Kapitel 5

I

»Sie sind herzlich eingeladen, mitzukommen«, sagte Collier zu Mrs. Butler am Schalter, während er hilflos verstohlene Blicke auf ihre Brüste, ihre Hüften, ihr üppiges Becken warf.

»Oh, danke, Mr. Collier, aber es checken heute Abend noch Leute ein. Trotzdem, es ist ein bezauberndes kleines Restaurant, und ich bezweifle, dass es in Kalifornien etwas Vergleichbares gibt.« Ihr Busen waberte ein wenig; rasch erhob sie sich beim Geräusch von Leuten, die das Vorzimmer betraten. »Das müssen meine Gäste aus Philadelphia sein.«

Collier wich beiseite, als ein weiteres Touristenpaar beschwingt an den Schalter trat. Er ertappte sich dabei, zum Ölporträt von Harwood Gast emporzuschauen.

Typischer Plantagenbesitzer aus dem Süden, dachte er. Die strengen Züge waren sehr detailliert gemalt worden – die Augen schienen gezielt auf Collier gerichtet zu sein und drückten Verachtung aus. Was soll an diesem Kerl so böse sein? Mrs. Butlers Äußerungen gingen ihm immer noch durch den Kopf. Bloß ein alter, rassistischer Sklaventreiber aus der Vergangenheit.

Mehrere alte Bücherregale aus Holz säumten das große Gemälde. Zwischen zweien davon bemerkte Collier eine etwa einen Meter breite Nische. Er vermutete, dass dort früher einmal eine Statue gestanden haben mochte, nun jedoch enthielt sie einen alten, furnierten Tisch mit einer sonderbaren Anordnung von kleinen Schubladen und Brieffächern. Auf einem Etikett stand: Originalschreibtisch aus Ahornholz – Savery & Sons, 1779. Als Collier genauer hinsah, bemerkte er ein kunstvolles Geflecht winziger Schnitzereien. An einer Seite der Nische hing ein kleines Ölgemälde, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Seltsam ... Es schien beinah so, als wäre es an dieser Stelle angebracht worden, damit es nicht bemerkt wurde. Ein winziges Schild verriet: Mrs. Penelope Gast. Gasts Frau ... Eine attraktive Dame mit Augen, die lasziv wirkten, schaute von der Leinwand. Sie stand vor einer Baumlandschaft, trug einen Schutenhut, ein wallendes Kleid und Rüschenuntergewand. Der tiefe Ausschnitt offenbarte einen cremefarbenen Busen. Das war also Gasts Version des amerikanischen Traums? Diese Frau und dieses Haus ... Der damalige Typus eines Wirtschaftsmagnaten. Ich schätze, im Grunde genommen sind sie alle nur Arschlöcher. Collier fragte sich, ob sie Kinder gehabt hatten.

Mrs. Butlers nasale Stimme ertönte, als sie von den historischen Wundern des Hauses schwärmte. Der Mann erkundigte sich: »Wäre es möglich, eines der Zimmer im ersten Stock mit Blick auf den Berg zu bekommen? Diese Aussicht morgens zu genießen wäre toll.«

»Oh, tut mir schrecklich leid, Sir«, gab die alte Frau zurück. »Diese Zimmer sind alle besetzt. Aber ich habe ein reizendes Zimmer mit Blick auf den Garten im Westflügel für Sie. Und ein wenig vom Berg kann man dort trotzdem erkennen.«

Das kam Collier sehr sonderbar vor. Das Zimmer neben seinem bot eine Aussicht auf den Berg. Er erinnerte sich, dass Jiff erwähnt hatte, dieses Zimmer würde nicht vermietet. Ich frage mich, weshalb ...

In einer weiteren Vitrine befanden sich noch mehr Relikte. Eines davon stach ihm auf Anhieb ins Auge. Handgemeisselte Steinform für Wollschere. Neben dem flachen Steinstück mit einer Aussparung in Form der Hälfte einer großen Schere lag eine fertige Schere. Diese Schere wurde in der Gast Eisenschmiede angefertigt, die sich auf dem Hinterhof befindet – 1859.

Das war noch richtige Arbeit, dachte er. Collier konnte sich nicht vorstellen, wie schwierig das Leben damals gewesen sein musste. Sogar für das Herstellen von etwas so Schlichtem wie einer Schere waren etliche Schritte notwendig. Erz schmelzen, Schlacke abschöpfen, das geschmolzene Eisen in eine Form gießen, ohne sich teuflisch zu verbrennen oder durch die giftigen Dämpfe einen Hirnschaden davonzutragen. Der Schaukasten enthielt weitere handgemachte Gegenstände aus der Familienschmiede: Nägel, Angeln, Türriegel. Muss verflucht schwierig gewesen sein, dieses Zeug anzufertigen.

Dann hörte er die Frau aus Philadelphia flüstern: »Oh mein Gott, ist das da drüben der Bierfürst?«

Scheiße! Collier war schon wieder erkannt worden. Er tat so, als hätte er es nicht gehört und huschte durch die Vorzimmertür hinaus.

Die Sonne wurde bereits orange und versank gleißend am Horizont. Collier ließ den Blick über den gepflegten Vorhof wandern. Er roch Minze, Moos und Wildblumen. Die stille Schönheit der Umgebung berauschte ihn regelrecht.

Kurz darauf sprang Jiff die Verandastufen herunter. Er trug dieselben Jeans und Arbeitsstiefel, hatte dazu jedoch ein schwarzes durchgeknöpftes Hemd angezogen. Herausgeputzt, dachte Collier. Nach Hinterwäldlerart.

»Bereit, wenn Sie’s sin’, Mr. Collier!«

»Alles klar, Jiff. Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zuerst noch den kleinen Schmelzofen hinten zu zeigen?«

»Mit Vergnügen, Sir. Wir haben hier jede Menge interessanter Dinge.«

»Ja, das stimmt.« Collier folgte ihm seitlich um das Hauptgebäude, wo ein Pfad die zusätzlichen Flügel umrundete. »Ich lebe wohl schon zu lange in Los Angeles. An einen Ort wie diesen zu kommen, öffnet einem wirklich die Augen. Heutzutage betrachten wir so vieles als selbstverständlich. Zum Beispiel die Gegenstände in den Vitrinen im Empfangsbereich – handgefertigte Stiefel, Werkzeuge und Nägel, die jemand auf einem Amboss gehämmert hat, Läufer und Kleidung, die von Hand genäht statt maschinell fabriziert wurden. Das erinnert mich daran, dass dieses Land mit harter Arbeit aufgebaut wurde.«

»Mit sehr harter Arbeit, Sir«, pflichtete Jiff ihm bei. »Hat man damals ein Haus bauen wollen, musst’ man Lehm ausgraben und die Ziegel backen, die Schindeln aus selbst gefällten Bäumen schneiden, ’s Glas für die Fenster blasen und so weiter. Und während man all diese schweren Arbeiten gemacht hat, musst’ man ja auch essen. Also hat man’s Land bestellt, um den Eigenbedarf anzubauen, musst’ ’ne Quelle oder ’n Fluss finden, um die Saat zu bewässern, und wollt’ man Fleisch dazu, musst’ man ’s Schwein selber züchten, schlachten und noch mehr Holz hacken, um’s zu kochen. Und wenn man schon beim Holzhacken war, hat man sich besser ’n Baum mit der richtigen Rinde zum Gerben der Haut ausgesucht, damit man sich Stiefel machen konnte. Aber wenn man das tun wollt’, musst’ man auch Kassiterit zum Schmelzen finden, um ’n Eimer fürs Gerben herstellen zu können. So war’s Leben damals. Heut gehen wir nur noch ins Lebensmittelgeschäft und in ’nen Baumarkt.«

Collier kicherte über den Vergleich. Der Spaziergang bescherte ihm einen besseren Eindruck von den zusätzlichen vier Trakten des Hauses. »Warum ist der Stil dieser Gebäudeflügel so anders als der des Haupthauses? Das sieht irgendwie ...«

»Sieht irgendwie nich’ richtig aus.« Jiff verstand, worauf er hinauswollte. »Diese Trakte waren ganz aus Holz, aber’s Haupthaus hat man aufwendig aus Ziegeln gebaut. Das liegt da dran, dass der Süden nach ’m Krieg lange bettelarm war.«

»Dem Angriffskrieg des Nordens ...«

»Ja, Sir. Als Harwood Gast in die Stadt zog, hatte er ’ne Million in Gold, und jeder hat gedacht, er hätt’ alles für seine Eisenbahn ausgegeben. Die wurde 1862 fertig, etwa ’n Jahr nach Kriegsbeginn. Dann kam er nach Haus ... und wissen Sie, was er gemacht hat?«

»Was?«

»Sich umgebracht. Kurz, nachdem der letzte Nagel am End’ von der Bahnstrecke Ost-Tennessee – Georgia in den Boden gehämmert worden is’, weit hinter der Grenze an einem Ort, der früher Maxon hieß.«

»Warum hat er sich umgebracht?«

»Ach, wer weiß?« Der jüngere Mann schien der Frage auszuweichen. »Die Leute haben gedacht, er wär’ durch ’n Bau der Strecke bankrottgegangen, aber wissen Sie was? Wie sich rausgestellt hat, hatte er immer noch ’ne Million in Gold auf seinen Konten. Als hätt’ er nie auch nur ’n Cent ausgegeben.«

»Merkwürdig«, meinte Collier, der sich bemühte, die Informationen zu ordnen. »Also war es kein Bankrott, der ihn zum Selbstmord getrieben hat. Ich frage mich, was denn dann?«

Jiff äußerte sich nach wie vor nicht dazu. »Nach dem Ende der Kämpfe haben Lincolns Jungs sein gesamtes Gold beschlagnahmt, aber ’s Haus wurde verkauft. Worauf ich eigentlich raus will, is’, dass sich die neuen Besitzer – drunter Verwandte meiner Ma – für die Zubauten nur billigeres Baumaterial leisten konnten.«

Das ergab Sinn. Collier wusste, dass es dem Süden in etwa so wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ergangen war; man hatte die Menschen eine Zeit lang Armut leiden lassen, als Strafe für die versuchte Abspaltung. Allerdings wich Jiff nach wie vor dem Punkt aus, der ihn mehr interessierte. Das ist ... eigenartig.

»Wir wohnen in dem Trakt da. Zwei der anderen haben weitere Gästezimmer, und der vierte – also, den vierten müssen Sie unbedingt sehen, wenn Sie sich für all das Zeug interessieren, Mr. Collier. Der is’ rappelvoll mit noch mehr Kram aus den alten Tagen.«

»Das würde ich liebend gern sehen.«

»Und vergessen Sie nicht ’s Badezimmer – das is’ die Tür gleich rechts neben Ihrem Zimmer. Das war ’ne Möglichkeit für reiche Leut’, um zu zeigen, wie vermögend sie waren – ’n Badezimmer mit Toilette im ersten Stock gleich in der Nähe vom Schlafzimmer. Einfache Leut’ hatten nur Plumpsklos und ’ne Waschhütte im Freien.«

Ich schätze, ich betrachte sogar das als selbstverständlich, dachte Collier. Eine Schüssel zum Reinpinkeln.

Sie passierten den zweiten Trakt. Durch ein Fenster konnte Collier die neuesten Gäste erkennen, die gerade einzogen. Lottie trug ihr Gepäck. Dann folgten sie einem Weg durch den Garten. Eine leichte Brise wiegte unzählige bunte Blüten hin und her.

Als sie die kleine Lichtung erreichten, stellte Collier fest, dass der alte Schmelzofen größer war, als er von seinem Zimmer aus wirkte. Flache, mit Mörtel gesicherte Steine bildeten das mächtige, konische Gebilde, das mehrere Öffnungen in verschiedenen Höhen aufwies.

»Das ist unglaublich«, sagte Collier.

»Ja, Sir, isses.« Jiff zeigte auf etwas. »Das da is’ die Holzkohlerutsche, und dort haben wir die Erzschütte. Das kleine Ding is’ der Abfluss, und natürlich gibt’s noch den Luftkanal«, sagte er und deutete auf die Leitung, die von einem Blasebalg der Größe eines Kühlschranks ausging. »Der Schmied hat an der Kette da gezogen, um den Balg zu betätigen« – er führte es vor, und sie hörten das Zischen von Luft – »und die Luft is’ in die Glut geschossen. Da drin hat’s bis zu 1.200 Grad Celsius gehabt. Damit wurde Eisenerz – oder so ziemlich alles andere – zu ’ner rot glühenden Pfütze.«

Collier bemerkte weitere Zubehörteile: ein Kühlfass, ein Werkzeuggestell, ein Schleifrad. In den Amboss, den er zuvor gesehen hatte, war ein Datum graviert: 1856. Collier fühlte sich wie benommen von einem nostalgischen Anflug. Dies waren keine Requisiten, sondern echte Relikte einer längst vergangenen Lebensweise. Menschen aus Fleisch und Blut haben dieses Ding gebaut, dachte er. Irgendjemand hat 1856 diesen Amboss mit seinen eigenen Händen angefertigt.

»Hat ihn schon mal jemand verwendet? In letzter Zeit, meine ich.«

Jiff kratzte mit einem Taschenmesser an einer Mörtelfuge. Das Material war immer noch hart. »Zum Eisenschmieden? Ne. Aber es gibt kein’ Grund, warum er nicht funktionieren sollt’. Man schmilzt ’s Erz durch ’ne Holzkohlewand, während man den Blasebalg betätigt. Wir nehmen den Ofen nur noch zum Kochen an Feiertagswochenenden her. Manchmal hängen wir ’n paar Schweinehälften rein und räuchern sie vierundzwanzig Stunden lang mit Hickory. Aber damals haben die Leut’ sogar die Holzkohle selbst herstellen müssen; man hat zwanzig, dreißig Klafter Holz übereinandergestapelt, die Mitte angezündet und das Ganze mit Grassoden bedeckt. Wissen Sie, wenn sich der Kohlenstoff von der Holzkohle mit ’m Roheisen vermischt, wird da draus Stahl. Das wusst’ man damals gar nich’, trotzdem hat man genau das gemacht. Und alles von Hand.«

Ziemlich kluger Kerl für ein Landei, dachte Collier. »Das sind ja ziemlich genaue Auskünfte. Woher wissen Sie so viel darüber?«

»Ich bin mit all dem Krempel um mich rum aufgewachsen, also hab ich nachgefragt. Die meisten Leut’ hier in der Gegend haben Ahnen bis zurück in die Zeit vorm Krieg. Man erfährt ’ne Menge, wenn man die richtigen Leut’ fragt.«

»Da ist was Wahres dran.« Collier war beeindruckt. Hinter dem Holzkohleschuppen erblickte er einen Stapel von Steinblöcken. Er ergriff einen Block. »Oh, das ist noch so eine Gussform, wie Ihre Mutter sie ausgestellt hat. Eine Scherenform.«

»Ja«, bestätigte Jiff. »Irgend ’n armer Teufel hat wahrscheinlich ’n ganzen Tag gebraucht, um eins von diesen Dingern zu meißeln.«

Doch Collier sah einen hohen Stapel davon. »Das ist ein mächtiger Haufen von Formen«, meinte er. »Man braucht zwei für jede Schere, oder? Das müssen genug für fünfzehn sein.«

»Ja, das is’ merkwürdig. Natürlich waren Scheren wichtige Werkzeuge, aber ich weiß nich’, warum der Schmied so viele Gussformen gemacht hat.«

»Fast wie eine Fertigungslinie. Ich wette, er hat mit diesen Blöcken Hunderte Scheren hergestellt.« Collier dachte darüber nach. »Ich frage mich, wieso.«

»Keine Ahnung, Mr. Collier. Komisch is’ nur, dass aufm Grundstück nur ’ne einzige Schere gefunden wurde – die in der Vitrine.«

Es schien eine unbedeutende Frage zu sein, dennoch ließ sie Collier nicht los. Wozu um alles in der Welt hat man all diese Scheren gebraucht?

»Ein, äh, nettes Auto«, meinte Jiff, als er in den Beetle stieg. »Ausländisches Fabrikat?«

Kichernd rollte Collier vom Hof. »Hat man mir beim Mietwagenbüro am Flughafen angedreht. Ich weiß, dass es lächerlich aussieht. Es ist ein Frauenauto.«

Jiff zog eine Augenbraue hoch.

Der Horizont verfinsterte sich, als sie den Hügel hinabfuhren, die Luft wurde kühler. Wieder sah Collier das Schild – Penelope Street –, und ihm fiel etwas ein. »Ist diese Straße nach Penelope Gast benannt?«

»Ja, Sir. Bestimmt haben Sie ihr Porträt im Haus gesehen. Sie war Harwoods durchgeknallte Frau.«

»Wieso sagen Sie ›durchgeknallt‹?«

Jiff seufzte zurückhaltend. »Nur weiteres übles Gerede. Wissen Sie, Mr. Collier, ich lieb’ diese Stadt und respektier’ sie. Deshalb lass’ ich’s bleiben, miese Gerüchte zu verbreiten.«

»Ach was, Jiff. Jeder Ort hat seine Folklore und ihre berüchtigten Personen – da ist doch nichts dabei. Ich habe den Eindruck, dass einige Aspekte von Harwood Gast ziemlich interessant sind. Für Sie mag das nur hundertfünfzig Jahre alter Klatsch sein, aber für mich ist es faszinierend. Lassen Sie mich raten: Sie hat sich zusammen mit Gast umgebracht, und jetzt spuken ihre Geister nachts durch das Haus.«

»Ne, ne. Es is’ nur so, dass sie nich’ unbedingt die anständigste Frau war, falls Sie verstehen, was ich mein’. Sie war mehrfach untreu.«

»Sexuell freizügige Frauen gab und gibt es in jeder Stadt, Jiff.«

»Ja, klar, aber sie war echt ’n mieses Stück, wenn man den Geschichten glaubt. Davon gibt’s jede Menge, und keine davon is’ gut. Aber sie zu erzählen, gibt mir’s Gefühl, ich würd’ schlecht über meine Heimat reden. Wir haben immer versucht, solches Zeug runterzuspielen. Es könnt’ die Stadt in Verruf bringen und dem Betrieb von meiner Ma schaden.«

Collier grinste und stachelte ihn an. »Kommen Sie, Jiff, lassen Sie mich nicht so zappeln.«

Jiff schüttelte den Kopf. »Na schön. Penelope Gast hat sich nich’ selbst umgebracht. Es war ihr Mann, der sie ermordet hat.«

»Wieso? Hatte er den Verstand verloren?«

»Ne, Sir, er hat sie getötet, weil er rausgefunden hat, dass sie mit ’m Kind von einem andern schwanger war. Sie müssen wissen, als sich die Bauarbeiten an der Eisenbahnstrecke der Grenze zu Georgia genähert haben, da war Gast oft mehrere Wochen am Stück nich’ zu Haus’. Und gegen End’ sogar mehrere Monate.«

»Je mehr Gleise verlegt wurden, desto weiter war er von seinem Haus entfernt«, vermutete Collier.

»Genau. Zum Heimfahren musst’ er ein’n von seinen eigenen Versorgungszüg’n nehmen, die für Nachschub an Schienen und Schwellen gesorgt haben. Nur gab’s davon wenige. Er hat warten müssen.«

»Und während er weg war ...«

Jiff nickte missmutig. »Sie hat sich mit andren Kerle eingelassen und is’ so dreimal schwanger geworden. Und dreimal hat sie auch abtreiben lassen. Wissen Sie, Abtreibungen hat’s schon damals gegeben. Ich denk’, Gast hat’s von Anfang an gewusst, aber abgewartet, bis die Eisenbahn fertig war, bevor er sie umgebracht hat.«

»Mit anderen Worten, er wollte die Fertigstellung seines Projekts miterleben.«

»Die Bahnstrecke war sehr wichtig für ihn. Er hat den Leuten eingeredet, dass er glaubt, bis 1863 würd’ die Konföderiertenarmee Washington, D. C., unter Kontrolle haben, und dann würd’ seine Eisenbahn entscheidend dafür sein, Vorräte weiter nach Norden zu transportieren.«

Was für eine merkwürdige Art der Formulierung, dachte Collier. »Wenn Sie sagen, er ›redete den Leuten ein‹, das zu glauben ... meinen Sie, dass es bloß ein Vorwand war und er in Wirklichkeit einen anderen Grund hatte, die gewaltigen Kosten und Mühen für den Bau der Strecke auf sich zu nehmen?«

»Oh, da müssen Sie abbiegen, Mr. Collier.« Jiff beugte sich vor und deutete auf die Kreuzung. »Cusher’s ist gleich dort am Eck. Ja, Sir, Sie werden’s Bier dort lieben

»Ja, aber denken Sie, Gast könnte ...«

»Die Leute schwärmen von diesem Bier. Und bei Cusher’s gibt’s mehrere Sorten. Ein Bierexperte wie Sie wird davon hellauf begeistert sein.«

Collier lächelte. Er weicht dem Thema schon wieder aus. Das ist echt komisch. Er hielt es für das Beste, vorläufig nicht weiter nachzuhaken, obwohl er kaum neugieriger hätte sein können.

Da die Sonne mittlerweile hinter dem Berg versunken war, schwand das Licht zusehends. Straßenlaternen mit Kutschenlampen gingen an, Schaufenster präsentierten sich hell erleuchtet. Das Ortszentrum erinnerte Collier an eine Puppenhausgemeinde: makellose Straßen und Läden, frisch gestrichen wirkende Häusermauern, Blumenschmuck wie aus dem Bilderbuch. Sogar die Menschen wirkten tadellos, vorwiegend verheiratete Paare, die schaufensterbummelnd durch die idyllischen Straßen schlenderten. Kein Gesindel, stellte Collier erleichtert fest. Normalerweise sah er psychotische Penner, die den Rodeo Drive verschandelten, oder Mitglieder der Jugendbanden Crips und Bloods am Redondo.

»Und da isses.«

Collier erblickte das in Schreibschrift verfasste Schild – Cusher’s – auf einem Vordach aus Holzschindeln an der Ecke. Bürgerkriegsküche und hausgebrautes Bier. Das Gebäude selbst verfügte über drei Geschosse, ideal für eine Brauerei, da Bier unter Nutzung der Schwerkraft von höheren Stockwerken nach unten verarbeitet wurde. Durch große Fenster zeichnete sich ein voller Speisesaal ab.

»Wow, nicht, was ich gedacht hätte«, gestand Collier. »Ich habe mir ein kleines Lokal vorgestellt, mehr so etwas wie eine Kneipe.«

»Oh nein, Sir«, erwiderte Jiff. »Drinnen is’ alles sehr schick, und na ja, wenn Sie’s genau wissen wollen, die haben auch Großstadtpreise.«

»Ist für Touristen durchaus sinnvoll.«

Weitere Passanten warfen neugierige Blicke auf das Auto, als sie parkten. Collier schüttelte nur den Kopf. Als der Abend hereinbrach, schien die Stadt aufzublühen – in kräftigem gelbem Licht und mit lächelnden Spaziergängern.

Kaum war er aus dem Auto gestiegen, musste er unwillkürlich grinsen. Man merkt, dass hier eine Brauerei ist. Er nahm das vertraute Aroma in sich auf: Gerstenmalzmaische, die erhitzt wurde.

Drinnen trugen die Kellner Konföderiertenuniformen, die Kellnerinnen weiße Schutenhüte, wallende Röcke und gerüschte, tief ausgeschnittene Oberteile. Am Empfangspult wartete bereits eine Menschenschlange. Jiff raunte: »Wir brauchen nich’ auf ’nen Tisch zu warten – nicht, wenn ich sag’, dass ’n Fernseh-Prominenter hier is’.«

Sofort packte Collier ihn am Arm. »Nein, bitte nicht, Jiff. Ich möchte lieber an der Bar sitzen.«

»Alles klar.«

Wahnsinn, dachte Collier. Ziegelstein, Messing und dunkles Furnierholz umgaben sie. Insignien aus dem Bürgerkrieg schmückten die Wände. Eine Touristenfalle, ja, und trotzdem gefiel Collier das Lokal, weil es sich vom Pomp in Los Angeles unterschied und liebevoll gestaltet war. »Tolle Bar«, meinte er, begeistert von der langen Mahagonitheke und der traditionellen Messingstange. In das kristallklare Harz der Thekenplatte waren Patronen, Knöpfe und Münzen aus der Bürgerkriegszeit eingelassen. Gleich darauf begrüßte ihn ein vertrauter – und erfreulicher – Anblick. Hinter der Bar glänzten Kessel mit Jungbier – der letzte Schritt des Gärungsprozesses vor dem Verbrauch – in goldenem Licht, fassartige Gefäße der Größe von Kompaktwagen. Eine Kreidetafel pries die Spezialitäten an: General Lee Rubin, Stonewall Jackson Maibock, Pickett’s Pils und Cusher’s Bürgerkriegsbier. Collier eröffnete mit seiner Kreditkarte die Bierdeckelrunde und bestellte zwei Lagerbiere bei einer Barkellnerin, die unscheinbar gewesen wäre, hätte sie nicht eine Oberweite wie Dolly Parton gehabt.

»Ich schätz’, in den großen Dingern da wird’s Bier gebraut.« Jiff deutete auf die Messinggefäße.

»Die heißen Jungbierkessel«, erklärte Collier. »Das eigentliche Brauen erfolgt in größeren Gefäßen, sogenannten Sudpfannen, in den oberen Stockwerken, aber den Anfang machen Maischbottiche. Insgesamt durchläuft die Bierherstellung etwa zehn Schritte, und Biere wie dieses – Lager – brauchen zum Fermentieren mindestens zwei Monate.«

Jiff interessierte sich eindeutig nicht im Geringsten dafür; er sah sich nur nach bekannten Gesichtern um.

Der junge Mann schien unter den Gästen nach jemandem Ausschau zu halten, und nach einer Weile begann Collier selbst, sich umzusehen, damit ihm nichts entging. Bestimmt sichtet er Frauen ... Kurz darauf schlenderte eine attraktive Kundin Mitte zwanzig vorbei; enge, ausgewaschene Jeans und ein Schlauchtop, das beeindruckende Brüste erkennen ließ. Was für eine heiße Braut ... Collier verrenkte sich den Hals, als er beobachtete, wie sie sich den Weg zwischen den Tischen hindurchbahnte, doch dann bemerkte er, dass Jiff keinen einzigen Blick für sie übrig hatte.

Bevor sich sein neu erwachter Sexismus auf andere weibliche Gäste richten konnte, wurden zwei Pils vor ihn gestellt. Als ihm die knallgelbe Farbe auffiel, erwartete er auf Anhieb die Nachahmung eines Samuel-Adams-Biers, aber als er das Glas anhob und daran roch ...

»Oh Mann. Herrliches Bukett«, sagte er.

Jiff schaute verwirrt drein. »Wo?«

Collier seufzte. »Jiff, so bezeichnen Bierkenner das Aroma eines Biers. Ein volles, aber dichtes Aroma wie dieses hier bedeutet, dass vom Brauer gutes Wasser mit wenig Mineralien benutzt wurde. Außerdem ist es ein Zeichen dafür, dass ausreichend gefiltert wurde und keine Verfälschungen durch Pasteurisierung vorhanden sind.«

»Aha.«

Collier betrachtete erneut die Farbe des Biers, als wäre das Glas eine Kristallkugel, dann probierte er den ersten Schluck und behielt ihn im Mund.

Das Getreide kam sofort zur Geltung. Die Adstringenz des – zweifellos sechsrippigen – Hopfens legte sich nach dem ersten Eindruck, den Experten als Mundgefühl bezeichneten. Nach dem ersten Schluck erfreute sich Colliers Gaumen an dem komplexen, nahezu perfekten Abgang. »Das ist herausragend«, befand er.

Jiff hatte sein Glas bereits halb geleert. »Ja, guter Stoff.«

Guter Stoff. Dieser Bursche würde den Unterschied zwischen Schlitz und Schutzenberger Jubilator nicht erkennen. Aber was erwartete er? Auch nach zwei weiteren Schlucken behielt das Bier seinen gesamten Charakter bei. »Bestellen wir uns doch etwas zu essen, Jiff. Nehmen Sie, was immer Sie möchten. Ich esse nur einen Burger.« Doch im Augenblick interessierte ihn kaum etwas weniger als essen. Weitere Schlucke senkten den Schaum an der Seite des Glases tief ab. Die letzten zwei Zentimeter ließ Collier einige Minuten stehen, um zu beobachten, welche Eigenschaften sich zeigten oder verschwanden, wenn die Temperatur des Biers anstieg.

»Schmeckt Ihnen also, was?«

»Und ob, Jiff, und ob.« Collier saß ruhig und selig da, ehrfürchtig wie jeder anspruchsvolle Biertrinker, der auf eine Überraschung gestoßen war. »Das könnte eines der besten amerikanischen Lagerbiere sein, die ich je gekostet habe.«

»Haben Sie nich’ gesagt, Sie hätten von wem anderem von Cusher’s gehört?«

»Ja, stimmt. Ein paar Kollegen hatten es probiert – nur konnten sie sich nicht an den Namen des Ortes erinnern. Also habe ich im Netz recherchiert, um die Stadt zu finden.« Collier holte einen zusammengefalteten Ausdruck hervor. »Vielleicht könnten Sie mir bei etwas helfen.«

»Jederzeit, Mr. Collier. Sagen Sie, könn’ wir noch zwei bestellen?«

»Oh ja, sicher.« Collier öffnete das Blatt Papier. »Wie ich schon sagte, ich habe im Netz recherchiert ...«

Jiffs Miene zog sich zusammen. »Im Netz? Was für ’n Netz meinen Sie? Ich hab gedacht, Sie beschäftigen sich mit Bier.«

Wie sollte Collier darauf reagieren? »Nun ja, Jiff, ich meine das Internet ...«

»Ach so, dieses Computerzeugs. Datenautobahn und so«, erwiderte Jiff.

»Genau.« Collier wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Der Ausdruck stammte aus dem Lokalführerabschnitt einer unbekannten Tourismus-Website für den Süden. Der von ihm gekennzeichnete Absatz lautete:

... einige der umfassendsten Sammlungen von authentischen Bürgerkriegsrelikten im Süden, ganz zu schweigen von Cusher’s, dem einzigen Restaurant im Süden, das echte Bürgerkriegsküche bietet und auf Grundlage von echten, ins Jahr 1860 zurückreichenden Rezepturen diverse Biersorten braut.

Die Adresse des Lokals stand unten auf der Seite, ebenso der Name des Verfassers des Artikels: J. G. Sute, Autor von fünf Büchern und Experte für Regionalgeschichte.

»Sehen Sie, hier.« Collier deutete auf den unteren Rand. »Dieser Mann, J. G. Sute: Hier steht, dass er Historiker ist. Haben Sie schon mal von ihm gehört?«

Aus unerfindlichem Grund erstarrte Jiff. Dann blinzelte er und antwortete: »Oh, klar. Wir nennen ihn den alten J. G. Er is’ ’n Einheimischer.«

»Klingt, als sei er ein erfolgreicher Autor.«

Erneut ein merkwürdiges Zögern. »Sicher, Mr. Collier. Er hat ’n paar Bücher geschrieben.«

»Zufällig über Brauereien aus der Gegend?«

Jiff wirkte immer noch neben der Spur, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ne, Sir, nich’, dass ich wüsst’. Er schreibt Geschichtsbücher, hauptsächlich über diese Gegend.«

»Bücher über Gast?«

»Ja, genau, und darüber, wie die Stadt in den Krieg verwickelt worden is’. Außerdem Lokalgeschichte und so ’n Zeug.«

Verdammt. Collier hatte auf einen Kenner der regionalen Gastronomie gehofft, der ihm Tipps für ähnliche Brauereien geben könnte. »Ich würde wirklich gern mit ihm reden, aber er steht nicht im Telefonbuch. Wo kann ich ihn finden?«

Was ist bloß plötzlich mit dem Burschen los?, fragte sich Collier, nachdem er die Frage gestellt hatte. Bildete er sich das ein, oder war es Jiff unangenehm, über diesen Sute zu sprechen?

»Na ja, normalerweise isst er täglich hier zu Mittag, und manchmal treibt er sich abends in der Bar unten am Eck rum.« Jiff wischte sich die Stirn mit einer Serviette ab. »Äh, und er verbringt untertags viel Zeit im Buchladen, wo er seine Bücher anpreist. Den Besitzer stört’s nich’, weil J. G. ’n redseliger Kerl is’ und die Touristen dazu bringt, Zeug zu kaufen.«

Collier musste einfach fragen. »Jiff, es scheint sie zu beunruhigen, dass ich mich nach diesem Mann erkundigt habe.«

Sein jüngeres Gegenüber seufzte eindeutig unbehaglich. »Ach ne, es is’ nur ...«

»Ist er ein Klatschmaul? Wollen Sie nicht, dass er schlecht über den Ort redet?«

»Ne, ne ...«

»Oder wollen Sie vielleicht nicht schlecht über ihn reden? Ist er vielleicht so etwas wie der Dorftrottel? Ein alter Stammtischhocker, der nur Blödsinn schwafelt?«

Wenigstens lächelte Jiff nun. »Er is’ zwar ’n recht netter Kerl, aber ja, so ziemlich alles, was Sie grad gesagt haben, trifft auf ihn zu. Noch nich’ so alt – Ende fuffzig, Anfang sechzig, schätz’ ich. Fährt in seinem brandneuen Cadillac rum und verzapft Blödsinn. Aber schöne Karre. Einer dieser schicken SUV. Enchilada heißt ’s Modell.«

Enchil... Oh, der Bauerntrampel meint Escalade. »Also ist er mit seinen Büchern erfolgreich. Für ein brandneues Auto dieses Modells blättert man locker fünfzigtausend hin.«

Jiff zuckte mit den Schultern und nickte ansatzweise.

»Kennen Sie ihn gut? Sind Sie miteinander befreundet?«

Jiff warf Collier einen Blick zu, der beinah verängstigt wirkte. »Äh, ne. Also, ich mein’ klar, ich kenn’ ihn, aber ...« Er schluckte. »Aber nur weil ich Gelegenheitsarbeiten für ihn mach’, Handwerkerkram. Ich arbeit’ viel nebenher, stutz’ Hecken, reparier’ Türen und Fenster und so.«

Allerdings klang es wie ein Vorwand. Wahrscheinlich schuldet Jiff dem Typen Geld und will nicht, dass ich mit ihm rede und es herausfinde. Collier ließ auch dieses merkwürdig heikle Thema schließlich fallen, indem er sagte: »Ich werde versuchen, ihn im Buchladen zu finden. Ich will mich bei ihm nur über Biere aus der Umgebung erkundigen.«

Dann zuckte Collier zusammen, als die Bardame ihm beim Servieren des Burgers ihren tiefen Ausschnitt präsentierte. Muss mich denn wirklich jede Frau aufgeilen, der ich begegne?, schalt er sich, bevor er mühsam seinen Blick von ihr löste.

Der Burger schmeckte gut, doch er konnte nicht aufhören, von dem Bier zu schwärmen. Als er sein zweites Glas geleert hatte, sah Jiff ihn verlegen an. »Wär’s in Ordnung, wenn ich ...«

»Jiff, bestellen Sie, so viel Sie wollen. Ich habe Ihnen ja gesagt, heute Abend sind Sie eingeladen.«

»Danke, Mr. Collier.«

Collier versuchte, den jüngeren Mann aufzumuntern. »Und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich hierhergebracht haben.« Collier zeigte auf sein Glas. »Ich bin sicher, das ist genau das Bier, das ich brauche, um mein Buch fertigzustellen und den Abgabetermin einzuhalten.«

Als allmählich Trunkenheit einsetzte, wurde Jiff wieder lockerer. Colliers Regel bestand normalerweise darin, nie mehr als drei Bier pro Tag zu trinken, damit er mit klarem Kopf über seine Eindrücke schreiben konnte. Als er jedoch das dritte Glas geleert hatte, bestellte er ein weiteres und dachte sich: Ach, was soll’s, immerhin bin ich im Urlaub.

»Vorsicht, Mr. Collier«, warnte ihn Jiff. »Dieses Gebräu is’ tückisch.«

Und das willst DU mir erklären? »Fünf Prozent Alkohol, würde ich schätzen.«

»Fünf Komma drei«, meldete sich eine forsche, aber weibliche Stimme zu Wort.

Es war nicht die Barbedienung, sondern eine Frau, die Collier für die Köchin hielt, weil sie eine schlichte Ganzkörperschürze trug.

»Spezifisches Gewicht oder Volumen?«, hakte Collier pedantisch nach.

»Volumen«, antwortete sie.

»Wow, das ist stark. Dabei schmeckt es gar nicht so.«

»Das liegt am sechsrippigen böhmischen Hopfen, der Anfang der 1840er von tschechischen Einwanderern hier eingeführt wurde.«

Die genaue Auskunft durchdrang Colliers zunehmenden Schwips. Die versteht was von Bier. Dann betrachtete er sie eingehender. Pechschwarzes Haar reichte ihr ein wenig über die Schultern. Sie wirkte zierlich, doch etwas in ihren Augen verriet ihm ausgeprägtes Selbstvertrauen. Colliers Sextrieb ließ seinen Blick über ihren Busen wandern, aber die weite Schürze ließ dessen Größe nicht erahnen. Dicht über dem Halsansatz funkelte ein Silberkreuz.

Als er versuchte, etwas zu sagen, ertappte er sie dabei, wie sie ihn anstarrte.

»Ich glaub’s ja nicht. Justin Collier ist in meinem Lokal.«

»Verdammt richtig!«, bestätigte Jiff etwas zu laut. »Ein waschechter Fernsehstar!«

Collier zuckte zusammen.

»He, Jiff.« Die Frau beugte sich näher und flüsterte ihm zu: »Mr. Collier will wahrscheinlich keine große Aufmerksamkeit.«

»Nein, will ich wirklich nicht«, pflichtete Collier ihr erleichtert bei.

»Oh, klar, klar.« Jiff begriff es. »Wie wär’s mit noch ’ner Runde?«

Die Frau schenkte zwei weitere Gläser ein und stellte sie vor den beiden Männern ab. Dann streckte sie Collier eine kleine, etwas raue Hand entgegen. Wahrscheinlich vom Geschirrspülen, vermutete er.

»Ich bin Dominique Cusher, Mr. Collier«, stellte sie sich vor. »Ist eine echte Freude, Sie hier zu haben. Um ehrlich zu sein, ist Ihre Sendung so ziemlich das Einzige, was ich mir im Fernsehen noch anschaue. Ich liebe sie regelrecht.«

»Danke«, gab Collier zurück. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Sie hob einen Finger. »Aber ich kann mich erinnern, dass Sie vor ein paar Folgen für dieses neue Rauchbier aus Oregon geworben haben. Puh! Mögen Sie diese Brühe wirklich? Die strecken ihre Gerste mit Mais, und ich könnte schwören, dass ich Flüssigrauch darin geschmeckt habe.«

Collier lachte über die überraschende, verwegene Bemerkung. Auch er mochte das Produkt nicht wirklich, doch ihn beschäftigte die Frage: Wie um alles in der Welt kommt eine Geschirrabwäscherin dazu, ein kaum bekanntes Rauchbier zu trinken? »Na ja, das Geschäft hat seine eigenen Gesetze. Gelegentlich muss ich ein Bier abnicken, das eigentlich nicht besonders toll ist.«

Mittlerweile lächelte sie. »Oh, ich verstehe. Werbekunden.«

»Volltreffer.«

»Ich muss dasselbe tun. Es bringt mich förmlich um, eine Budweiser Happy Hour zu veranstalten ... aber wenn wir die Aktion machen, bekommen wir einen Rabatt. Keine Ahnung, wie die Leute das Zeug trinken können.«

»Aber die Leute trinken mehr davon als von irgendetwas anderem«, gab Collier zurück. »Geschäft ist Geschäft. Man muss dem Markt das geben, was er will. Aber lassen Sie mich sagen, dass dieses Hausbier hervorragend ist. Würden Sie dem Brauer bitte mein Kompliment ausrichten?«

»Das haben Sie gerade getan«, erwiderte sie.

Collier zeigte sich verdutzt. »Sie ...«

»Genau, Mr. Collier«, bestätigte sie ohne jede Arroganz. »Ich habe einen Braumeisterabschluss von der Brauerschule in Kulmbach, außerdem habe ich Ergänzungskurse bei den Brauereien Budvar in Budejovice und Tucher in Nürnberg absolviert.« Sie deutete zwischen die Jungbierkessel. Dort hingen deutlich sichtbar die Zeugnisse.

»Das ist unglaublich«, sagte Collier. In den fünfzehn Jahren, die er über Bier schrieb, war er noch nie einem Amerikaner begegnet, der einen Abschluss in Kulmbach besaß, und höchstens zwei oder drei Frauen, die überhaupt Braumeisterinnen waren. Plötzlich empfand Collier sie als den Star. Sein Interesse steigerte sich schlagartig. Diese energische kleine Frau mit dem schwarzen Haar und den rauen Händen ist für ein Lagerbier verantwortlich, das zu den besten in Amerika zählen muss ... Dominique Cusher.

Jiff schien durchaus damit zufrieden, sich aus der Unterhaltung herauszuhalten, während er weiter Bier trank und den Rest seines Burgers aß. Dominique stützte sich lächelnd auf die Ellbogen. »Ich vermute, Sie sind auf Urlaub, richtig? Es wäre ziemlich arrogant zu denken, Sie könnten so weit gereist sein, um mein Bürgerkriegsbier zu probieren.«

»Aber das habe ich tatsächlich getan. Ein paar Kollegen haben mir davon erzählt.« Er trank einen weiteren Schluck und konnte keine Spur von Eintönigkeit feststellen. »Es ist wirklich fantastisch.«

»Mr. Collier is’ grad dabei, ’n Buch fertig zu schreiben«, warf Jiff ein.

Collier nickte. »Ich brauche noch einen weiteren Eintrag für mein Projekt ›Die besten amerikanischen Biere‹. Ich will nicht voreilig etwas versprechen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es dieses Bier werden wird.«

»Das wäre eine echte Ehre.« Sie bemühte sich, ihre Aufregung zu überspielen, doch ihre Augen strahlten. »Also noch keine Gaumenermüdung, was?«

»Nein«, räumte Collier ein. »Ich entdecke überhaupt keine Schwachpunkte. Wissen Sie was? Ich lade Sie auf eines ein. Es bringt Glück ...«

»… den Brauer auf ein Glas seines eigenen Biers einzuladen«, beendete sie den Satz für ihn. »Geht auf das Reinheitsgebot zurück.« Dominique schenkte sich ein Glas ein, dann stieß sie mit Collier und Jiff an – wobei Jiff ein wenig von seinem Bier verschüttete.

»Prost«, sagten Dominique und Collier gleichzeitig.

Collier lächelte sie an. »Ich würde ja auch einige Ihrer anderen Spezialitäten probieren, aber damit sollte ich warten. Ich will nicht, dass irgendetwas meinen ursprünglichen Eindruck von dem Bier verwässert. Enthält das Rezept etwas Einzigartiges, das Sie mir verraten können?«

»Ist ein Familienkniff«, erwiderte Dominique. Sie schien ihr Glas mit exakt gemessenen Schlucken zu leeren. »Eine Variation von Saazer Hopfen und einige Temperatureigenheiten beim Stammwürzevorgang. Aber bitte sagen Sie das niemandem. Meine Vorfahren würden aus ihren Gräbern kriechen und mir die Hölle heißmachen.«

»Sie entstammen also einer Familie von Brauern?«

»Ja. Dieses Lokal gibt es in jeweils unterschiedlicher Gestalt schon seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, und den Cushers ist es gelungen, es durchgehend zu erhalten, sogar während des Kriegs. Als die Bundestruppen die Stadt 1864 eroberten, brannten sie jedes einzelne Gebäude nieder – außer diesem Lokal. Nachdem die Nordstaatler das Bier gekostet hatten, wollten sie das Haus nicht mehr abfackeln.«

»Verständlich.«

»Das einzige andere Gebäude, das sie unversehrt gelassen haben, war das Haus der Gasts, das jetzt Mrs. Butlers Pension ist.«

»Ich frage mich, warum sie das nicht auch niedergebrannt haben«, dachte Collier laut nach. »Immerhin wurden sie ja zu richtigen Feuerteufeln, als sie zu gewinnen anfingen.«

»Das kann Jiff Ihnen sagen«, gab Dominique zurück.

Wieder trat jener gequälte Ausdruck in Jiffs Züge. »Ach, hör auf, Dominique. Ich bemüh’ mich echt, Mr. Collier nix von dem grusligen Quatsch zu erzählen.«

»Ich wusste es«, stieß Collier hervor. »Geistergeschichten.«

»Die Geschichte geht so«, begann die Frau. »Als der Befehlshaber der Union eine Truppe seiner Männer zum Haus der Gasts schickte, endete es damit, dass er sie ins Militärgefängnis stecken musste.«

»Ins Militärgefängnis? Wieso?«

»Weil sie sich weigerten, ihre Befehle auszuführen.«

»Sie meinen, Sie weigerten sich, das Haus in Brand zu stecken?«

Dominique nickte mit einem verschmitzten Grinsen. »Sie meinten, sie hätten Angst davor, es zu betreten, und behaupteten, dort gäbe es etwas Böses.«

Wie zu erwarten, runzelte Jiff die Stirn, doch Collier zeigte sich wenig beeindruckt. »Das ist alles?«

»Nein. Es wurde ein zweiter Trupp hinauf zum Haus geschickt, und ...« Der Blick ihrer strahlenden Augen heftete sich auf Jiff. »Erzähl du Mr. Collier, was passiert ist, Jiff.«

»Scheiße«, stieß Jiff leise hervor. »Der zweite Trupp is’ nie zurückgekommen, also is’ der Befehlshaber der Yankees selbst hinauf. Da hat er gesehen, dass sich die ganze Gruppe erhängt gehabt hat.«

»An demselben Baum, an dem sich Harwood Gast anderthalb Jahre davor erhängt hatte. Den Baum gibt es noch immer, Jiff, stimmt’s? Es ist diese riesige Eiche neben dem Brunnen.«

»Ja, aber das is’ alles nur ’n großer Korb voll Pferdemist, Mr. Collier.«

Collier kicherte. »Ich muss schon sagen, Jiff, es ist eine faszinierende Geschichte, aber ... ich glaube kein Wort davon. Sie können sich also entspannen.«

»Na Gott sei Dank ...«

»Regionale Folklore hat mich schon immer interessiert, aber unterm Strich«, verriet Collier und legte eine Pause ein, um dramatische Wirkung zu erzielen, »glaube ich nicht an Geister.«

»Trotzdem hat Jiff recht«, sagte Dominique. »Hier in der Gegend gibt es eine Menge Gespenstergeschichten. Das ist typisch für jede Bürgerkriegsortschaft. Komisch ist nur, dass unsere Geschichten ein bisschen härter als die meisten sind.«

»Härter?«, hakte Collier nach.

Jiff ergriff wieder das Wort. »Also, ich find’s echt interessant, dass es dieses Bier schon seit ’m Krieg gibt. Ich hab nich’ mal gewusst, dass man damals überhaupt schon Bier gekannt hat.«

Collier wusste, dass Jiff lediglich verzweifelt versuchte, das Thema zu wechseln. Aber warum beunruhigen ihn alberne Schauermärchen so sehr? Ein weiteres Klischee des Südens? Waren die Menschen im Süden tatsächlich abergläubischer als woanders? Collier bezweifelte das. Jedenfalls konnte der Besserwisser in ihm nicht widerstehen, etwas auf Jiffs letzte Bemerkung zu erwidern. »Tatsächlich, Jiff, gibt es Bier bereits seit mindestens achttausend Jahren, und bei frühen Zivilisationen war es der wichtigste Kohlehydratlieferant. Bevor die Menschen herausfanden, dass man aus Getreide Brot herstellen kann, machte man Bier daraus.«

Dominique fügte weitere Einzelheiten hinzu. »Frühe Nomaden stellten fest, dass man gemahlenes Getreide wie Gerste, Weizen und Hirse kochen und als Brei essen konnte. Nur wenn sie den versehentlich herumstehen ließen oder wenn der Regen ihre Getreidevorräte durchtränkte, kam es zur Fermentierung, und man hatte Ale. Das hatte denselben Nährwert wie Brot, verdarb aber wegen des Alkoholgehalts nicht so schnell. Und vergessen wir nicht einen weiteren Umstand: Von Brot wird man nicht beschwipst.«

Die nächste halbe Stunde plauderten Collier und Dominique weiter über Bier. Als er sie zu einem weiteren einladen wollte, lehnte sie mit einer Begründung ab, die er als merkwürdig empfand. »Nein, danke. Ich trinke nie mehr als ein Bier am Tag.«

Collier fand das erstaunlich. »Aber Sie sind Brauerin, um Himmels willen.«

»Na ja, eigentlich gerade deshalb«, erwiderte sie völlig ungezwungen. »Ich bin Christin. Ich gestatte mir nicht, betrunken zu werden. Sie wissen schon, der Körper ist ein Tempel des Herrn.«

Jäh kehrte Colliers Blick zu dem Kreuz um ihren Hals zurück. Was für eine seltsame Aussage ... Er rang um eine Erwiderung, die nicht gestelzt klang. »Na ja, Jesus hat doch auch Wein getrunken, oder?«

Weiße Zähne blitzten auf, als sie grinste. »Ja, aber er wurde nicht sturzbetrunken und schwang sich johlend an Kronleuchtern hin und her.«

Collier musste lachen.

»Und etwas in der Art passiert, wenn ich zu viel trinke«, fuhr sie fort. »Deshalb beschränke ich mich auf ein Bier. Ich finde, das Mindeste, was ich tun kann, ist, Gott nicht zu beleidigen, indem ich stockbesoffen werde.«

Collier faszinierte das Zusammenspiel ihres lockeren Umgangstons mit sachlichem religiösem Empfinden. »Meine persönliche Regel lautet, nicht mehr als drei pro Tag zu trinken; es macht keinen Spaß, über Bier zu schreiben, wenn man verkatert ist.« Dann betrachtete er sein Glas und stellte fest, dass er gerade sein viertes geleert hatte. »Aber heute bin ich ein Regelbrecher. Noch eins, bitte. Und für Jiff auch.«

»Vielen Dank, Mr. Collier«, sagte Jiff, der mittlerweile hörbar lallte.

Als Dominique mit zwei weiteren Bieren zurückkehrte, verspürte Collier den Drang, die Unterhaltung fortzusetzen. »Allerdings habe ich es nie als besondere Sünde angesehen, ein paar Bier zu trinken. Ich hoffe zumindest, dass es keine ist.«

»Trunkenheit führt zu Versuchung«, erwiderte Dominique und betastete dabei unbewusst ihr Kreuz.

»Dessen bin ich definitiv schuldig«, gestand Collier.

»Klar, und das gilt für uns alle. Sich bemühen, nüchtern zu bleiben, ist eine Form von Buße ...« Plötzlich runzelte sie die Stirn, als ärgere sie sich über sich selbst. »Aber ich will Sie nicht bekehren. Das ist nur meine persönliche Ansicht. Religiöse Überzeugungen sind etwas Individuelles. Wenn man so lange wie ich in der Gastronomie gearbeitet hat, lernt man schnell ...«

»In einer Bar nie über Religion zu reden«, beendete Collier wissend den Satz für sie.

»Richtig. Ich möchte bloß nicht, dass Sie denken, ich sei eine religiöse Fanatikerin. Anderen vorzuschreiben, wie sie leben sollen, ist die schlimmste Form von Scheinheiligkeit. Ich finde, es ist am besten, seinen Glauben durch Taten zu zeigen, nicht durch leeres Geschwätz und Schuldzuweisungen. Egal, ob man Christ, Jude, Moslem, Buddhist oder sonst etwas ist. Ich versuche, meinen Glauben zu leben, nicht, darüber zu reden.«

Diese Frau ist cool, befand Collier. Außerdem wurde ihm klar, dass er bereits halb betrunken war. Mach dich bloß nicht zum Narren! »Sie wollten mir ja nicht vorschreiben, wie ich leben soll, Sie haben mir lediglich erklärt, warum Sie nur ein Bier pro Tag trinken. Bierkritik ist eine anspruchsvolle Wissenschaft. Trinkt man zu viel, könnte man genauso gut stinknormales Fassbier runterstürzen, weil ...«

»Weil man die feinen Nuancen von gutem Bier nicht herausschmecken kann, wenn man einen Rausch hat.«

Gott, ich stehe echt auf sie, gestand sich Collier ein. Sogar die Art, wie sie redete – halb umgangssprachlich, halb philosophisch –, empfand er als sexy. Sie blickte auf die Uhr, dann entschuldigte sie sich. »Ich muss rauf und nach der Würze sehen. Bitte gehen Sie noch nicht.«

»Fiele mir nicht im Traum ein. Womöglich muss ich mir noch ein sechstes Glas von Ihrem Bier gönnen. Wie Sie sehen, werfe ich meine Regeln ziemlich schnell über den Haufen«, scherzte er, »aber in dem Fall kann ich nur Ihnen die Schuld daran geben.«

»Mir?«

»Weil Sie die Brauerin eines der allerbesten Biere in Amerika sind.«

Sie lächelte über das unverhohlene Kompliment, bevor sie durch eine Tür hinter der Bar verschwand.

Jiff beugte sich besorgt zu ihm. »Scheiße, Mr. Collier, hat sie gesagt, dass sie ’ne Warze hat? Mann, davor sollt’ man sich echt hüten. Die sin’ ansteckend.«

Collier schaffte es leicht, gleichzeitig die Stirn zu runzeln und belustigt zu lächeln. »Nicht Warze, Jiff. Würze. So heißt das Bier, bevor Hefe und Hopfen hinzugefügt werden. Erst nach dem Fermentieren der Lösung und dem Filtern überschüssiger Proteine wird offiziell Bier daraus.«

»Ah ja, stimmt. Jetzt, wo ich drüber nachdenk’, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich das gewusst hab. Und es is’ verdammt gut, dass sie keine Warzen hat. Nich’, dass ich selbst je welche gehabt hab. Jedenfalls würd’ ich sagen, es is’ klar wie Kloßbrühe, dass sie schwerstens für Sie schwärmt.«

Verunsichert sah Collier ihn an. »Glauben ... glauben Sie wirklich, Jiff?«

Jiffs Kopf rollte mit einem großen, breiten Grinsen im Gesicht zurück. »Scheiße, Mr. Collier, ihr Gesicht hat gestrahlt wie ’n Flipperautomat, als Sie mit ihr über Bier geredet haben.« Dann stieß Jiff ein Kichern hervor und stupste Collier mit dem Ellbogen. »Und scheiß drauf, ich kann Ihnen sagen, dass noch wer ziemlich auf Sie steht, aber verraten Sie bloß nich’, dass ich was gesagt hab ...«

»Lottie«, riet Collier.

»Äh, ja, klar, aber ich red’ nich’ von der dummen kleinen Gans. Ich mein’ meine Ma.«

Collier fühlte sich wie benommen. Hat mir der Kerl gerade wirklich gesagt, dass sich seine MUTTER zu mir hingezogen fühlt? »Äh, wirklich?«, sagte er.

»Und ich muss Ihnen sagen, es gibt zwanzig Jahr’ jüngere Typen, die ständig mit meiner Ma ausgehen wollen. Ja, ich weiß, ’s Gesicht is’ ’n wenig zerklüftet, aber die Figur is’ nich’ zu verachten, was?« Und wieder stupste er Collier mit dem Ellbogen in die Seite.

Collier fiel keine wirklich passende Erwiderung ein, deshalb meinte er nur: »Ihre Mutter ist sehr nett und für ihr Alter tatsächlich ausgesprochen attraktiv.«

»Ja, is’ sie, und wollen Sie wissen, woher ich weiß, dass sie auf Sie steht? Hä?«

»Äh ... sicher.«

»Also, es is’ nich’ so, dass sie’s mir gesagt hätt’, aber immer, wenn wer eincheckt, auf den sie ’n Aug’ geworfen hat, gibt sie ihm Zimmer drei. Das Zimmer, das Sie haben.«

Colliers Gehirn arbeitete durch seinen Schwips träge. Was soll denn das bedeuten? Was könnte mein Zimmer damit zu tun haben, dass ... »Oh, Sie meinen, weil es besser ist als die anderen Zimmer?«

»Ne, ne.« Jiff winkte ab. Er stupste Collier erneut mit dem Ellbogen und flüsterte: »Wegen der Aussicht. Ich wett’, das hat Sie Ihnen sogar gesagt, was? Dass Zimmer drei die beste Aussicht hat?«

»Das hat sie wirklich, aber ...« Diese ohnehin schon lächerliche Unterhaltung wurde noch lächerlicher. Ich denke, man kann schon sagen, dass mein Balkon eine schöne Aussicht bietet, aber etwas so Besonderes ist sie auch wieder nicht. »Die Aussicht auf den Berg? Oder den Garten?«

»Ne, ne.« Jiff schnaubte vor Belustigung. Er schlug sich auf die Knie. »Ich will Ihnen die Spannung nich’ nehmen, Mr. Collier.« Er warf einen Blick auf die Uhr hinter der Bar. »Ich schaff jetzt besser mein’ Hintern zurück zum Haus, weil ich hab noch Arbeit zu erledigen.«

»Oh, dann fahre ich Sie zurück.«

Wieder winkte Jiff ab. »Ne, ne, kommt nich’ infrage. Sie bleiben schön hier und plaudern mit Dominique. Is’ bloß ’n Spaziergang von zehn Minuten, und um die Wahrheit zu sagen, ich kann ’n bisschen frische Luft vertragen, weil ich bin voll wie zehn Strandhaubitzen.« Jiff schwankte, als er seinen Hocker zurückschob. »Aber danke für die Einladung, Mr. Collier. Sie sin’ echt ’n klasse Typ.« Er zwinkerte. »Und es würd’ mich freuen, wenn Sie mit meiner Ma zusammenkämen.«

Das glaub ich jetzt nicht. Der Kerl versucht allen Ernstes, mich mit seiner MUTTER zu verkuppeln. »Äh, ja, Jiff, danke fürs Mitkommen.« Zurückhaltend schüttelte er Jiff die Hand und wünschte ihm eine gute Nacht.

Ja, ein verdammt seltsamer Tag. Die Uhr hinter der Bar verriet ihm, dass es erst 21:00 Uhr war. Und einer, der noch nicht mal vorbei ist.

Er drehte sich auf dem Hocker um und beobachtete die Leute. Dabei fiel ihm auf, dass Jiff die Straße in der falschen Richtung entlanglief. Die Pension ist auf der anderen Seite ... Doch was spielte es für eine Rolle? Wahrscheinlich war es stinklangweilig für ihn, Dominique und mir bei unserem Gequatsche über Bier zuzuhören. Und dennoch ...

Collier stand auf und ging zum vorderen Fenster. Jiff wankte mit ungleichmäßigen Schritten auf die Ecke zu und betrat eine Tür unter einem Neonschild. Eine andere Bar, wurde Collier klar. Die, von der Jiff zuvor gesprochen hatte, in der auch dieser J. G. Sute verkehrte? Und wieder fiel Collier kein Grund ein, weshalb es ihn interessieren sollte. Jiff war ein hart arbeitender Landbursche aus dem Süden, der zweifellos gern ausgiebig trank; nicht der Typ, der sich lange in einem Touristenlokal wie Cusher’s aufhielt. Collier spähte mit zusammengekniffenen Augen durch das Glas. Er glaubte, den Namen auf dem Neonschild ausmachen zu können: Der Eisenbahnnagel.

Das ist der dämlichste Name für eine Bar, den ich je gehört habe. In der Hoffnung, Dominique würde bald wiederkommen, bahnte er sich den Weg zurück zu seinem Hocker. Ich kann’s kaum erwarten, mich weiter mit ihr zu unterhalten ... Collier begegnete in seinem Gewerbe selten Frauen, mit denen er über Berufliches sprechen konnte. Und obendrein ist sie verdammt süß. Dann jedoch fühlte er sich, als hätte ihm jemand eine Torte ins Gesicht geklatscht, als er Lottie auf dem Hocker vorfand, den Jiff soeben verlassen hatte.

Ich dachte, sie müsste sich um die Wäsche kümmern!

Er setzte eine möglichst freundliche Miene auf. »Hallo, Lottie.«

Sie bedachte ihn mit einem breiten Lächeln und winkte.

»Schon fertig mit der Arbeit, wie ich sehe.«

Lottie nickte eifrig. Sie hatte sich das Haar zurückgesteckt und ein schockierend enges, durchscheinend-schwarzes Kleid angezogen. Großer Gott, dachte Collier. Sie sieht aus wie eine Zockerbraut in einem mondänen Schiffskasino. Hausmädchen vom Land sollten sich nicht so anziehen, aber Collier wollte nicht in stereotypes Denken verfallen. Warum sollte das arme Mädchen nicht in eine Bar ausgehen? Er musste an sich halten, um nicht den Kopf zu schütteln, als er ihre Schuhe bemerkte: schwarze, mehrere Nummern zu große Stöckelschuhe. Unwillkürlich musste Collier an das kleine Mädchen denken, das die Schuhe seiner Mutter anprobiert, um sich erwachsen zu fühlen.

Doch trotz ihrer zierlichen Gestalt war der Rest von ihr erwachsen, und das himmelschreiend unpassende Kleid betonte ihren Körper. Und augenblicklich bemerkte er, dass sich kein Slip abzeichnete ...

Hier gibt es eine Menge Gegensätze, ging Collier durch den Kopf. Mrs. Butler mit der Figur einer Raquel Welch in den 1980ern und dem Kopf eines Greises mit Perücke; Dominique, die wunderschöne Braumeisterin mit europäischer Ausbildung, die nur ein Bier pro Tag trank, weil sie Christin war; und nun Lottie mit dem Körper eines edlen Rennpferds, die jedoch nicht reden konnte und ein Gesicht hatte ... das nicht das hübscheste war. Aber was konnte Collier nach all den Merkwürdigkeiten erwarten, die er an diesem Tag erlebt hatte?

Lottie schlug in dem engen Kleid die Beine übereinander und wippte mit einem Fuß. Collier biss nach einem Blick auf ihre athletischen Schenkel die Zähne zusammen, und als er sich vorstellte, wie sie ihn umschlangen, schoss ein Funke durch seine Lenden. Oh Mann ... Dann wanderte sein Blick zu ihrem Oberkörper, und er bemerkte die knackigen, büstenhalterlosen Brüste, die sich mit steifen Nippeln durch den glänzenden schwarzen Stoff abzeichneten. Zuletzt betrachtete er ihr Gesicht ...

Alberne, aufgeregt wirkende, halb verrückt anmutende Augen und ein windschiefes Grinsen.

»Äh, möchten Sie etwas essen?«

Ungebrochen grinsend schüttelte sie den Kopf.

»Wie wär’s mit einem Bier?«

Sie nickte.

Collier bestellte bei der Bardame ein Lager. Er fühlte sich verpflichtet, sich mit Lottie zu unterhalten, aber das ging natürlich nicht, oder?

Bitte, Dominique, beeil dich mit dem Überprüfen der Würze und komm zurück.

»Oh, Sie haben gerade Jiff verpasst«, fiel ihm als erwähnenswert ein.

Sie nickte und stürzte ein Viertel des Biers in einem Zug hinunter. In ihrer kleinen Hand wirkte das Glas riesig.

»Anscheinend ist er die Straße runter in eine andere Bar gegangen.«

Sie hob eine Hand an den Mund, als lachte sie. Mit der anderen Hand klopfte sie sich auf das nackte Knie.

»Das ... verstehe ich nicht.« Angestrengt dachte er über ein Gesprächsthema nach. »Oh, kennen Sie diesen Historiker aus dem Ort? J. G. Sute?«

Sie lachte noch ausgelassener, wenngleich stumm, doch diesmal klopfte sie stattdessen auf Colliers Knie.

»Verstehe ich immer noch nicht. Ist dieser Mr. Sute ein komischer Mann?«

Wieder stummes Gelächter. Gleichzeitig wanderte ihre Hand ein Stück seinen Oberschenkel hinauf und drückte ihn.

Das Schwein in Collier störte ihre Hand dort nicht, aber ... Nicht hier! Dominique würde zurückkommen, und er wollte nicht, dass sie dieses verrückte Spektakel mit ansah. Als er gerade überlegte, wie er die Hand entfernen sollte, wanderte diese noch höher, und der Daumen streifte seinen Schritt ...

Das reicht!

Er löste die Hand von sich und legte sie ihr in den Schoß. Lottie lachte nur ungerührt weiter.

»Sagen Sie schon, Lottie, was ist so komisch an diesem Sute? Ist er der Dorftrottel?«

Sie trank von ihrem Bier und drehte dabei die andere Hand im Kreis.

»Sie sagen es mir später?«

Wieder ein eifriges Nicken.

Collier legte die Stirn in Falten. Er wusste, dass es seine eigene Schwäche war – diese intensive Neugier. Warum kann ich diesen Blödsinn nicht einfach vergessen und mein Buch zu Ende bringen? Deshalb bin ich hier, nicht wegen irgendwelchem Klatsch.

Ebenso wenig war er hier, um in seiner Lust zu schwelgen. Er versuchte, den Blick unverfänglich umherwandern zu lassen, doch jedes Mal, wenn er eine attraktive Frau sah, kribbelte es in seinen Lenden. Es ging so weit, dass er sich zwang, nirgendwohin zu schauen. Er tat so, als betrachte er interessiert die in Vitrinen ausgestellten Uniformen, aber selbst das ging nicht, ohne dabei jemanden zu bemerken. Schließlich deutete er auf eine Vitrine mit einem zweireihigen Mantelrock der Konföderierten. »Hier gibt es eine Menge Uniformen«, sagte er, um nicht völlig schweigend dazusitzen.

Lottie klopfte ihm auf die Schulter, sah ihn unverwandt an und bildete mit dem Mund die Worte: Ich liebe dich!

Bitte, jemand soll mich erschießen!, dachte Collier. Fieberhaft versuchte er, sich irgendetwas einfallen zu lassen, um sein Unbehagen zu überspielen. »Äh, sind Sie ganz sicher, dass Sie nichts wollen?«

Dich!, bildeten ihre Lippen, und sie grinste.

Er gab vor, sie nicht zu verstehen. Ich sterbe hier. Sein nächster zielloser Blick fiel auf ihren Fuß in dem zu großen Schuh, der immer noch eifrig wippte.

Sogar ihr Knöchel wirkte attraktiv. Sogar die Vene auf ihrem Fuß schien erotisch zu sein.

Ich brauche Hilfe! Ich brauche einen Psychiater!

Erleichterung überflutete ihn, als Dominique wieder hinter der Bar auftauchte. Sie hatte ihre Brauerschürze abgelegt und präsentierte nun volle Körbchengröße B samt einer knackigen, kurvigen Figur mit ausgeprägten Hüften und flachem Bauch. Die schlichte Aufmachung – Jeans und eine weiße Strickjacke – betonte ihre einzigartige, strahlende Niedlichkeit nur zusätzlich. Sie schien ein Lächeln zu unterdrücken, als sie sah, wer neben Collier saß. »Hi, Lottie.«

Lottie winkte energisch, dann trank sie wieder von ihrem Bier.

»Wie geht es der Würze?«, erkundigte sich Collier.

»Wunderbar. Ist für die nächste Charge Maibock.«

»Das muss ich auch probieren, nachdem ich das Lager niedergeschrieben habe.« Er beobachtete, wie sich Dominique im Dreifachspülbecken hinter der Bar Gerstenstaub von den Händen wusch. Sie ist einfach ... absolut ... anbetungswürdig ...

Lottie legte mit sanftem Druck ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Collier zuckte beinah zusammen, bis er sah, dass sie sein Bein nur wegschob, um sich von ihrem Hocker erheben zu können. Sie ist betrunken! »Warten Sie, lassen Sie mich Ihnen helfen.« Er stand auf und stützte sie, bis sie auf den Beinen stand. Sie grinste beschwipst zu ihm empor; ihr Scheitel reichte ihm gerade bis zur Brust. Ihr Mund bildete Worte, und ihre Hand gestikulierte, dann wandte sie sich ab und trippelte in den zu großen Schuhen davon.

»Ich schätze, sie will jetzt gehen.«

»Ich glaube eher, sie will auf die Toilette«, meinte Dominique.

Collier beobachtete, wie sich die festen Pobacken bei jedem betrunkenen Schritt zusammenzogen. »Mein Gott, ich hoffe, sie fällt nicht«, murmelte er. »Vielleicht sollte ich ihr helfen.«

»Das ist wahrscheinlich keine gute Idee«, gab Dominique zurück. Mittlerweile polierte sie schlanke Altbiergläser. »Sie würde Sie zu sich in die Toilette ziehen. Lottie ist schon eine komische Nudel, aber das haben Sie mittlerweile bestimmt selbst festgestellt.«

»Sie haben ja keine Ahnung.« Er setzte sich wieder auf seinen Hocker und seufzte.

»Das arme Mädchen ist so verkorkst. Und Sie hätten Ihr kein Bier geben sollen; sie verträgt nicht mal eines.«

Collier sah, dass Lotties großes Glas leer auf dem Tresen stand.

»Nur, damit Sie’s schon im Voraus wissen, es wird ganz schön schwierig werden, sie nach Hause zu Mrs. Butler zu schaffen.«

Collier nickte missmutig. »Ich bringe sie von hier weg. Hoffentlich wird sie nicht in der Damentoilette ohnmächtig.«

Dominique lachte. »Das hatten wir schon ein paar Mal. Eigentlich ist sie ein sehr nettes Mädchen und kommt mit ihren Problemen gut zurecht ... außer, wenn sie trinkt. Sie werden schon sehen.«

Collier ertappte die attraktive Braumeisterin dabei, zu grinsen. Oh Mann. Da nun keine Schürze mehr ihre Oberweite verhüllte, lechzten seine Augen danach, sie eingehend zu begutachten. Nicht hinstarren! Um ein Haar hätte er sich auf die Unterlippe gebissen. Und trink nichts mehr. Du bist schon besoffen! Der Drang, einen guten Eindruck zu hinterlassen, überwältigte ihn, doch inzwischen war ihm klar, dass er vielleicht sogar lallen könnte, wenn er zu viel redete.

»Möchten Sie noch eines?«

»Nein, danke. Ich hatte schon ein paar zu viel«, gestand er. »Noch eines, und ich mache mich vor Ihnen zum Idioten. Ich wünschte, ich hätte Ihre Selbstdisziplin.«

»Sie hätten mich mal in jüngeren Jahren erleben sollen.«

Eine weitere interessante Bemerkung. Ich wette, sie war ein Tier. Und was die »jüngeren Jahre« anging ... wie alt konnte sie schon sein? Unmöglich mehr als dreißig. Als sie das nächste Glas polierte, fiel ihm auf, dass sie an keinem Finger einen Ring trug.

Oooohhhh ...

»Ich würde mich wirklich gern noch weiter mit Ihnen unterhalten«, überwand sich Collier zu sagen. »Aber ich muss zurück ins Hotel. Arbeiten Sie morgen?«

»Den ganzen Tag bis sieben. Und ich würde ehrlich auch gern noch ausführlicher mit Ihnen reden, Mr. Collier.«

»Oh nein, nennen Sie mich Justin.« Sie macht morgen um sieben Schluss. Bitte sie um eine Verabredung, du Weichei!, forderte ihn jene andere Stimme heraus. Doch selbst in seinem Bierrausch wusste er, dass es zu diesem Zeitpunkt falsch gewesen wäre.

»Hier ist Ihre Rechnung, Justin.« Dominique hielt sie in der Hand.

Collier begann, seine Kreditkarte hervorzukramen, dann rief er plötzlich: »Nicht!«

Sie zerriss die Rechnung. »Aber diesmal geht alles aufs Haus.«

»Dominique, bitte, das ist nicht nötig.« Diese Behandlung erfuhr Collier in vielen Lokalen, hauptsächlich von Besitzern, die in seiner Sendung erwähnt werden wollten.

»Keine Sorge, ich versuche nicht, Sie zu bestechen, um eine gute Kritik zu erhalten. Es war nur schön, Sie als Gast gehabt zu haben.«

»Nun, dann vielen Dank. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Ihr Lagerbier in meinem Buch haben will, falls Sie nichts dagegen haben, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben.«

»Oh, natürlich habe ich nichts dagegen, aber warten Sie noch, bis Sie einen zweiten Eindruck gewonnen haben.«

Was für eine zutiefst ethische Äußerung. Wieder lächelte sie ihn an – eine zurückhaltende und doch selbstsichere Geste. Das Kreuz über ihrem Busen schimmerte wie ihre Zähne. »Na ja, eigentlich war es doch eine Bestechung für etwas.«

»Ach ja?«

»Ein Bild, für unsere Wand.« Sie deutete auf mehrere Schnappschüsse mit Autogrammen: einige Sportgrößen, ein Horrorschriftsteller, von dem Collier noch nie gehört hatte, ein Seifenopernstar und ja, Bill Clinton.

»Ich stehe gern für ein Foto zur Verfügung, nur bitte nicht heute Abend. Morgen, wenn ich nüchtern bin.«

»Abgemacht, Mr. ... Justin.« Dominique schaute zur Seite. »Da kommt Ihr Schützling.«

Lottie wankte mit dem schwachsinnigen Dauergrinsen im Gesicht zwischen den Tischen hindurch zurück zur Bar. Einen ihrer zu großen Stöckelschuhe hatte sie verloren.

Was für ein Albtraum, dachte Collier. »Wir sehen uns morgen.«

»Gute Nacht.«

Collier eilte zu Lottie und drehte sie zur Tür herum. »Hier lang, Lottie.«

Sie protestierte und gestikulierte zurück.

»Nein, kein Bier mehr für Sie. Herrgott, Ihre Mutter wird noch denken, ich hätte Sie betrunken gemacht.« Mit einem Arm um ihre Taille beförderte er sie zur Tür hinaus. Sie humpelte mit einem nackten und einem beschuhten Fuß neben ihm einher. Lottie schien stumm zu kichern. Das Überqueren der Straße gestaltete sich dermaßen schwierig, dass Collier innehielt, ihr den verbliebenen Schuh vom Fuß zog und ihn ins Gebüsch warf. »Die waren ohnehin zu groß für Sie. Lottie, Sie hatten nur ein Bier! Wie können Sie so betrunken sein?«

Ihr Finger strich durch sein Haar, dann versuchte sie, die andere Hand in sein Hemd zu schieben.

»Nein, genug jetzt! Wir fahren nach Hause.«

Auf dem Parkplatz hörte er aus der Ferne: »He, das ist ja dieser Bierfürst mit dem betrunkenen Mädchen!«

Scheiße! Hastig versuchte er, die Beifahrertür zu öffnen.

»Fragen wir ihn nach einem Autogramm!«, schlug eine schrille Frauenstimme vor.

»Einsteigen!« Er hievte Lottie wie ein paar Einkaufstüten in den Wagen, rannte zur anderen Seite herum, ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen und raste davon. Mit einem Ruck holperte er über einen Randstein, bevor ihm klar wurde, dass er die Scheinwerfer nicht eingeschaltet hatte. Ein weiterer Randstein folgte, dann verfehlte er nur knapp einen Briefkasten an einer Kreuzung, während er nach dem Knopf für die Scheinwerfer suchte. Diese Scheißkarre! Schließlich fand er ihn, schaltete das Licht ein und bog in die Penelope Street.

Gott sei Dank ist es nicht weit ... Er konnte die Pension hell erleuchtet auf der Kuppe des Hügels sehen. Schön langsam, dachte er und verringerte die Geschwindigkeit. Nur noch ein paar Hundert Meter ...

Plötzlich konnte Collier nichts mehr sehen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er spürte, wie ihm das Lenkrad entglitt und das Auto von der Fahrbahn abkam.

Wusch! Wusch! Wusch! Wusch!

Er mähte Büsche am Straßenrand um. Alles, was er sehen konnte, waren Lotties nackte Brüste in seinem Gesicht. Sie hatte die Schulterträger des Kleids abgestreift und versuchte, rittlings auf ihn zu klettern.

»Lottie, verfluchte Scheiße noch mal!«

Eine ihrer Hände legte sich zwischen seine Beine und drückte zu.

»Du bringst uns noch um!« Er stieß sie zurück, und ...

Sie schlitterte das Armaturenbrett entlang, fiel in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, landete flach auf dem Rücken ...

Und rührte sich nicht mehr.

Collier war es gelungen, den Wagen einen Meter vor der größten Eiche auf dem Vorhof zum Stehen zu bringen. Langsam setzte er zurück, dann wurde ihm klar: Das ist der Baum, an dem sich Harwood Gast erhängt hat.

Er löste den Blick davon und rollte auf den halb vollen und unbeleuchteten Parkplatz; nur Mondlicht schien in das Fahrzeug.

Collier wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Im matten Schein des Mondes erblickte er Lotties nackte Füße auf seinem Schoß ...

Er legte die Hände darauf und hielt kurz inne, bevor er sie von sich schob.

Lottie rührte sich immer noch nicht. Verdammt, bei meinem Glück hat sie sich beim Fallen das Genick gebrochen! Er beugte sich hinab und betastete ihren Hals. Gott sei Dank. Collier fühlte einen steten Puls.

Mit einem komischen Gefühl betrachtete er sie näher und schluckte, als er eine ihrer nackten Brüste erblickte, deren Nippel sich dunkel und steif abzeichnete.

Mann ...

Die wohlgeformten Beine schienen im Mondlicht zu schimmern. Er sah ihr ins Gesicht: entspannt und friedlich.

Das Dummchen ist völlig weggetreten.

Dann ...

Ob es ein sexueller Übergriff wäre, wenn ich ...

Er konnte kaum glauben, was er gerade in Erwägung gezogen hatte. Ich wollte ihre Brust anfassen ... die Brust eines BEWUSSTLOSEN Mädchens ...

Collier dachte nicht weiter darüber nach oder versuchte es zumindest, doch dann diese andere Stimme, das Alter Ego, das Es, das flüsterte: Nur zu. Was ist schon dabei?

Sein Verstand war nicht beteiligt, als sich seine Hand nach unten streckte ...

Er zog sie zurück.

Was bist du bloß für ein Schlappschwanz! Mach schon! Greif zu. Jeder RICHTIGE Mann würde es tun!

Er presste die Fäuste aneinander.

Los! Sie wird es nie erfahren!

Dass er sehr lange für die Entscheidung brauchte, es nicht zu tun, bereitete Collier schwere Sorgen. Ich bin echt völlig neben der Spur ...

Dann jedoch kam ihm durch das Aufblitzen einer Erinnerung ein anderer Gedanke: sein Schlüsselloch an diesem Nachmittag, die makellose, unbehaarte Scham, die er dahinter gesehen hatte, und das unverkennbare Muttermal.

Wahrscheinlich war es Lottie, und nach ihrem Verhalten heute Abend zu urteilen, würde ich sagen, die Chancen liegen bei 99 Prozent.

Wieder regte sich Neugier in ihm.

Er wusste bereits, dass sie keine Unterwäsche unter dem engen, durchscheinenden Kleid trug ...

Ich sehe nur nach, ob sie es war, das ist alles, dachte er, als wolle er sich selbst eine Ausrede liefern.

Er hob ihr regloses Bein an und schob es beiseite ...

Das Mondlicht reichte nicht so tief, deshalb schaltete er kurz die Innenbeleuchtung an – dachte bei sich: Du Perverser! – und spähte zwischen ihre Beine.

Wieder falsch. Dort unten befand sich einiges an Schambehaarung, ein ganzes keilförmiges Büschel.

Collier atmete tief durch, schaltete die Innenbeleuchtung wieder aus und stellte fest, dass er leicht zitterte.

Wieder diese andere Stimme: Scheiße, die wiegt höchstens fünfzig Kilo. Bring sie in den Wald und leg los. Wer wird es schon erfahren?

Collier konnte sich die Schlagzeilen vorstellen: TV-Bier-Guru wegen Vergewaltigung zu zehn Jahren verurteilt!

Seine Gedanken verschwammen. Es jagte ihm eine Heidenangst ein, dass ihm die Idee überhaupt gekommen war. Ich muss sie ins Haus schaffen. Sofort.

Schließlich zog er ihren Schulterträger wieder hoch, hievte sie aus dem Auto und schleppte sie zu den Eingangsstufen.

Du meine Güte ...

Nach kaum zwanzig Schritten verwandelte die Schwerkraft die fünfzig Kilo schwere »Weidenrute« in Waschbetonblöcke. Collier war körperlich nicht in bester Verfassung, und dass er zudem betrunken war, erschwerte seine Aufgabe nur zusätzlich. Ich wünschte, ich könnte sie einfach auf den verdammten Stufen liegen lassen und ins Bett gehen. Tatsächlich empfand er den Gedanken als verlockend, aber nein, in dieser Nacht hatte er sich schon genug wie ein Drecksack verhalten.

Er öffnete die Eingangstür ...

Ups.

... mit ihrem Kopf und schob sich durch das Vorzimmer.

Mrs. Butler sprang mit geweiteten Augen vom Schalter auf und eilte mit forschen Schritten herbei.

»Mrs. Butler, es ist nicht so, wie Sie denken«, setzte Collier an. »Sie ...«

»Oh, meine dumme Tochter«, erklang der mittlerweile vertraute, gedehnte Akzent. »Sie ist betrunken, so sieht’s aus.«

»Ja, Ma’am. Und das mit nur einem Bier.«

»Lottie! Was soll ich bloß mit dir machen?«, zeterte Mrs. Butler auf die besinnungslose Frau ein. »Du hast Mr. Collier in Verlegenheit gebracht!«

»Oh nein, Mrs. Butler, es war kein großes Problem ...«

Die alte Frau nahm Lottie aus Colliers Armen und warf sie sich über die Schulter, als wäre sie eine Strohpuppe. Lotties nackter Hintern starrte Collier einen Moment lang direkt ins Gesicht, dann wirbelte Mrs. Butler herum.

»Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, Mr. Collier.«

»Ehrlich, es war keine große ...«

»Es wäre mir todpeinlich, wenn Sie ins sonnige Kalifornien zurückkehren und all Ihren Freunden beim Fernsehen wie Emeril und Savannah Sammy erzählen, dass in Gast nur ein Haufen weißer Trunkenbolde lebt.«

»Keine Sorge, ich werde es Emeril nicht erzählen.« Das plötzlich einsetzende Gefühl einer Verpflichtung ließ ihn krampfhaft überlegen, was er tun oder sagen konnte. Ich kann ja wohl nicht gut zulassen, dass ihre alte Mutter sie in ihr Zimmer schleppt. »Warten Sie, lassen Sie mich Ihnen helfen.«

»Kommt überhaupt nicht infrage! Sie hatten schon genug Unannehmlichkeiten. Und Sie können sich getrost darauf verlassen, dass Lottie angemessen bestraft wird.»

»Nein, bitte nicht, Mrs. Butler. Sie wollte nur etwas Spaß haben und hat dabei zu viel getrunken ...«

»Wir sehen uns morgen. Schlafen Sie gut!« Die alte Frau eilte bereits davon, wobei ihr eigener ansehnlicher Hintern in einem weiten, lavendelfarbenen Kleid wackelte. »Und noch mal, bitte entschuldigen Sie, die Sache tut mir so leid!«

Damit verschwand Mrs. Butler einen Gang neben der Rezeption hinunter.

Was für eine Nacht.

Und sie war endlich offiziell vorüber, wie Collier erkannte, als die Standuhr im Eingangsbereich Mitternacht schlug. Er begann, sich die Stufen hinaufzuschleppen. Was er zuvor als Debakel empfunden hatte, fing bereits an, ihn zu belustigen. Mrs. Butlers Aufregung hatte ein wenig übertrieben gewirkt. Ihre Tochter hat sich vor einem unbedeutenden TV-Star volllaufen lassen. Na und? So schlimm ist das doch nicht. Dann jedoch fiel ihm die interessante Information ein, die Jiff ihm davor hatte zukommen lassen. Der jüngere Mann hatte buchstäblich versucht, Collier mit seiner Mutter zu verkuppeln.

Die Einzige, mit der ich gern verkuppelt werden würde, ist Dominique ...

Aber wie absurd war das erst? Dass sie keinen Ring trug, bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht verheiratet oder gebunden war, das wusste er. So wie Köche oder Maurer trugen auch Braumeister aus offensichtlichen Gründen keine Ringe. Wie könnte eine so hübsche und blitzgescheite Frau NICHT liiert sein?

Und warum zerbrach er sich überhaupt den Kopf darüber? Seine TV-Karriere war vorbei, er hatte seine besten Jahre hinter sich, und er war von Los Angeles und einer katastrophalen Ehe ausgelaugt. Collier wusste, dass er nicht unbedingt einen Hauptgewinn verkörperte.

In seinem Zimmer ließ er sein Hemd auf den Boden fallen, streifte die Hose ab und sank stöhnend ins Bett.

Wenigstens drehte sich die Welt im Liegen nicht, und als er rülpste, tat er es als der versierte Kenner, der er war. Der Ausstoß war leicht, hatte einen hopfigen Geruch und einen angenehmen »Abgang«. Das erinnerte ihn daran, dass er auf Anhieb gefunden hatte, wonach er auf der Suche gewesen war: ein herausragendes amerikanisches Lagerbier. Trotz der Desaster und Grotesken des Tages war es also ein durchschlagender Erfolg gewesen ...

Und ich habe Dominique kennengelernt.

Er fühlte sich wie bei seiner ersten Verliebtheit in der Grundschule. Dabei ist es nur blanke Lust, schlich sich jene andere Stimme in seinen Kopf.

Nein, ist es nicht.

Doch, ist es. Sie ist für dich nicht mehr als das, worauf du alle Frauen reduzierst: ein Lustobjekt, eine entmenschlichte Ansammlung von Geschlechtsteilen.

Blödsinn! Ich mag sie wirklich!

Du magst überhaupt niemanden; du benutzt Leute bloß als geistige Masturbationsvorlage. Genau wie die alte Frau, die für dich nur aus einem Arsch und zwei Titten zum Anstarren besteht. Genau wie Lottie und dieses Flittchen aus Wisconsin, das du beinah gevögelt hättest. Gute Arbeit, Collier. Gib’s wenigstens zu: Bei Dominique ist es dasselbe. Du willst sie für eine heiße Nummer benutzen, und das ist vollkommen in Ordnung. Warum auch nicht? Du bist ein Mann, und von Männern erwartet man so etwas.

Verpiss dich! Bei Dominique ist es überhaupt nicht so!, widersprach Collier seinem Gewissen hitzig. Das ist etwas völlig anderes.

Er rollte sich im Bett herum und krallte die Fäuste in die Laken.

Schuldgefühle überschwemmten ihn wie ein stinkender Nebel. In sexueller Hinsicht glichen alle Menschen den Tieren, behaupteten manche, aber es gab immer auch die andere Seite.

Tiere, gezähmt von aufgeklärtem Moralempfinden.

Man entscheidet sich, entweder gut oder böse zu sein. Dann jedoch bedauerte er diesen Umstand, als er über einige seiner Gedanken an diesem Tag nachgrübelte. Ja, die Augen seiner Lust hatten Mrs. Butlers Körper mehrmals benutzt, um sich aufzugeilen, und noch schlimmer war seine Verhaltensweise im Auto gewesen. Und was die Frau aus Wisconsin anging ...

Das war echt knapp.

Jede Stunde, die er an diesem Ort verbrachte, schien sein sexuelles Verlangen zu verdoppeln.

Schlaf jetzt einfach ...

Er dachte an Dominiques anmutige Züge, ihre von Gerstenschrot verfärbten Hände und hoffte, das Bild würde ihn in den Schlaf lullen. Das Kreuz an ihrem Hals schimmerte wie das Pendel eines Hypnotiseurs.

Schlaf ... einfach ... ein ...

Ein Geräusch drängte sich in die einsetzende REM-Phase. Verstört setzte er sich auf.

Habe ich gerade wirklich etwas gehört?

Dann erklang es erneut.

Wasser.

Kein aus einem Hahn laufendes Wasser, sondern ... ein träges Platschen.

Als schüttet jemand Wasser aus einem Eimer ...

Dann entdeckte er den Punkt.

Was, zum Teufel, ist das?

An der Wand prangte ein Punkt wie ein Lichtfleck oder ...

Ein Loch?

Mit zusammengekniffenen Augen starrte er hin.

Sag bloß, das ist ein Loch in der Wand ...

Als er aufstand, stellte er fest, dass dem tatsächlich so war.

Im Nebenzimmer brennt Licht, und in der Wand ist ein Loch, erkannte er. Das Loch befand sich zwischen dem Schrank auf der einen und einer hüfthohen Vasenvitrine mit Marmorplatte auf der anderen Seite. Als Collier auf die Knie sank, musste er an den vergangenen Nachmittag denken. Da hatte er sich ähnlich hingekniet, um durch das Schlüsselloch zu spähen.

Der Nebenraum ist dieses Badezimmer, vermeinte er, sich zu erinnern. Und genau das sah Collier, als er ein Auge zum Loch bewegte.

Sanftes, gelbliches Lampenlicht erhellte polierte Holzlattenwände. Unmittelbar in Colliers Sichtfeld befand sich etwas, das er zunächst für einen Sitz hielt, weil eine hohe, gekrümmte Rückenlehne nach unten zu einer Kante mit halbkreisförmigen Ausschnitten verlief. Dann fiel ihm durch seinen Bierschwips ein, was Mrs. Butler beim Einchecken über dieses Zimmer gesagt hatte.

Das ist eine Wanne für ein Sitzbad.

Er zuckte zusammen, als erneut das Geräusch von schwappendem Wasser ertönte.

Ich hatte recht!

Durch das Loch sah er zwei Hände, die einen Eimer hielten. Der Eimer wurde in die Wanne gekippt und wieder zurückgezogen. Aber ...

Wer leerte den Eimer?

Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick, dann ...

Stille.

Als Nächstes vernahm er ein leises Klatschen, Schritte. Dann sah er eine Silhouette ... Da ist sie ...

Es war Mrs. Butler, zumindest glaubte er das. Ihr Gesicht konnte er natürlich nicht erkennen – das Guckloch bot schließlich nur einen begrenzten Sichtbereich. Jedenfalls stand nun eine Frau mit dem Hintern in Colliers Richtung vor der Wanne. Ein gekrepptes, lavendelfarbenes Kleid bauschte sich, als es von Händen über das Taillenband nach unten geschoben wurde. Ja, es handelte sich eindeutig um Mrs. Butler. Diesen hammergeilen alten Hintern würde ich überall erkennen ... Colliers Herz setzte bei der Erkenntnis, was gleich passieren würde, einen Schlag aus.

Sie zieht sich aus und nimmt ein Sitzbad ... und ich kann dabei zusehen.

Den ganzen Tag lang hatte er sich an ihrem außergewöhnlichen Körper aufgegeilt – nun kam der Augenblick der Wahrheit.

Er betrachtete eine weiße Baumwollunterhose, gefüllt von ihrem überragenden Hinterteil. Das Sichtfeld reichte über ihren Rücken zu den Schultern hinauf, wo es endete. Auch die BH-Träger konnte Collier erkennen. In seinem Schritt rührte sich bereits etwas.

Mach dir keine Hoffnungen, mahnte er sich. Sie ist eine alte Frau. Dass ihr Körper das Kleid bestechend ausfüllt, bedeutet nicht, dass er keine runzlige Katastrophe ist, sobald sie sich entblößt hat ...

Die Unterhose wurde abgestreift, der Büstenhalter entfernt ...

Und Mrs. Butlers Körper entpuppte sich als alles andere als eine runzlige Katastrophe.

Mama mia ...

Das Guckloch umschrieb eine sanduhrförmige Figur drallen, weißen Fleisches. Mochte die Frau auch über sechzig sein – Colliers Augapfel trocknete förmlich aus, als er gebannt auf einen Hintern, einen Rücken und Schultern starrte, die keinerlei Makel aufwiesen.

Keine Pocken, keine Falten, keine Leberflecke, Pusteln oder sonstige Schönheitsfehler und nicht die geringste Spur von Orangenhaut.

Diese alte Dame ist nicht bloß ein mordsheißer Feger – sie ist die Mutter ALLER mordsheißen Feger ...

Trotz des Alkoholeinflusses hatte Collier schlagartig eine volle Erektion. Es lag nicht nur am Anblick dieser prächtigen nackten Pobacken wenige Meter vor seinem Auge, sondern an der psychologischen Wirkung, an der Vorfreude. Wenn er schon ihre Rückseite als heiß empfand, konnte er es kaum erwarten, die vordere zu sehen, und er wusste, dass sie sich in wenigen Momenten umdrehen und ihm alles offenbaren würde. Und da war noch etwas, nicht wahr?

Collier wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass sein Blick, wenn er in Kürze über ihre Vorderseite wandern würde, eine sorgfältig rasierte Scham zu sehen bekäme. Damit würde endlich das Geheimnis der Schlüssellochexhibitionistin gelüftet.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, griff er sich in den Schritt ...

Sein Auge kehrte zum Guckloch zurück ...

In genau diesem Moment drehte sich Mrs. Butler um. Da kommt die blanke Muschi, dachte Collier.

Und erstarrte.

Wo er glatte weiße Haut und eine rosa Spalte erwartet hatte, erblickte er stattdessen reichlich weibliche Intimbehaarung. Schon wieder falsch geraten ...

Einmal schien sie sich zurückzubeugen, vermutlich, um etwas hinter ihr zu ergreifen. Der weiche Pelz streckte sich fast wie auf ein Stichwort. Collier erblickte am Venushügel keinerlei graue Haare, dennoch wusste er, dass es sich um Mrs. Butler handelte. Dann ließ sie sich langsam in die Wanne.

Heilige Scheiße ...

Oberhalb des Halses konnte er nur das Kinn und einige lose, graue Strähnen erkennen, die ihre Schultern berührten. Der Rest war ein hervorragender Ausblick auf ihre Scham, ihren Bauch und ihre Brüste. Wonach sie zuvor gegriffen hatte, war offensichtlich ein Stück dieser Seife aus der Bürgerkriegszeit, das sie Aschequader nannten. In trockenem Zustand hatte dieser eine gräuliche Farbe, aber als sie damit über ihre nasse Haut fuhr, schäumte er auf wie normale Seife.

Was sich nun vor Colliers Auge abspielte, glich einem Paradies für Spanner: Mrs. Butlers Hand seifte ihre Spalte, ihren Bauch und ihre Brüste ein.

Oh Mann, das ist besser als mein erster Playboy, als ich neun war ...

Der Anblick war so lebendig, dass er unweigerlich an Edelpornografie denken musste. Die Beleuchtung und ihre nasse Haut verschmolzen zu einem Bild, das immer schärfer zu werden schien. Und nach den Bewegungen ihrer seifenschaumigen Hand zu urteilen ...

Sie tat mehr, als sich bloß zu waschen.

Erst jetzt wurde Collier bewusst, dass er seinen Schwanz in die Hand genommen hatte. Inzwischen konnte er nicht mehr anders. Er fühlte sich absolut lächerlich, doch jetzt noch aufzuhören, war undenkbar. Er starrte weiter mit einem Auge durch das Loch und konzentrierte sich auf den eindrucksvollen Anblick. Gleichzeitig war einem anderen Teil seines Bewusstseins klar, dass er unter keinen Umständen auch nur den geringsten Laut von sich geben durfte. Mrs. Butlers feuchtglatter Körper wand sich in rhythmischen Zuckungen. Als sich ihr Unterleib aufbäumte, war ihr Orgasmus offensichtlich.

Genau wie sein eigener.

Er presste die Augen zusammen und biss sich mit den Zähnen fest auf die Unterlippe. Die Explosion seiner Empfindungen drückte ihn zu Boden und bebend rollte er sich auf die Seite.

Mit der Wange auf dem Teppich lag er eine Weile still, die Augen in der Dunkelheit geweitet, während sich sein rasendes Herz langsam wieder beruhigte. Ein Impuls drängte ihn, sich aufzuraffen, um den Rest von Mrs. Butlers intimen Eskapaden zu beobachten, doch er konnte sich einfach nicht rühren.

Gelähmt ...

Als er mit der Hand den Boden berührte, um sich hochzustemmen, landeten seine Finger in einer nassen Stelle. Echt klasse, Collier, du hast auf den Teppich abgespritzt. Ist ja bloß ein handgewebtes Stück aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und gehört guten Gewissens in ein verfluchtes Museum.

Als er wieder auf die Knie kam, blickte er durch das Guckloch, doch dahinter war jetzt nur noch Dunkelheit. Mühsam rappelte er sich auf die Beine, schaltete die Lampe neben dem Bett ein und nahm sich einige Taschentücher, um an Sperma wegzuwischen, was möglich war.

Die Reste seines Ergusses hatten feuchte Spuren hinterlassen, die der Handabdruck eines Gorillas hätten sein können. Wird schon trocknen, hoffte er.

Dann schaute er aus irgendeinem Grund erneut zu dem Loch.

Erst jetzt kamen ihm Fragen in den Sinn, zum Beispiel: Wer hatte es gebohrt?

Irgendein Abartiger, der das Zimmer vor mir hatte ...

Nun, da er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass dieses Loch offensichtlich mit einer bestimmten Absicht gebohrt worden war. Perfekte, direkte Sicht auf die Sitzwanne. Das Loch war sogar leicht schräg angelegt worden, um es bestmöglich auf die Lage der Wanne auszurichten und zu gewährleisten, dass Genitalbereich, Bauch und Brüste der Frau in den Sichtausschnitt passten. Ich schätze, das könnte man als perverse Handwerkskunst bezeichnen.

Versehentlich berührte er das Loch und stellte fest, dass sich die Ränder splittrig anfühlten.

Hm.

Collier begann zu grübeln. Rasch zog er sich an, verließ sein Zimmer und ging zur Tür des Bads. Er wusste, dass sich Mrs. Butler nicht mehr in dem Raum befand, weil er gesehen hatte, dass kein Licht mehr darin brannte. Der Flur präsentierte sich in beiden Richtungen menschenleer. Collier betrat das Badezimmer.

Warme Luft streifte sein Gesicht, und er roch den Seifenduft. Er schaltete das Licht ein.

Die Sitzwanne stand unverändert am selben Platz, war jedoch geleert worden. An der Wand neben dem Fenster befanden sich ein großes Waschbecken und ein altmodischer Toilettensitz aus Holz mit einem Nachttopf in einem Fach darunter. Letzterer diente offensichtlich nur als Schaustück. Auch ein großes – und modernes – Arbeitsspülbecken war vorhanden.

An der gegenüberliegenden Wand stand dieselbe Vasenvitrine wie in seinem Zimmer, offenbar exakt an gegenüberliegender Stelle, und einen Meter links daneben ...

Collier beugte sich darüber und fand das Loch. Er fuhr mit dem Finger darüber ...

Glatt.

Keine Splitter. Ich hatte recht, folgerte er. Das Loch wurde auf dieser Seite gebohrt, nicht auf meiner.

Aber wieso spielte das eine Rolle?

Er kniff die Augen zusammen, während er nachdachte. Ein ehemaliger Gast hat mitbekommen, dass Mrs. Butler Sitzbäder nimmt, also kam er eines Tages hier rein, bohrte ein Loch für eine perfekte Aussicht und wartete einfach ab, bis sie es wieder tat. Dann kroch eine unangenehme Vorstellung in seine Fantasie, nämlich, dass er nicht der Erste gewesen war, der masturbiert hatte, während er durch das Loch spähte.

Er zuckte mit den Schultern, schaltete das Licht aus und schlich zurück in sein Zimmer. Als er ins Bett kroch, nagte in seinem Hinterkopf ein noch merkwürdiger Gedanke an ihm.

Wie war das noch mal?

Etwas, das Jiff gesagt hatte ...

... immer, wenn wer eincheckt, auf den sien Aug’ geworfen hat, gibt sie ihm Zimmer drei. Ihr Zimmer.

Jiff hatte das an der Bar gelallt, oder? Um seine schräge Behauptung zu untermauern, dass sich Mrs. Butler irgendwie zu Collier hingezogen fühlte.

Ja. Er war ganz sicher.

Doch Jiff hatte noch etwas anderes gesagt.

Wegen der Aussicht. Ich wett’, das hat Sie Ihnen sogar gesagt, was? Dass Zimmer drei die beste Aussicht hat?

Collier konnte kaum glauben, was ihm gerade durch den Kopf ging. Zimmer drei hat tatsächlich die beste Aussicht – die beste Aussicht auf Mrs. Butlers nackten Vorderbau und Hintern!

Aber nein. Das war lächerlich.

Er konnte unmöglich vermuten, dass Mrs. Butler das Loch selbst gebohrt hatte, oder?

Mittlerweile völlig verstört schüttelte er auf dem Kissen den Kopf. Schließlich löste er sich von all den Gedanken, sank in tiefen Schlaf ...

... und hatte den folgenden Traum ...