihre Väter eines dieser Dinger an einen Finger.«
Erst fünf Sekunden waren verstrichen, und Collier krümmte sich bereits.
»Wie lange die Klammer angebracht blieb, hing davon ab, wie schlimm das kleine Mädchen war. Hatte es beispielsweise seine morgendlichen Haushaltspflichten nicht verrichtet, bekam es die Klammer für fünfzehn Sekunden.« In den Augen der alten Frau lag ein Lächeln. »Tut es schon weh, Mr. Collier?«
»Äh, ja«, gestand er. Es fühlte sich an, als steckte sein Finger in einer Zange.
»Oder sagen wir, das Mädchen stahl ein Stück Kandiszucker aus dem Gemischtwarenladen – dann war die Strafe vermutlich eine Minute ...«
Colliers Finger pochte vor Schmerzen, dabei waren es bislang immer noch erst zwanzig Sekunden.
»Und wenn es das Mädchen wagte, der Mutter oder dem Vater zu widersprechen – mindestens zwei Minuten.«
Collier kaute noch einige Sekunden auf seiner Unterlippe, dann bat er eindringlich: »Nehmen Sie mir das Ding ab!«
Mrs. Butler tat es unverkennbar belustigt. Colliers gequetschter Finger war über dem Gelenk gerötet. »Also, das waren kaum dreißig Sekunden, Mr. Collier.«
Er schüttelte die Hand. »Das hat verdammt wehgetan ...«
»Und ob. Deshalb waren kleine Mädchen in der guten alten Zeit selten aufsässig. Ein paar Minuten mit der Klammer, und schon herrschte wieder Disziplin. Es kam durchaus vor, dass ein Mädchen die Klammer fünf Minuten lang tragen musste, wenn es Schimpfwörter benutzte oder von der Schule nach Hause geschickt wurde.«
»Fünf Minuten?«, fiel ihr Collier ins Wort. »Heutzutage würde man das als Kindesmisshandlung bezeichnen.«
»M-hm. Aber ich wage zu behaupten, würden unsere Lehrer diese Klammern heute in der Schule verwenden, hätten wir nicht all die Probleme, die man in den Nachrichten sieht.« Sie legte die bizarre Klammer zurück in die Vitrine. »Bestimmt sehen Sie das genauso.«
Collier konnte sich nicht zu einer Antwort durchringen. »Und diese Klammern wurden nur für Mädchen verwendet?«
»Genau.«
»Was war mit den Jungs?«
Ein selbstgefälliges Kichern. »Wenn sich Jungs nicht zu benehmen wussten, brachten ihre Väter sie einfach für eine Tracht Prügel in den Holzschuppen.«
»Ah. Natürlich.« Collier rieb sich den Finger. Er war ein wenig verärgert über den Geschichtsunterricht. Das hat verdammt wehgetan!, hätte er sie am liebsten angebrüllt. Doch ihre nächste Geste ließ ihn den Zwischenfall jäh vergessen.
Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse und fächelte sich mit dem Stoff am Ausschnitt heftig Luft zu – wodurch sie mehr von ihrem prächtigen Busen entblößte.
»Ich vergesse andauernd, die Klimaanlage um diese Zeit höher zu drehen«, sagte sie. Die Sonne schien gleißend durch die hohen Vorderfenster herein. »Ist Ihnen auch heiß, Mr. Collier?«
Nur unterhalb der Gürtellinie, dachte er. Der Anblick ihres fülligen Busens und des tiefen Ausschnitts erhitzte ihn. »Ein wenig, jetzt, wo Sie es erwähnen.«
»Ich kümmere mich gleich darum.« Sie fächelte weiter mit der Bluse. Collier konnte einen dünnen Schweißfilm auf der Haut darunter erkennen.
In der letzten Vitrine erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit: ein hellgrauer Papierstreifen, der wie ein alter Bankscheck aussah. Er kniff die Augen zusammen.
Zahlbar an: Mr. N. P. Poltrock, Mitarbeiter der East Tennessee & Georgia Railroad Company, fünfzig Dollar.
»Wow«, meinte Collier, als er das handgeschriebene Datum des Schecks bemerkte: 16. September 1862. »Was für ein altes Dokument. Und es sieht perfekt erhalten aus.«
Mrs. Butler hörte auf, sich Luft in den Ausschnitt zu wedeln. Ihre Miene verfinsterte sich. »Ein Lohnscheck von Gasts verdammter Eisenbahn. Aber ja, er ist ziemlich alt.«
Wieder Gast. Die bloße Erwähnung von etwas, das mit ihm zu tun hatte, trübte ihre Laune.
»Das ist doch ziemlich interessant, oder?«
»Was meinen Sie, Mr. Collier?«
»Ein Stück Papier, das während des Bürgerkriegs von jemandem unterschrieben wurde.«
»Wir ziehen es vor, ihn als den Angriffskrieg des Nordens zu bezeichnen«, entgegnete sie mit Nachdruck.
»Aber war es nicht ein Angriff des Südens, durch den der eigentliche Krieg begann?«, hakte Collier nach und bereute es fast sofort. »Die Konföderierten haben doch Fort Sumter unter Beschuss genommen.«
»Aber es war der Norden, Mr. Collier, der darum gebettelt hat, indem er hohe Zölle für Baumwollausfuhren verlangte«, widersprach sie scharf.
»Ich verstehe ...« Abermals betrachtete Collier den Scheck und stellte sich vor, wie dieser vor fast hundertfünfzig Jahren unterschrieben wurde, als die Stabilität der Nation an einem seidenen Faden hing.
»Wo bleibt nur dieses dumme Kind mit Ihrem Gepäck«, fragte Mrs. Butler und blickte stirnrunzelnd zur Tür.
»Ich sollte ihr besser helfen. Die Koffer sind ziemlich schwer ...«
»Nein, nein, bitte. Glauben Sie mir, für das arme Ding ist das eine aufregende Sache. Sie wird außer sich vor Freude darüber sein, die Koffer eines Prominenten tragen zu dürfen.«
Collier legte die Stirn in Falten, als Mrs. Butler den Blick abwandte. Ich war bestenfalls ein B-Promi, und jetzt bin ich ein Ex-Promi. Er besaß nicht den Schneid, ihr zu sagen, dass seine Sendung abgesetzt wurde. Dann wäre der Mythos zerstört, und der Mythos ist alles, was ich noch habe ...
Die Glocke am Schalter bimmelte. Collier bemerkte zwei Gäste – ein Paar Mitte dreißig. Touristen, stellte er fest. Um den Hals des Mannes hing eine Kamera. Er war mit einem geschmacklosen, gestreiften Kurzarmhemd und einer beigefarbenen Dockers-Hose, die sich um die Mitte spannte, unscheinbar gekleidet. Mit erhobenem Finger gab er Mrs. Butler ein Zeichen.
»Oh, die Leute aus Wisconsin«, murmelte sie. »Die wollen wahrscheinlich einen Touristenprospekt. Ich bin gleich wieder da, Mr. Collier.«
»Kein Problem.«
Eine unbekannte Kraft befahl Colliers Blick, sich auf ihren Hintern zu heften, als sie zurück zum Schalter eilte. Hätte sie doch nur ein Gesicht, das nicht ganz so ... ALT ist. Er spürte kribbelnden Schweiß auf der Stirn.
Collier gab vor, weitere Schaustücke in der Vitrine zu begutachten: eine Wurzelholzschale aus dem frühen 18. Jahrhundert, ein Entrindungseisen aus dem Jahrhundert danach. Der nächste Gegenstand wirkte bedrohlich: ein Messer mit Messinggriff, das gut und gern fünfundvierzig Zentimeter lang sein musste. Säbelbajonett der Waffenfabrik Georgia – ca. 1860 – Aus dem Besitz von Mr. Beauregard Morris von der East Tennessee & Georgia Railroad Company. Die schiere Größe der Klinge verursachte Collier Unbehagen. Sie sah fast neu aus und wies keinerlei Rostflecken auf. Ich frage mich, ob mit dem Ding je jemand getötet wurde, ging ihm unwillkürlich durch den Kopf.
Sein Blick wanderte über weitere Ausstellungsstücke, während sich Mrs. Butler mit ihrem charmanten Akzent um das Paar aus Wisconsin kümmerte. Sie gab den beiden einige Informationsbroschüren ... Und Colliers Blick heftete sich auf den weiblichen Teil des Touristenpaars – eine schlichte Frau mit einem kleinen Bäuchlein, trotzdem noch wohlproportioniert. Breite Hüften dehnten ihre beige Hose – zu eng, wie bei ihrem Mann –, und Collier konzentrierte sich auf den Busen. Dann bestürmte ein Bild seinen Verstand: er selbst, wie er ihr das Oberteil vom Leib riss und das Gesicht zwischen den Brüsten vergrub ...
Er zuckte zusammen und wandte sich ab, bis die schmutzige Vorstellung verschwand.
Als er wieder hinschaute, stand die Frau auf Zehenspitzen und hatte ein breites zahngebleichtes Lächeln aufgesetzt. Sie winkte ihm zu.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie.
»Ja?«
»Sie sind doch Justin Collier, oder?«
Collier bemühte sich, nicht zu seufzen. »Ja.«
»Oh, wir sind große Fans! Sieh mal, Schatz, das ist der Bierfürst!«
Der Ehemann winkte ebenfalls. »Wir lieben Ihre Sendung, Mr. Collier.«
»Danke.«
Die Frau: »Könnten wir wohl ein Autogramm bekommen?«
Am liebsten hätte Collier gestöhnt. »Mit Vergnügen ...« Dann jedoch öffnete sich die Vorzimmertür, und Lottie trabte mit seinem Koffer und seiner Laptoptasche herein. Damit bin ich vorläufig aus dem Schneider, dachte Collier. »Aber holen wir das doch später nach. Ich checke gerade ein.«
»Natürlich«, gab die aufgeregte Frau zurück. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen!«
»Das letzte Zimmer im Flur, Mr. Collier«, fügte Mrs. Butler hinzu.
Ein gekünsteltes Lächeln, dann eilte er zu Lottie.
»Warten Sie, lassen Sie mich einen nehmen«, sagte er, doch sie schüttelte nur grinsend den Kopf.
Die alte Frau hat recht – sie ist stark wie ein Muli. Mühelos trug sie das sperrige Gepäck die Treppe hinauf. Schlanke Beine nahmen zwei Stufen auf einmal. Zunächst war Collier nicht sicher, weshalb er einige Schritte hinter ihr blieb, dann jedoch ...
Schon wieder ein perverser Instinkt, vermutete er.
Collier versuchte, ihr unter den Jeansrock zu spähen. Eine Sekunde lang erblickte er einen weißen Slip, der sich über der Spalte eines herrlichen kleinen Hinterns bauschte.
Was ist heute bloß LOS mit mir?
Ein kastanienbrauner Teppich führte den Hauptgang hinunter. Über das Geländer konnte Collier hören, wie Mrs. Butler das Paar aus Wisconsin vollplapperte. Er kämpfte gegen den Drang an hinunterzuschauen, in der Hoffnung, einen Blick in den Ausschnitt beider Frauen zu erhaschen. Diesmal gelang es ihm, den Impuls zu unterdrücken. Wieso bin ich plötzlich so versessen auf Sex?, fragte er sich. Als er keine Antwort darauf fand, ging er dazu über, Lotties Hinterteil und wohlgeformte Beine zu begutachten. Der Anblick berauschte ihn, und er konnte sich nicht erklären, weshalb. Sogar ihre Achillessehnen und ihre nackten Fersen wirkten betörend. Auch die glanzlosen Strähnen, die Rückseite ihrer Arme, ihre Finger, die die Griffe seiner Koffer umklammerten, erschienen ihm unfassbar erotisch ...
Als sie stehen blieb und das Gepäck abstellte, hielt er inne, dann fiel ihm ein, dass er seinen Schlüssel bereits bekommen hatte. Das letzte Zimmer im Flur, hatte Mrs. Butler gesagt. Er steckte den Schlüssel ins Schloss ...
Lottie zupfte an seinem Arm und schüttelte den Kopf. Sie zeigte auf die Tür, neben der sie stand.
»Ich dachte, Ihre Mutter hätte gesagt, das letzte Zimmer im ...«
Sie schien mit den Lippen Worte zu formen, doch Collier verstand sie nicht.
Eine kräftige männliche Stimme kam ihm zu Hilfe. »Was meine Ma gemeint hat, is’ das letzte normale Zimmer.« Ein großer Mann um die dreißig näherte sich. Er lächelte selbstsicher und trug Jeans, Arbeitsschuhe und ein T-Shirt. »Hallo, Mr. Collier. Ich bin Helens Sohn, Jiff.«
Collier schüttelte eine schwielige Hand. »Hallo, Jeff.«
»Nein, Sir, es heißt Jiff – Sie wissen schon, wie die Erdnussbuttermarke.« Das enge T-Shirt ließ einen trainierten Oberkörper erahnen. Der Mann hatte einen blonden Kurzhaarschnitt und einen ähnlich gedehnten Akzent wie seine Mutter. »Das hier is’ nich’ Ihr Zimmer. Wir vermieten’s nich’.« Er deutete auf die Tür daneben. »Das is’ Ihres, und es is’ unser bestes.«
»Tja, freut mich, Sie kennenzulernen, Jiff.«
»Lassen Sie mich meiner dürren Weidenrute von Schwester das Gepäck abnehmen und Sie einquartieren.«
Collier sperrte die vorletzte Tür auf, bemerkte dabei jedoch, dass die dritte Tür schmaler war und ein Schild aufwies, auf dem stand: Bad und WC der Gasts, Originalzustand. »Und was ist das hier, Jiff?«
Lottie bedachte Jiff mit einem finsteren Blick, als dieser ihr die Koffer abnahm. Ihre Lippen schienen das Wort Arschloch zu formen.
»Das Zimmer haben wir nie renoviert, weil viele Touristen gern ’n echtes Badezimmer aus der alten Zeit sehen wollen. Ich zeig’s Ihnen gern und führ’ Sie auch durchs ganze Haus, wenn Sie bereit sin’.«
»Danke, ich würde gern eine Führung durchs Haus mitmachen.«
Collier betrat sein Zimmer und hörte, wie Jiff seiner Schwester hinter ihm zuraunte: »Ausm Weg, Dumpfbacke!« Die beiden schienen um Colliers Aufmerksamkeit zu wetteifern. »Ja, Sir, ich hab Ihre Sendung oft gesehen«, beteuerte Jiff. »Is’ ’ne echte Ehre, dass so ’n berühmter TV-Star bei uns übernachtet.«
Collier hätte sich kaum heuchlerischer fühlen können, als er erwiderte: »Danke.«
»Sin’ Sie wegen was hier, das mit Ihrer Sendung zu tun hat?«
»Nein, Jiff, ich bin hier, um ein Buch fertig zu schreiben. Neben meiner Bierfürst-Sendung schreibe ich auch Bücher über die Kunst des Bierbrauens.« Als er einen antiken Sekretär mit Rolldeckel vor einem breiten Fenster erblickte, sagte er rasch: »Ah, perfekt. Hier kann ich an meinem Laptop arbeiten.«
Jiff legte die Laptoptasche auf den Tisch. »Ich hoff’, ’s Zimmer gefällt Ihnen.«
»Wunderbar.« Gemütlich, dachte Collier. Ein dicker, rostfarbener Teppich erstreckte sich von Wand zu Wand, der Stil der Möbel entsprach, wie zu erwarten, der Postkolonialzeit. Das Himmelbett war ungewöhnlich hoch. Goldene und kastanienbraune Tapeten bedeckten die zur Hälfte vertäfelten Wände. »Oh, und lassen Sie mich den Ausblick sehen, den Ihre Mutter versprochen hat.« Damit trat er durch eine Doppeltür auf einen Balkon mit kunstvollem Geländer. Jiff begleitete ihn.
Der Ausblick aus dem ersten Stock offenbarte einen beeindruckenden, von gefliesten Wegen unterteilten Garten. »Ein wunderschöner Garten«, meinte Collier. Eine warme Brise wehte ihm verschiedene Düfte zu.
In der Mitte einer kleinen Nische am Rand des Umfelds stand ein schlichter Kamin aus flachen, hoch aufgetürmten und vermörtelten beigefarbenen Steinen. Das Gebilde schien mehrere Kanäle aufzuweisen, und Collier bemerkte an einer Seite einen hängenden Balken mit einer Kette, befestigt an einer größeren Version eines Kaminblasebalgs. Daneben befand sich ein Schuppen.
»Was ist dieses kaminartige Ding dort drüben?«
»Harwood Gasts persönliche Eisenschmiede«, antwortete Jiff. »Jeder reiche Mann hatte ’ne Schmiede und ’n Schmied aufm Grundstück. Etliche Touristen und Historiker komm’ her, um sich die da anzuschaun. Sie is’ in tadellosem Zustand. Das einzig Neue dran is’ das Leder am Blasebalg.«
Collier war davon genauso fasziniert wie von einigen der Artefakte im Erdgeschoss. »Und der Schuppen daneben?«
»Das Brennmateriallager. Man hat Kohle oder Holzkohle verwendet – normales Holz ging nich’, weil’s nich’ heiß genug geworden wär. Ein Mann hat’s Ganze bedient, den Blasebalg gepumpt, ’s Erz gewendet, die Vorblöcke rausgezogen und ’s Eisen aus ihnen geklopft. Heikle Sache. Der Schmied musste ’s Eisen formen, bevor’s zu kalt wurde.« Er deutete zu einem abgesägten Baumstumpf, der einen Amboss beherbergte. »War harte Arbeit, aber diese Burschen konnten so gut wie alles herstellen, und sie haben dafür nur ’n Hammer und Gussformen gebraucht.«
Der Anblick führte Collier vor Augen, wie wenig er von der Welt wusste. »Das würde ich mir gerne mal näher ansehen.«
»Und ich werd’s Ihnen gern zeigen, wann immer Sie Lust haben«, gab Jiff zurück. Dann zeigte er darüber hinaus. »Und da is’ der Berg.«
Collier konnte ihn trotz der Entfernung noch erkennen. Ein violett wirkender Nebel ließ die Gipfel und Konturen verschwimmen. Aber jenseits des Gartens erstreckte sich schier endloses Buschland, das wenig zur Schönheit der Landschaft beitrug. »Wieso bestellt niemand all das Land da draußen?«
»Das war mal eine der größten Baumwollplantagen im Süden«, sagte Jiff. »Damals, vorm Krieg.«
»Dem Zweiten Weltkrieg? Oder meinen Sie ...«
»Den Angriffskrieg des Nordens, Sir.«
Collier lächelte. Er hatte erneut mit einer Ablenkung zu kämpfen, als sich Lottie teilnahmslos über das Geländer beugte und hinabschaute. Mit Müh und Not konnte Collier dem Drang widerstehen, ihr unverhohlen in den Ausschnitt ihres Jeanskleides zu schielen. »Also ist es jetzt Brachland? Es ist doch bestimmt seither mal bestellt worden, oder?«
»Ne, Sir. Kein Quadratmeter davon.«
»Gehört es einer Immobilienverwertung?«
»Ne, Sir.«
Die Wende des Themas machte Collier neugierig. »Warum nutzt man denn so viel wertvolles Ackerland nicht?«
Lottie sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf.
»Die Leut’ glauben, ’s Land sei verflucht, daran liegt’s, Mr. Collier«, informierte ihn Jiff. »Hier gibt’s ’ne Menge alter Legenden und Gespenstergeschichten, aber achten Sie gar nich’ drauf. Das Land hat früher Harwood Gast gehört. Die Baumwolle, die von sein’ Sklaven geerntet wurde, hat ’n Großteil der Konföderiertenarmee eingekleidet, die Sojabohnen, die er dort draußen angebaut hat, wurden für die Versorgung verwendet. Ich wett’, Sie haben nich’ gewusst, dass es damals schon Sojabohnen gab, oder?«
»Also ... nein.« Aber Collier liebte Gespenstergeschichten. »Und warum ist das Land angeblich verflucht?«
Jiff legte den Kopf schief. »Ach, das alberne Gerede wollen Sie bestimmt nich’ hören, Sir. Oh, sehn Sie nur, da sin’ die Leut’ aus Wisconsin.«
Der hat aber ziemlich schnell das Thema gewechselt. Colliers Blick wanderte nach unten, und tatsächlich, dort ging das verheiratete Paar, dem er im Erdgeschoss begegnet war. Die Frau schien seinen Blick zu spüren, drehte sich unverhofft um und winkte.
»Ich kann’s kaum erwarten, Ihr Autogramm zu bekommen, Mr. Collier!«
Großer Gott ... Lächelnd nickte Collier. »Gehen wir wieder rein.«
Lottie tänzelte vor ihm einher; er konnte den Blick nicht von den wohlgeformten Beinen lösen, die an jene einer Turnerin erinnerten. Ihm schoss die Hitze in seine Lenden, als sich die agile junge Frau vorbeugte, um seinen Koffer zu ergreifen. Volltreffer!, dachte Collier. Zwar wurde ihm nur ein flüchtiger Einblick gewährt, doch als sich das Oberteil des Kleides durch die Schwerkraft senkte, bemerkte Collier Brüste, die die Größe von Pfirsichen hatten, und vermutlich waren sie genauso fest. Grundgütiger ... Dieser plötzliche Ansturm von Voyeurismus gab ihm Rätsel auf; das passte einfach nicht zu ihm. Dennoch vermittelte ihm dieser kurze Blick den Eindruck, ein wundervolles Überraschungsgeschenk bekommen zu haben.
Lottie hievte den Koffer auf das Bett und begann, seine Kleider in den Schrank zu hängen.
»Danke, Lottie, aber das ist wirklich nicht nötig ...«
»Is’ uns ’n Vergnügen, Mr. Collier«, meldete sich Jiff zu Wort.
Als Nächstes ergriff Lottie ein Paar Schuhe aus dem Koffer, drehte sich um und bückte sich, um es unten in den Schrank zu stellen. Der perfekte Anblick ihres Hinterteils in dem weißen Slip bescherte Collier einen Adrenalinstoß.
Jiff versetzte ihr einen heftigen Klaps. »Zeig etwas Respekt, Mädel! Mr. Collier will sicher nich’ dein’ dürren Hintern sehen!«
Doch, will ich, will ich!, widersprach Collier in Gedanken. Die junge Frau richtete sich auf und grinste verlegen.
Aber das trug nur noch mehr zu dem unbegreiflichen Zustand bei, in dem er sich befand. Sogar die Luft schien vor Lust zu strotzen; Collier atmete das Gefühl ein wie Rauch. Er hatte schon beinahe vergessen, wie sich solch sexuelles Verlangen anfühlte, aber wie aus heiterem Himmel ...
Seine Brust war wie zugeschnürt, eine kribbelnde Unruhe durchfuhr seinen Körper.
»Was wollten Sie vorher sagen, Mr. Collier?«, rettete Jiff die merkwürdige Situation. »Sie sin’ hergekommen, um ’n Buch über Bier zu schreiben?«
»Äh, ja, Jiff. Ich schreibe gerade ein Buch über klassische alte amerikanische Biere, und ich bin nach Gast gereist, weil ich einen Kollegen besonders begeistert von einem Bier reden hörte, das hier in der Stadt gebraut wird, und zwar bei ...«
Doch Jiff nickte bereits und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie meinen Cusher’s. Ich wollt’ grad vorschlagen, dass der Fürst der Biere unbedingt ’n paar Gläser bei Cusher’s kippen muss.«
»Das ist ein Restaurant und Wirtshaus, richtig?«
»Genau, und ’n ziemlich gutes. Eine Speisekarte mit Verpflegung wie in alten Zeiten, und ’n paar Biersorten, die direkt dort gebraut werden. Ich geh selbst gelegentlich hin. Is’ gleich unten an der Ecke zur Number 1 Street.«
Das kam Collier gelegen, zumal er neue Lokale nicht gern allein besuchte, schon gar nicht in einer fremden Stadt. »Das ist sehr hilfreich, Jiff. Und wenn Sie später nichts vorhaben, würde ich Sie und Ihre Schwester gern dort zum Essen einladen.«
Jiff und Lottie zeigten ein ausgelassenes Grinsen. »Das is’ sehr nett, Mr. Collier. Is’ mir ’ne Ehre, mit jemand so Berühmtem wie Ihnen auszugehen«, nahm Jiff die Einladung an, dann jedoch warf er einen finsteren Blick zu seiner Schwester. »Leider kann Lottie nich’ mitkommen, weil sie noch die ganze Gästebettwäsche zu waschen hat.«
»Oh, das ist aber schade ...«
Lottie presste wütend die Lippen aufeinander.
»Und am besten fängt sie gleich damit an. Richtig, Lottie? Ma hat’s dir bereits aufgetragen.«
Die Augen der jungen Frau wurden feucht vor Tränen, dann stürmte sie hinaus. Collier war ziemlich sicher, dass ihre Lippen im Vorbeigehen die Worte Friss Scheiße! in die Richtung ihres Bruders schleuderten.
Jiff zuckte mit den Schultern. »Lottie, so lieb sie is’, is’ ’n bisschen daneben, Mr. Collier. Für sie isses am besten, wenn sie im Haus bleibt. Schon nach einem Bier is’ sie hackedicht, und dann fängt sie zu heulen an, weil sie nich’ sprechen kann.«
Zuerst betrübte Collier ihr grausames Los, doch dann erinnerte ihn sein Verstand an die verstohlenen Blicke, die er auf sie geworfen hatte. »Oh, ich verstehe ... Also, wie wäre es mit sieben Uhr?«
»Sieben Uhr gilt, Mr. Collier.« Jiff klatschte in die Hände. »Mann! Das is’ ’s erste Mal in mein’ Leben, dass ich mit ’m echten Promi ausgeh!«
Collier seufzte.
»Falls Sie während Ihrem Aufenthalt was brauchen«, sagte Jiff und zeigte auf sich, »geben Sie mir einfach Bescheid.«
»Danke, Jiff.« Als Collier ihm zehn Dollar Trinkgeld zusteckte, leuchten die Augen des Mannes. »Wir sehen uns um sieben.«
Pfeifend ging Jiff. Collier schloss hinter ihm die Tür ab.
Er stellte seinen Laptop auf, ertappte sich jedoch dabei, über das plötzliche und unvermutete sexuelle Verlangen nachzudenken, das ihn erfüllte, seit er eingetroffen war. Meine Güte, was stimmt bloß nicht mit mir? Seit ich hier bin, fühle ich mich so geil wie seit Jahren nicht mehr. Es lag mindestens sechs Monate zurück, seit er zuletzt mit Evelyn geschlafen hatte, und wahrscheinlich genauso lang, seit er zuletzt eine ausgeprägte sexuelle Fantasie gehabt hatte.
Woher kommt plötzlich all diese Geilheit?, fragte er sich.
Es schien eine gute Frage zu sein. Nun, da er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass sein Geschlechtstrieb seit der zweiten Staffel seiner Sendung ziemlich tot gewesen war. Seine gescheiterte Ehe hatte nur zusätzlich dazu beigetragen. Stress bei der Arbeit, Stress zu Hause, Stress allein dadurch, in diesem kalifornischen Dreckloch zu leben, vermutete er. Ich denke überhaupt nicht mehr an Sex ... bis heute jedenfalls. Dann komme ich mit einem Abgabetermin im Nacken hier an, und plötzlich überkommt mich die Lust eines Siebzehnjährigen. Mich machen sogar eine alte Frau mit dem Gesicht von Jack Palance und ihre zurückgebliebene Tochter, die nicht reden kann, scharf.
So viel zur Selbstoffenbarung.
Er zog das Netzkabel des Laptops aus der Tasche und ließ es versehentlich fallen. Als er sich bückte, um es aufzuheben, bemerkte er etwas ...
Die Spalte unter der Zimmertür.
Jemand steht gerade direkt vor meiner Tür. Er konnte es sehen.
Nackte Zehen waren durch die Spalte zu erkennen. Muss Lottie sein, mutmaßte er. Sie war doch barfuß gelaufen, oder? Collier ließ sich auf die Hände und Knie hinab und kroch näher zur Tür. Die Zehen waren noch da, die Person hatte sich nicht bewegt. Ihm kam der Gedanke, einfach aufzustehen und die Tür zu öffnen.
Aber das tat er nicht.
Das Schlüsselloch ...
Das Schloss, der Knauf und das Schlüsselloch waren vermutlich noch original: allesamt alte, fein gearbeitete Messingteile. Collier hielt den Atem an und das Auge an das Loch.
Das kann doch nicht wahr sein ...
Die Scham einer Frau befand sich direkt auf der anderen Seite des Schlüssellochs, cremeweiß, frisch rasiert – ein wunderschönes intimes Dreieck.
Das war es, was Collier sah, als er durch das Schlüsselloch linste.
Er lehnte sich zurück, blinzelte und seufzte. Auf der anderen Seite dieser Tür steht eine nackte Frau, dachte er resigniert. Aber das war unmöglich, oder?
Muss eine optische Täuschung sein.
Er schaute noch einmal. Die rasierte Vulva war noch da. Nun fiel ihm ein zusätzliches Detail auf: ein Muttermal etwa zwei Zentimeter über der Klitorisvorhaut.
Na schön ... Doch keine optische Täuschung; die Frau stand wirklich vor der Tür. Er nahm sich einen Augenblick Zeit zum Überlegen, wägte seine Möglichkeiten ab, obwohl es eigentlich nur zwei gab. Ich kann das ignorieren, dachte er. Oder ... ich kann die Tür öffnen und nachsehen, wer es ist.
Nur ...
Wer konnte es sein?
Es schien fast so, als wüsste die Frau, dass Collier sie ansehen würde.
Unmöglich.
Er richtete sich auf und öffnete die Tür.
Niemand stand dort. Er sah nur den offenen Vorraum hinter dem Geländer des Flurs. Collier blickte rasch nach links und rechts, doch er entdeckte keine davoneilende Frau, weder nackt noch bekleidet.
Das ist verrückt, schoss ihm durch den Kopf. Das ist ECHT verrückt.
Collier setzte sich auf das Bett und ließ den bisherigen Tag objektiv Revue passieren. Er war nach Tennessee gekommen, um nach einem unbekannten Bier zu suchen, das es wert sein könnte, in sein Buch aufgenommen zu werden. Die biedere Limousine, die er bei der Leihwagenfirma gebucht hatte, war nicht verfügbar gewesen, weshalb er stattdessen einen grotesken limonengrünen VW bekommen hatte. Was eine einstündige Fahrt hätte sein sollen, hatte sich auf vier Stunden ausgeweitet. Anschließend war er bei dieser sonderbaren kleinen Pension eingetroffen, wo eine alte Frau und ihre vermutlich zurückgebliebene Tochter seine sonst so gut wie abgestorbene Libido zu flammendem Leben erweckt hatten. In Summe ergab sich daraus der bizarrste Tag seines Lebens. Und gerade als er gedacht hatte, bizarrer könnte es nicht werden ...
Eine Frau hat ihre rasierte Muschi vor meinem Schlüsselloch zur Schau gestellt ...
Collier rieb sich die Schläfen.
Entweder habe ich es wirklich gesehen, oder ich hatte eine Halluzination.
Das konnte nicht sein.
Ich weiß, dass ich nicht verrückt bin ... und ich habe nie Drogen genommen, also kann es auch kein Flashback gewesen sein.
Wenn es keine Halluzination gewesen war, wer mochte diese diskrete Exhibitionistin mit der geheimnisvollen Scham gewesen sein?
Zuerst hatten ihn die nackten Füße an Lottie denken lassen, doch nun, da er darüber nachdachte, schienen die Hüften zu ausladend und die Rundungen zu üppig für Lottie zu sein. Mrs. Butler? Nein, dachte er. Das konnte nicht sein ...
Die Frau aus Wisconsin? Das wäre eine Möglichkeit. Collier ging das Phänomen der Groupies durch den Kopf – Frauen, die alle Hemmungen verloren, nur weil ein Mann ein Musiker, ein Profisportler oder ... jemand aus dem Fernsehen war. Collier hatte von derlei Dingen gehört, vor allem in Zusammenhang mit den Paradiesvögeln des Senders. Wie diesem Arschloch Savannah Sammy. Frauen schickten ihm per Post ihre Höschen, um Himmels willen. Aber was Collier selbst anging ...
Er war nie einem »TV-Groupie« begegnet und bezweifelte, dass es welche für den »Bierfürsten« gab.
Derart verwirrt, dass er spürte, wie allmählich eine Migräne einsetzte, schüttelte er den Kopf.
Ob es eine Halluzination war oder nicht, irgendetwas ist über mich gekommen. Ich kann mich nicht erinnern, je zuvor so spitz gewesen zu sein. Was ist der Grund dafür?
Aber warum sollte er so negativ denken? Dass sein Geschlechtstrieb hyperaktiv zurückgekehrt war, bedeutete schließlich nicht zwingend, dass etwas mit ihm nicht stimmte, oder? Ein gesundes sexuelles Verlangen war ... gesund. Etwas tauchte in ihm wieder auf: eine heftige Reaktion auf sexuelle Anziehungskraft infolge des genetisch bedingten Drangs, sich zu vermehren ...
Das muss es sein.
Nachdem Collier zu diesem Schluss gekommen war, fühlte er sich deutlich besser. Doch in Wirklichkeit war es keines dieser Dinge, die ihn geiler als einen brünstigen Affen machten.
Es war das Haus.