Kapitel 6

I

»Der arme Mack dürfte es allmählich satthaben, den Gästeführer zu spielen«, meinte Karen belustigt. »Sie sind schon der Fünfte, dem er heute alles zeigen muss.«

»Ach, das ist kein Problem«, meldete sich Mack zu Wort und lief den fensterlosen Buguet-Gang voraus. »Ich führe gern Leute herum ... solange ich nicht genauer darüber nachdenke, was in diesen Räumen so alles passiert ist.«

Westmore folgte den beiden in beeindruckter Verwirrung durch die museumsartige Villa. Mack Colmes war der Erste gewesen, den Karen ihm vorgestellt hatte: jung und enthusiastisch. Er schien ein sehr netter Bursche zu sein. Mack hielt kurz vor einer Steuerkonsole an und wiederholte seine Erklärungen zur Videokommunikationsanlage und wie man damit die Grundrisse des Hauses abrufen konnte. Das kam Westmore durchaus entgegen, denn er konnte sich unmöglich vorstellen, sich an diesem riesigen, düsteren Ort nicht zu verlaufen.

Danach schoben sie die Tür zum Südatrium auf, einem weitläufigen Saal, den eine eigenartige Helligkeit erfüllte und in dem grässliche grüne Velourstapeten die Wände bedeckten. Er betrachtete die Struktur des Raums, die Stuckarbeiten, die geschnitzten Profilleisten und Täfelungen, die an Turmspitzen erinnernden mittelalterlichen Bücherschränke und dachte: Ja, für diesen Ort passt die Bezeichnung ›gotisch‹ wie die Faust aufs Auge. Dann begutachtete er mit zusammengekniffenen Augen die Bürotrennwände, die fehl am Platz wirkten und die die gewaltige Fläche unterteilten. Und er bemerkte eine weitere Absonderlichkeit: Eine unscheinbare, aber keineswegs unattraktive Frau lag schlafend auf einer antiken Couch vor einem Fernseher, auf dem gerade die Sendung Emeril Live lief.

»Das ist Adrianne«, erklärte Mack und deutete auf die Schlafende. »Wie Sie sehen, ist sie gerade weggetreten. Sie macht gerne mal ein Nickerchen. Und das ist Nyvysk ...«

Ein großer Mann mit Bart und längeren Haaren als Westmore war soeben hinter einer der Trennwände aufgetaucht und kam mit einem zerstreuten Lächeln auf sie zu. »Sie müssen der Schriftsteller sein«, vermutete er und schüttelte Westmore die Hand. »Ich bin Nyvysk, der Techniker der Gruppe.«

Der Mann stellte Westmore buchstäblich in den Schatten. »Westmore. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Scheint ganz in Ordnung zu sein, dachte er.

»Nyvysk ist außerdem Dämonologe«, erklärte Karen.

Westmore wollte gerade über den Scherz lachen, doch am Blick des Hünen erkannte er, dass es sich offenbar nicht um einen Scherz handelte.

»Wow, das ist heftig.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Nyvysk, dessen Lächeln mit einem Schlag geheimnisvolle Züge angenommen hatte. »Sie sind Journalist und daher Atheist. Sie glauben nicht an Dämonen.«

Da musste Westmore wirklich lachen. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll.«

»Gut. Vielleicht finden Sie die Antworten während Ihres Aufenthalts hier. Wie ich sehe, haben Sie einige Dinge mitgebracht. Sind Sie bereit, in Ihr Schlafzimmer einzuchecken?«

»Klar«, erwiderte Westmore. Er wollte sich wieder der Tür zuwenden, weil er davon ausging, die Schlafzimmer würden sich oben befinden, aber Nyvysk hielt ihn weiterhin lächelnd davon ab. »Gleich hier drüben.«

Er führte Westmore zu einer der behelfsmäßigen Parzellen. »Sieht wie mein Büro bei der Times aus«, stellte der Journalist fest. »Das ist das Schlafzimmer?«

»Wir haben beschlossen, alle hier unten im Atrium zu bleiben. Als Gruppe sind wir sicherer.«

Westmore spähte am Vorhang seines »Zimmers« vorbei. Ein Bett und ein Spind. Er ließ seine Taschen auf den Boden gleiten. Seufzend stellte er sich ein prunkvolles gotisches Schlafzimmer mit Himmelbett, dicken Teppichen und Vorhängen vor, die vor offenen Verandatüren wehten. »Dann muss das hier wohl reichen.«

»Ladungen ändern sich nachts«, erklärte ihm Nyvysk. »Besonders in einem Haus voller Menschen, die Ladungen anziehen. Externe Kräfte werden viel eher aktiv, wenn solche Menschen getrennt voneinander und in ihrem verwundbarsten Zustand sind: im Schlaf.«

Westmore hatte keine Ahnung, wovon Nyvysk sprach. »Ladungen?«

»Sind Sie schon einmal an einem geladenen Ort gewesen?«

Westmore kam aus dem Abteil zurück. »Na ja, früher hatte ich selbst an manchen Orten viel geladen, vor allem in Bars und Kneipen, aber davon abgesehen weiß ich wirklich nicht, wovon Sie gerade reden.«

»Manche Orte besitzen eine Ladung, Mr. Westmore. Eine positive, eine negative, eine geerdete ... oder eine andere. Wir glauben, dass es sich bei der Hildreth-Villa um einen solchen Ort handeln könnte.«

»Eigentlich, Nyvysk, glauben wir nicht unbedingt etwas in der Richtung.« Der Einwand kam von der Frau auf der Couch – Adrianne –, die soeben aus ihrem Schlaf erwacht war. Sie stellte sich Westmore mit einem verhaltenen Lächeln und einem Nicken vor, ehe sie ihren Einspruch weiter ausführte. »Wir wissen noch gar nichts über dieses Haus und haben keine Schlussfolgerungen gezogen. Führ den Mann nicht von Anfang an in die Irre.« Sie sah Westmore an und stellte dann auf äußerst merkwürdige Weise die Frage: »Sie sind also kein Christ?«

»Ich habe nie gesagt, dass ich Atheist bin«, gab Westmore zurück.

»Nun, falls die Villa – rein hypothetisch – geladen ist«, meldete sich Nyvysk wieder zu Wort, »dann neigen die externen Kräfte, die ich zuvor erwähnt habe, in der Regel dazu, Agnostiker und Atheisten zu manipulieren. Glaube kann eine Waffe sein. Mangelnder Glaube kann das Gegenteil bewirken. Adrianne und ich beispielsweise sind die einzigen echten Christen in dieser Runde. Die anderen hier anwesenden Paraforscher sind multikonfessionell. Falls Sie also bislang keinerlei religiöse Überzeugungen haben ... vermute ich, dass sich das ändern wird, bis Sie das Haus verlassen.«

Adrianne verdrehte unter den halb geöffneten Lidern die Augen. »Wirst du wohl damit aufhören! Nyvysk ist immer so überdramatisch. Eigentlich sollte er Wissenschaftler sein, trotzdem versucht er ständig, die Menschen in seine Richtung zu beeinflussen.«

»Wir werden ja sehen.«

Westmore fühlte sich gründlich verwirrt. »Hier sind also noch zwei andere, äh ...«

»Paraforscher«, half ihm Nyvysk aus der Verlegenheit. »Sie werden sie beim Abendessen kennenlernen. Cathleen erkundet gerade das Gelände, wovon ich übrigens nach Einbruch der Dunkelheit dringend abrate.«

»Jetzt fängt er schon wieder an«, beklagte sich Adrianne, bevor sie sich auf der Couch sinken ließ. Sie drückte sich ein Samtkissen gegen die Brust.

Karen ergriff Westmores Arm. »Ich unterstütze diesen Vorschlag. Gehen Sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht nach draußen.«

»Ich sage nicht, dass ich Atheist bin, aber ich sage sehr wohl, dass ich nicht an Geister glaube«, versicherte Westmore. »Soweit es mich betrifft, ist dieser Ort nur ein großes, überkandideltes Haus.«

Karen war zum Fernseher geschlendert und hatte ihm nicht zugehört. Adrianne verharrte mit ausdruckslosem Blick auf der Couch. Nyvysk lächelte ungebrochen weiter vor sich hin.

»Was die Unterbringung angeht«, ergriff der bärtige Mann wieder das Wort, »verlangen wir nur, dass Sie mit dem Rest von uns in diesem Raum schlafen. Mir ist Ihr Laptop aufgefallen – Sie können sich jedes Zimmer im Haus als Büro aussuchen. Wir anderen haben vorwiegend hier unseren Stützpunkt. Falls ich mal nicht hier bin, finden Sie mich mit hoher Wahrscheinlichkeit oben in der Sicherheits- und Kommunikationszentrale.«

»Prima«, meinte Westmore. Er wandte sich an Mack. »Was dagegen, wenn ich ein wenig herumschnüffle und mir das Haus in Ruhe ansehe?«

»Nur zu«, erwiderte Mack. »Und wenn Sie sich frisch machen wollen, ist neben der Küche ein großes Bad mit Dusche. Sie können aber auch jedes andere Badezimmer benutzen – im Haus sind überall welche.«

»Nur nicht nachts«, beharrte Nyvysk.

Westmore lächelte. »Verstanden. Dann bis später.«

Als er hinausging, wobei er an sich halten musste, um nicht den Kopf zu schütteln, hörte er Karen sagen: »Wo ist Willis?«

»Er meinte, er würde in das Zimmer gehen, in dem die Prostituierten ermordet wurden, oder?«, sagte Nyvysk.

»Ja, aber vor ein paar Stunden schon«, warf Adrianne ein.

Westmore kehrte durch die palastartige Doppeltür in den Hauptflur zurück und hörte Nyvysk mit der Videokommunikationsanlage hantieren. »Willis? Willis? Wo steckst du?«

II

Willis kniete im ersten Stock im Jean-Brohou-Salon. Er kämpfte gegen einen Würgereiz an, fühlte sich hundeelend und durch die Wucht der Visionen, die ihn überkamen, regelrecht blind. Er war durch das, was er gesehen hatte, völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen oder etwas zu tun. Nur eins ging ihm durch den Kopf: Verschwinde ... Verschwinde aus diesem Zimmer. Er hörte einen langen, ohrenbetäubenden Schrei, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als würde Knorpel durchschnitten.

Dann folgte das Platschen und Gluckern einer zähen Flüssigkeit.

Er konnte nicht atmen; stattdessen japste er, während sich seine Knie und Handflächen schmatzend durch dicke, aufgeweichte Teppiche bewegten und hinter ihm gurgelnde Todeslaute ertönten. Schon beim Betreten des Zimmers hatte er sich spontan übergeben müssen, weshalb sein Magen, der sich nach wie vor zusammenkrampfte, nichts mehr enthielt, was noch aus ihm herauskonnte. Sein einziger Instinkt war Flucht, allerdings hatte er beim Hereinkommen versehentlich die Tür hinter sich zugezogen. Würgend streckte er den Arm aus und tastete mit den Fingern verzweifelt nach dem Messinggriff. Einen Moment lang glaubte Willis, er müsste tatsächlich sterben, bevor es ihm gelang, die Tür zu öffnen.

Dunkle, formlose Schemen blickten auf ihn herab und beugten sich näher zu ihm. Als er die Hände ausstreckte, um sie abzuwehren, stießen seine Finger auf etwas, das kein festes Fleisch war, sondern etwas nur halb Greifbares. Er fühlte sich an ein mit Ruß durchsetztes Gas erinnert, das so dicht war, das man es fühlen konnte. Ihm fielen Gesichtszüge auf – oder eigentlich eher deren Abwesenheit: keine Nasen, Augen oder Ohren, nur große, feuchte Münder voller sich schlängelnder Zungen ...

Als es ihm schließlich gelang, den Griff zu erreichen, sah er mit Schaudern, wie die Hand eines anderen Mannes die Tür öffnete. Er war nackt, hatte kurze Haare und Blutschlieren an Armen und Beinen. Er schleppte einen Eimer aus dem Raum – ein anderer Mann trug zwei weitere. Dann ging ein dritter Mann hinaus, ebenso unbekleidet. Er hielt an der offenen Tür kurz inne und blickte mit einem Grinsen auf den hilflosen Willis herab.

Willis wusste intuitiv, dass es sich um Reginald Hildreth handelte.

Als Willis umkippte, schoss seine Hand vor, um seinen Fall zu bremsen, und landete dabei auf dem abgetrennten Kopf einer Frau. Bewegte sich der Mund etwa noch? Willis wollte es gar nicht so genau wissen.

Mit einer ungeheuren Kraftanstrengung hechtete er vorwärts und beförderte sich aus dem Salon.

Im Flur rannte ein Mann herbei. »Scheiße! Alles in Ordnung?«

Orientierungslos wirbelte Willis herum. Ihm war immer noch übel. Er hatte keine Kontrolle darüber, was aus ihm hervorsprudelte: »Großer Gott, gehen Sie nicht rein, gehen Sie da bloß nicht rein!« Dann schrie er auf und zuckte zurück, als der andere Mann versuchte, ihm aufzuhelfen. »Fassen Sie mich nicht an!«

»Schon gut, schon gut ...« Der Neuankömmling trat einen Schritt zurück. Er sah aus wie Ende 30 und hatte langes, etwas zotteliges dunkles Haar. Willis bemühte sich, ruhig zu atmen und sich zu sammeln, was ihm jedoch noch nicht ganz gelang.

»Was ist passiert?«, wollte der andere Mann wissen.

Die Bilder brandeten immer noch durch Willis’ Geist. »Köpfe, Körper. Überall Blut ...«

Der Unbekannte blickte kurz in den Raum. »Ich kann nur einen Haufen exquisiter Möbel und einen teuren Teppich, der aussieht, als hätte sich jemand darauf übergeben, entdecken.«

Beruhige dich, beruhige dich ... Willis atmete weiter tief durch. Passiv wiederkehrende Aktivitäten. Harmlos. Aber die Empfindungen waren so verdammt intensiv gewesen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, musste er in Erwägung ziehen, dass die Bilder unter Umständen eher aktiv als passiv gewesen waren. Der letzte Mann, der gegangen war – Hildreth –, hatte eindeutig auf ihn herabgeblickt.

»Soll ich Mack rufen? Vielleicht brauchen Sie einen Arzt.«

»Nein, nein.« Oh Scheiße! Was habe ich gerade nur alles vor mich hingebrabbelt?

Willis brauchte lediglich eine weitere Minute, um wieder zur Vernunft zu kommen. Noch einige Atemzüge, dann ein Seufzen. »Es geht mir gut. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Ich war ... in einem Zustand, den man als Schock bezeichnen könnte.«

»Warten Sie, ich helfe Ihnen auf.«

Willis zog seine Handschuhe aus der hinteren Hosentasche und streifte sie über, dann streckte er dem Anderen die Hand entgegen. Der Unbekannte zog ihn auf die Beine. Willis lehnte sich ans Treppengeländer.

»Ich bin Richard Westmore. Sind Sie Willis?«

Willis nickte.

»Warum die Handschuhe? Haben Sie Angst vor Keimen oder so?«

Willis lächelte und wischte sich mit einem Taschentuch über Mund und Stirn. »Das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen ein andermal erzähle. Ich nehme mal an, Sie sind das fünfte Mitglied unseres Teams. Der Schriftsteller?«

»Ja. Unten wurde ich darüber informiert, dass wir alle im Atrium schlafen, aber Nyvysk meinte, ich könnte mir ein beliebiges Zimmer zum Arbeiten aussuchen.«

»Was immer Sie tun, nehmen Sie nicht diesen Raum«, riet Willis und deutete erschöpft auf den Jean-Brohou-Salon.

Westmore lachte. »Ist zwar ein verflucht schönes Zimmer, aber nachdem Sie sich da drin übergeben haben, scheidet es fürs Erste sowieso aus.«

»In der Villa gibt es mehrere Arbeitszimmer und eine große Bibliothek im Erdgeschoss. Ich bin sicher, einer dieser Räume ist besser geeignet.«

Westmore lehnte sich zurück und zeigte mit dem Daumen auf die Tür des Salons. »Was haben Sie dort wirklich gesehen?«

»Nichts, was Sie sehen könnten ...«

»Übersinnliches Zeug also, wie?«

»Es ist wesentlich komplizierter. Sie werden es nach und nach verstehen.«

Westmore schien zu begreifen, dass es sich im Augenblick um ein ungünstiges Thema handelte. »Was ist mit all diesen Namen?« Er zeigte auf die Messingtafel über dem Salon. »Wer ist Jean Brohou?«

»Ein französischer Astrologe. Viele der Räume hier haben Namen – einer von Hildreths zahlreichen Spleens und ein ziemlich geschmackloser, wenn Sie mich fragen. Hellseher, Wahrsager, Hypnotiseure, Alchemisten, Hexer. Und es wird schlimmer, je weiter man sich in den Stockwerken nach oben begibt. Das größte Schlafzimmer heißt Loudun-Suite, benannt nach den besessenen Nonnen. Der Turm im fünften Stock trägt den Namen De-Rais-Kapelle. Wahrscheinlich haben Sie schon von ihm gehört.«

»Satanismus, Okkultismus. Sie glauben also, Hildreth hat sich wirklich mit diesem Kram befasst?«

»Ja«, bestätigte Willis.

»Tja, ich glaube nicht an dieses ganze Zeug, allerdings bin ich nicht so engstirnig, zu behaupten, dass ich mich nicht vom Gegenteil überzeugen ließe. Ich glaube nur, was ich selbst gesehen habe.«

Willis nickte. Er fühlte sich ausgelaugt. »Dann betrachten Sie sich als gesegnet und danken Sie Gott dafür, dass Sie nicht sehen können, was wir sehen«, sagte er und ließ ihn stehen.

III

Wow, das nenne ich mal ein Arbeitszimmer!, dachte Westmore. In einer Hinsicht erwiesen sie sich alle als gleich: Sie wirkten überladen. Auf den ersten Blick eine entspannte, ruhige Atmosphäre mit schweineteuren Möbeln und wunderschönem Dekor. Bis er die Bücherregale näher unter die Lupe nahm. Er betrachtete ein Buch nach dem anderen und die Falten in seiner Stirn wurden immer tiefer.

Die Synode der Aoristen, Die rote Beichte, Die geheimen Äußerungen des Josef von Arimathäa und so weiter. Obwohl er viel auf seine gute Allgemeinbildung gab, hatte Westmore noch nie von einem der Bücher gehört. Ein weiteres, spitz zulaufendes Regal enthielt eine noch weitaus beunruhigendere Auswahl, die vermutlich eine Menge über den wahren Hildreth verriet: Die Grimoires des schwarzen Blutes, Moderne Teratologie und andere biologische Unfälle, Der fotografische Leitfaden zu Schussverletzungen, Stichwunden und traumatische Vergewaltigung für Feldforscher. Ein Blick auf die Fotostrecken im letzten Band ließ Westmore regelrecht taumeln. Ein großformatiger Atlas mit rotem Ledereinband ohne Titel brachte ihn beinahe dazu, sich zu übergeben: Er enthielt alte Schwarz-Weiß-Fotos von Männern, die Sex mit behinderten und deformierten Frauen hatten.

»Scheiß auf das Arbeitszimmer«, sagte er laut, durch und durch angewidert. Hildreth war ein kranker Spinner. Mit langen Schritten verließ er den Raum und selbst bei der bloßen Erinnerung an das Gesehene kam ihm das letzte Essen wieder hoch. »Scheiße ...« Am Ende des Flurs fielen ihm merkwürdig angebrachte Vorhänge auf, die unmöglich ein Fenster verdecken konnten; er schaute dahinter und fand eine schmale Treppe vor. Westmore stieg hinauf. Ich bin erst seit einer Stunde hier und hab schon die Schnauze voll von diesem irren Fleckchen Erde und dem Rudel Sonderlinge da unten. Doch er wusste, dass seine üble Laune auch einer gewissen Unsicherheit geschuldet war. Er wurde dafür bezahlt, in der kommenden Woche einen Bericht abzuliefern und hatte nach wie vor keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Der dritte Stock schien deutlich dunkler und beengter zu sein. Im Flur war entschieden weniger Platz. Düstere Porträts unheimlicher Männer und Frauen starrten mit finsteren Mienen zwischen kunstvollen Rahmen hervor. Vorhänge mit Quasten zierten schmale Buntglasfenster, die nur wenig Licht durchließen. Die besondere Atmosphäre, die Westmore anfangs noch als faszinierend empfunden hatte, machte ihm allmählich zu schaffen.

»Mr. Westmore. Kommen Sie kurz hier rein. Das möchten Sie sich bestimmt ansehen.«

Westmore hatte Nyvysk in der Düsternis des Ganges zuerst gar nicht bemerkt. Aus der Ferne zeichnete er sich als Umriss vor dem Buntglasfenster am Ende des Flurs ab; als großer, zotteliger Schatten, der in diesem Moment überaus bedrohlich wirkte. Westmore folgte ihm in einen Raum mit greller Neonbeleuchtung.

»Mann, hier sieht es aber alles andere als gotisch aus«, stellte er fest.

»Ja, es bildet einen krassen Gegensatz zu allem anderen, aber vielleicht ist das ein weiteres Anzeichen für Hildreths Falschheit. Er hielt seinen Materialismus geheim.«

Der Raum quoll fast über vor lauter Computern, Monitoren und anderen audiovisuellen Apparaturen. Über ein zentrales Pult konnte man mehrere Überwachungskameras gleichzeitig beobachten und die Tonübertragungen der Kommunikationsanlage steuern. Die Stapel von Umzugskartons in ihrem Rücken ließen ein Gefühl der Beklemmung entstehen. »Was ist das alles?«, erkundigte sich Westmore.

»Das ist meine Ausrüstung«, erklärte Nyvysk. »Aus technischer Sicht ist diese Villa ein Traum. Jede Kamera ist für Bild- und Tonübertragungen ausgelegt. Ich kann meine Erfassungsgeräte in jedem beliebigen Zimmer aufstellen und die bereits vorhandene Verkabelung dafür benutzen. Und das digitale Kamerasystem ist ideal – es ist möglich, von dieser Zentrale aus einen Großteil meiner Sensoren anzusprechen und die Messwerte auszulesen.«

Westmore war bereits jetzt verwirrt. »Sensoren? Erfassungsgeräte? Was wollen Sie denn erfassen? Wollen Sie versuchen, Fotos von Geistern zu schießen?«

»Ich will versuchen, fotografische und akustische Ablesungen verschiedener atmosphärischer Signaturen von Präsenzen anzufertigen, die man salopp gesagt tatsächlich als Geister bezeichnen könnte.«

Westmore runzelte die Stirn. »Was zum Beispiel? Die Temperatur?«

»Drastische Temperaturschwankungen, ja. Ebenso barometrische Diskrepanzen, gaußsche Messungen von Abweichungen des Reststrahlungspegels und von elektromagnetischen Feldkonfigurationen, Ionenfeldkonversität. Eine der einfachsten Erfassungsmessungen ist zugleich eine der nützlichsten: Stimmphänomene. Den Großteil dieser Aspekte kann ich von diesem Raum aus überwachen. Ich kann genau feststellen, wann und wo erhöhte Aktivitäten auftreten, selbst wenn ich mich gerade nicht hier aufhalte.« Er zeigte auf eine Reihe von digitalen Aufzeichnungsgeräten.

»Oh«, sagte Westmore nur. Diese Informationen überstiegen sein Verständnis als ausgebildeter Journalist und Schriftsteller bei Weitem. »Wann werden Sie mit den Ablesungen beginnen?«

»Das habe ich bereits.«

Ich kann’s kaum erwarten zu sehen, was sich hier tut, dachte Westmore. »Dann tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich suche mir einen Platz, an dem ich in Ruhe schreiben kann.«

»Wir sehen uns beim Abendessen«, erwiderte Nyvysk, ehe er sich mit einem Schraubenzieher an einem Zugangsdeckel der Konsole zu schaffen machte.

Noch verwirrter als vorher zog Westmore davon. Allmählich gewöhnte er sich an diesen Zustand. Draußen im düsteren Korridor überprüfte er weitere Ziertüren und stellte fest, dass die meisten nicht in Schlafzimmer führten, sondern in Büros sowie Vorrats- und Mehrzweckräume. Westmore vermutete, dass in diesem Bereich die Verwaltung von T&T untergebracht gewesen war. Eine größere Tür ließ dank der Beschriftung keine Fragen offen: STUDIO. Von dieser Stelle an mussten die Wände der restlichen Räume der Etage entfernt worden sein.

Mehrere Kulissen mit verschiedenen falschen Hintergründen waren zu sehen: ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, alle mit einer Batterie von Scheinwerfern ausgestattet. Du lieber Himmel, ging ihm durch den Kopf, als er einen gepolsterten Untersuchungsstuhl wie in einer Frauenarztpraxis entdeckte. Darauf lag eine Szenenklappe, auf der stand: GABRIELLES WILDER RUDELFICK (SZENE IV, TAG ZWEI). Ich schätze mal, aus dem Film ist nichts mehr geworden, folgerte Westmore. Sie wurde abgeschlachtet, bevor sie den dritten Drehtag erlebt hat. Regale beherbergten Dutzende verschiedener Arten von Vibratoren und sonstigen Sexspielzeugen, Gummidildos, die erschreckend echt aussahen, und riesige Flaschen mit Gleitgel.

Westmore rümpfte die Nase: »Ich glaube kaum, dass ich mich inmitten von so viel Schweinkram auf meine Arbeit konzentrieren kann«, murmelte er und verließ den Raum. Allein durch seine Anwesenheit und das Wissen um den ursprünglichen Verwendungszweck fühlte er sich besudelt und schmutzig. Vielleicht würde er unten in der großen Bibliothek einziehen. Allerdings missfiel ihm die Vorstellung, sich in unmittelbarer Nähe der anderen häuslich einzurichten – er wollte nicht, dass sie in seinen Sachen herumschnüffelten. Erleichtert seufzte Westmore, als er die letzte Tür des Flügels öffnete und dahinter ein üppig eingerichtetes Büro mit einem großen Teakholzschreibtisch, hochwertigem Ledersessel sowie Glastüren, die auf eine sonnige Veranda hinausführten, entdeckte. Das wird gehen ...

Er legte seine Laptoptasche auf dem Tisch ab, rückte die Lampe zurecht, ließ die kreative Atmosphäre auf sich wirken und empfand sie als annehmbar. Westmore schaltete den Computer ein und legte eine neue Datei mit dem Titel VIVICA-HILDRETH-AUFTRAG an. Danach tat er, was die meisten Schriftsteller taten, wenn sie ein neues Projekt begannen: Er fuhr den Computer herunter und beschloss, nichts zu schreiben. Ich fange morgen an, sagte er sich und stand auf, um seine Umgebung zu inspizieren. Er ging auf die Veranda, rauchte eine Zigarette und genoss die sonnendurchflutete Aussicht auf den Waldstrich und die westliche Grundstücksgrenze. In einiger Entfernung glaubte er, eine Gestalt mit leicht wankenden Schritten zwischen den Bäumen hervortreten zu sehen. Vielleicht ist das die Frau, die sie unten vermisst haben. Allerdings konnte er sich nicht mehr erinnern, ob Nyvysk ihren Namen genannt hatte. Er kniff die Augen zusammen und beobachtete sie, bis sie verschwand. Sie wankte tatsächlich, vermutlich war sie erschöpft.

Zurück im Büro schaute er sich weiter um. Dabei brauchte er sich nicht zurückzuhalten – Hildreth war tot, und dasselbe galt für seine Firma und seine Mitarbeiter. Westmore nahm einige Aktenschränke unter die Lupe, durchforstete Unterlagen vom Finanzamt und Lieferantenrechnungen. Nichts von besonderem Interesse, aber vielleicht würde später ein genauerer Blick in die Bücher Informationen zutage fördern, die Vivica nützlich sein konnten. Westmore musste daran denken, dass er für sie und nicht unbedingt mit den anderen arbeitete. Ich schätze mal, ich bin so etwas wie Vivicas bezahlter Spion ...

Ein kleines gerahmtes Bild auf dem Schreibtisch zeigte Karen und Hildreth, die lächelnd an den Säulen vor dem Eingang der Villa standen. Das muss früher wohl Karens Büro gewesen sein, folgerte Westmore. Er öffnete die Schreibtischschubladen, deren Inhalt sich relativ geordnet präsentierte. In einer Windsor-Aufsatzkommode stieß er auf etliche Stapel von Porno-DVDs, alles Produktionen von T&T. Erst da bemerkte er, dass auf der Schreibtischunterlage eine weitere Hülle mit dem reißerischen Titel SPERMAGEILE GO-GO-GIRLS lag, die Karen offensichtlich als Kaffeeuntersetzer zweckentfremdet hatte. Das nenne ich mal gesunden Respekt für die Produkte des eigenen Unternehmens.

In Erwartung eines Wandschranks öffnete er eine schmucklose Tür neben der Kommode. Stattdessen fand er ein kleineres, noch protzigeres Büro vor. Seltsamerweise besaß es kein Fenster und war voll mit halb abgebrannten Kerzen. Hinter dem Schreibtisch, der einen Großteil der getäfelten Wand einnahm, hing in einem aufwendigen Zierrahmen ein Ölgemälde von Vivica Hildreth in zeitloser Pose: das Haar mit juwelenbesetzten Nadeln hochgesteckt, in einer Hand einen Fächer, gekleidet in einen viktorianischen Reifrock mit Wickeloberteil. Da Westmore sie im trashigen Popkulturambiente ihres Penthouses kennengelernt hatte, empfand er das Bild als völlig unpassend. Er öffnete die Schubladen des Schreibtischs und fand als Erstes ...

Na toll.

... einen kleinen Revolver.

Eigentlich kein Aufreger, vor allem in Florida nicht, wo Handfeuerwaffen zum Inventar jedes gut sortierten Haushalts gehörten, trotzdem schockierte ihn der Anblick zunächst. Er ergriff die Pistole, roch daran und nahm nur das Aroma von Maschinenöl wahr. Ist wahrscheinlich nie abgefeuert worden. Aber Hildreths bevorzugte Waffen kannte er ja bereits: Äxte.

Das kann doch wohl nur ein Scherz sein, dachte er, als er die Schublade weiter aufzog und auf ein mit Gummiband umwickeltes Bündel aus 100-Dollar-Noten stieß. Die meisten Menschen bewahren im Schreibtisch Büroklammern und Stifte auf – Hildreth mindestens zehn Riesen. Vielleicht handelte es sich um einen Test – denn er wusste, dass sich irgendwo in dem Raum eine Kamera befand. Allerdings hatte Unredlichkeit nie zu Westmores Lastern gezählt – nur Alkohol. Fest entschlossen, das Geld umgehend Mack auszuhändigen und die Entdeckung an Vivica zu berichten, ließ er das Bündel in seiner Hosentasche verschwinden.

Die obere Lade auf der anderen Seite des Schreibtischs enthielt nur einen einzigen Gegenstand: ein kleines gerahmtes Bild, das mit der Vorderseite nach unten lag. Westmore drehte es um und war sicher, ein Foto aus einem High-School-Jahrbuch vor sich zu haben.

Hübsches Mädchen, kam ihm als Erstes in den Sinn. Der Inbegriff der schönen Nachbarin – ein breites, strahlendes Lächeln, große, unschuldige Augen, ein Schopf glänzender brünetter Haare. Hatte Hildreth etwa eine Tochter? Aber nein, Karen hatte ihm mitgeteilt, dass Vivica und Hildreth kinderlos geblieben waren.

Wer ist es dann?

Wie es schien, würde er alle Hände voll zu tun bekommen. Er ließ das Bild in der Schublade, begab sich zur gegenüberliegenden Seite des Raums und durchsuchte gerade einen Rollcontainer, als sich die Tür öffnete.

»Alles in Ordnung da drin?« Mack steckte den Kopf herein.

»Ja, ich ...«

»Nyvysk meinte, Sie sind auf der Suche nach einem Platz zum Schreiben. Wie es aussieht, haben Sie einen Treffer gelandet. Das war Hildreths Büro.«

»Ja, das dachte ich mir schon. Was dagegen, wenn ich es benutze?«

»Überhaupt nicht. Verwenden Sie ruhig die Computer oder was immer Sie brauchen und geben Sie mir Bescheid, falls irgendetwas fehlt.«

»Danke ...« Dann fiel Westmore etwas ein. »Ach ja, warten Sie. Das hier habe ich gefunden. Ich denke, Sie sollten es in Verwahrung nehmen oder Vivica übergeben.« Er reichte Mack das Bündel mit den Geldscheinen.

Mack lachte. »Das überrascht mich nicht. Für Hildreth war das bestenfalls eine Portokasse.«

Die Äußerung machte Westmore neugierig. »Wie ist er so erfolgreich geworden?«

»Hauptsächlich durch den Handel mit internationalen Anleihen, weltweite Kommunalschuldverschreibungen und solches Zeug.«

»Ein Wall-Street-Guru?«

»Entweder das, oder er hat eine Menge Leute über den Tisch gezogen. Geredet hat er nie viel darüber. Mit 50 hatte er seine erste Milliarde zusammen.«

»Wer hat seine persönlichen Konten verwaltet? Karen?«

Mack lachte noch ausgelassener. »Nein, nein, sie hat nur die Bücher für T&T geführt, nichts Aufregendes. T&T war für ihn kein Geschäft, sondern ein Hobby. Wenn Sie mich fragen, war Hildreth völlig pervers.«

»Der sprichwörtliche geile alte Bock?«

»Der sprichwörtliche reiche geile alte Bock, das kann man so unterschreiben. Aber er war auch ein sehr, sehr intelligenter Mensch. Es ist schwer, ihm mit wenigen Worten gerecht zu werden. Jemand könnte ein Buch über ihn schreiben und es würde trotzdem unmöglich die ganze Geschichte erzählen.« Der Sicherheitsbeauftragte verstummte kurz. »Soweit ich weiß, sollen Sie ja genau das tun.«

Westmore schüttelte den Kopf. »Ich schreibe nur einen chronologischen Bericht darüber, was hier abläuft mit all diesen ...«

»Übersinnlichen Spinnern?«

»Das haben Sie schön auf den Punkt gebracht.«

Mack lehnte sich an den Türrahmen. »Glauben Sie den Kram?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Westmore.

»Ich auch nicht. Ich schätze, wir warten einfach ab, was dabei rauskommt. Tja, ich muss los. Bis später.«

»Sicher … ach, Mack? Eine Frage noch.«

»Ja?«

»Hatte Hildreth Kinder? Mit Vivica oder sonst jemandem?«

»Ausgeschlossen. Er konnte Kinder nicht ausstehen. Wenn es um Kinder ging, war er ein echt komischer Kauz.«

»Hatte er vielleicht Verwandte mit Kindern?«

»Nein. Hildreth war ein Einzelkind.«

Danach verschwand Mack, der es offensichtlich eilig hatte, aber Westmore war mit seinen Antworten zufrieden und empfand seine gute Laune als ansteckend. Ach, Scheiße, ich hätte ihm auch die Pistole in die Hand drücken sollen, fiel ihm ein bisschen zu spät ein. Wenn diese »übernatürlich Begabten« Spinner waren, mochte eine herumliegende Schusswaffe keine gute Idee sein. Andererseits schien ihm das selbst übervorsichtig. Am besten ließ er sie einfach hier. Und er sollte auf vorschnelle Urteile verzichten, bevor er die anderen nicht näher kennengelernt hatte.

Westmore setzte die Untersuchung des Raums fort. Er fühlte sich unweigerlich an Edgar Allan Poes Kurzgeschichte ›Der entwendete Brief‹ erinnert, als er die dicke Lederkladde auf Hildreths Schreibtisch liegen sah. Es handelte sich um einen Monatsplaner, in den man Notizen kritzeln oder Termine eintragen konnte. Die Seite für den April war aufgeschlagen, schien jedoch leer zu sein ...

»Moment mal«, murmelte er und kniff die Augen zusammen.

... abgesehen von einer mit Filzstift angefertigten Markierung.

Ein rotes X im Feld für den 3. April.

Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Das Morddatum ...

Das mochte nichts zu bedeuten haben, dennoch kam es ihm ausgesprochen makaber vor. Es war eindeutig keine spontane Tat, wurde Westmore plötzlich klar. Hildreth wusste ganz genau, dass er diese Leute am 3. April töten würde, und wollte sich auf diese Weise daran erinnern.

Noch mehr ungeklärte Rätsel. Ich bin gerade erst eingetroffen, bremste Westmore sich selbst. Er neigte dazu, Fragen und Theorien im Schnellfeuertempo aneinanderzureihen, ohne in Ruhe darüber nachzudenken. Verhalte dich wie ein Journalist. Trage so viele Fakten wie möglich zusammen, um dann belastbare Schlussfolgerungen zu ziehen. So viel stand fest: Handfeste Fakten gab es derzeit noch nicht viele.

Er stöberte weiter herum und öffnete eine Kommode, in der er mehrere Stapel mit insgesamt vielleicht hundert DVDs entdeckte. Er sah sie sich näher an. Anstelle der erwarteten Pornocover waren die Rohlinge von Hand mit Datumsangaben aus dem vergangenen Jahr beschriftet. Zuerst überraschte ihn, dass die Polizei weder die DVDs noch die Pistole im Schreibtisch, das Geld oder weitere persönliche Gegenstände wie den Kalender konfisziert hatte, doch dann erinnerte er sich an das Gespräch mit Vivica. Sie hatte eine Menge Geld bezahlt, um den Bericht über Hildreths Tod zu manipulieren. Wahrscheinlich waren noch höhere Summen geflossen, um zu vermeiden, dass Beamte die Villa durchsuchten.

Westmore graute vor der Aufgabe, die ihn erwartete: Ich werde mich hinsetzen und mir all diese DVDs ansehen oder sie zumindest stichprobenartig untersuchen. Es spielte keine Rolle, wie attraktiv die Frauen waren. Bei Pornos ging es im Wesentlichen immer um das Gleiche. Mann, ich kann’s kaum erwarten ... Als er die Stapel vorsichtig aus dem Schrank herauszog, fiel ihm prompt einer herunter. »Verdammte Fresse, was bin ich für ein Trottel!«, brüllte er frustriert. Die Discs lagen wie ein Kartenspiel auf dem Boden aufgefächert. Als er in die Knie ging, um sie aufzuheben, stach ihm eine davon ins Auge.

Anders als die anderen war sie nicht mit einem Datum, sondern mit der Aufschrift HALLOWEEN-PARTY versehen.

Das dürfte eine BESONDERS interessante Scheibe sein ...

Er machte sich eine Gedankennotiz, diese DVD später als Erste anzusehen. Bevor er sich wieder aufrichtete, fiel ihm noch etwas anderes auf.

Vier Vertiefungen im Teppich unmittelbar neben der Kommode. Länge und Breite sowie Abstände schienen exakt dem Möbelstück zu entsprechen. Bei näherem Nachdenken gab es keinen Zweifel: Jemand hat diese Kommode erst vor Kurzem verschoben.

Als Westmore versuchte, das massive Teil selbst zu bewegen, wurde ihm klar, warum er Schriftsteller und nicht Handwerker geworden war: Körperlich hatte er nicht besonders viel zu bieten. Das lange Haar hing ihm lästig ins Gesicht, während er sich mit aller Macht gegen die Seitenwand stemmte. Dabei dachte er: Gottverdammt! Dieses Mistding wiegt mehr als ein verfluchtes Klavier! Aber obwohl er mächtig ins Schwitzen geriet und sich am nächsten Tag garantiert mit einem kräftigen Muskelkater herumquälen würde, gelang es ihm schließlich, die Kommode auf ihren ursprünglichen Platz zu rücken. Und er machte eine Entdeckung ...

Allmählich beginnt die Geschichte interessant zu werden.

Die Kommode hatte ein Ölgemälde verdeckt, das eine brünette junge Frau mit strahlenden Augen zeigte. Dieselbe Frau wie auf dem gerahmten Foto in der Schreibtischschublade. »Alles klar, Hildreth. Jetzt hast du mich neugierig gemacht«, murmelte Westmore. Eingehend betrachtete er das Gemälde, das offensichtlich neueren Datums war und trotzdem durch seine dunklen Wirbel und Pinselstriche den Stil der Hochrenaissance originalgetreu nachahmte. Es handelte sich um eine idyllische Nachtszene mit Bäumen, die einen Friedhof einrahmten. Davor stand das Mädchen in einem weiten, gerüschten blauen Kleid mit weißen Spitzen an den Bündchen und am Kragen. Sie wirkte in Gedanken versunken.

Ihre Hand deutete aus dem Bild heraus, wodurch es für Westmore so wirkte, als zeigte sie direkt auf ihn.

Interessant, dachte er. Und merkwürdig wie so vieles in diesem Haus ...

Dann kam ihm ein anderer Gedanke: Hatte der Künstler das Bild bewusst so gemalt, dass es aussah, als würde sie auf jeden deuten, der es anschaute, oder ...

Westmore drehte sich um. Da sich niemand im Raum aufhielt, zeigte das Mädchen auf die gegenüberliegende Wand, an der genau in einer Linie mit dem Gemälde ein weiteres Kunstwerk in einem identischen Rahmen hing.

Er ging hinüber und erkannte, dass es sich um einen antiken Kupferstich handelte, dessen Protagonist ihn eher an Michelangelo als an Raphael erinnerte. Ein alter Mann mit wallendem langem Haar und Bart beugte sich über einen Tisch und notierte mit einem Federkiel etwas auf einer Schriftrolle. Dem Künstler war es hervorragend gelungen, den Widerspruch in den Gesichtszügen und Augen des Mannes festzuhalten: Unverhohlene Furcht traf auf entrückte Verzückung. In der Ecke hatte sich der Künstler mit seinem Namen – Albrecht oder Albrekt – und einem erstaunlichen Datum verewigt: 1610. Am unteren Rand fand sich eine Gravur in italienischer Sprache. Eine kleine Goldplakette an der darunterliegenden Wand steuerte die offenkundig erst in jüngster Zeit ergänzte Übersetzung bei: DER APOSTEL JOHANNES BEIM VERFASSEN DER OFFENBARUNG IN PATMOS, CIRCA 90 N. CHR.

Mit zusammengekniffenen Augen bewegte sich Westmore näher an den Kupferstich heran und bemerkte die aufwendig gravierte Punktierung am oberen Rand der Schriftrolle, die das Wort REVELATIO ergab, unmittelbar darunter stand: CAPIT 13.

Kapitel 13 im Buch der Offenbarung, dachte Westmore mit gerunzelter Stirn. Es galt als Fixpunkt für unsinnigen christlichen Mystizismus, für Apokalyptik und ...

Und für die Freaks, die auf Okkultismus und Teufelsanbetung abfahren, ist Kapitel 13 der Knüller schlechthin. Das wusste Westmore, zumal Johannes darin die geheimnisvolle Zahl des Tieres preisgab: 666.

Alles Humbug, davon war Westmore überzeugt, und fühlte sich in seinem Urteil über Hildreth bestätigt: Der Mann war ein Spinner gewesen.

Jemand hätte Johannes sagen sollen, dass die wahre Zahl des Tieres Donald Trumps Telefonnummer ist, scherzte er in Gedanken und kehrte zum Schreibtisch zurück. Dort holte er abermals den Schnappschuss des brünetten Mädchens hervor und hielt ihn zum Vergleich direkt neben das Gemälde. So ließ sich deutlich erkennen, dass der wohl von Hildreth beauftragte Künstler dieses Foto als Vorlage benutzt hatte. Die Signatur des Malers fand sich zusammen mit einem Datum in der rechten unteren Ecke wieder: Es lag etwa ein Jahr zurück. Ohne triftigen Grund drückte Westmore einen Finger gegen die Leinwand und stellte fest, dass sie wie erwartet trocken war.

Dennoch kam ihm etwas merkwürdig vor: Das Gemälde bewegte sich nicht, wie es normalerweise der Fall war, wenn man es mit einem Nagel an der Wand befestigte.

Westmore drückte gegen die Ecke und versuchte, das Bild abzunehmen. Es rührte sich zuerst nicht. Er setzte mehr Kraft ein, spürte, wie der Rahmen nachgab, und zog noch stärker daran. Schließlich glitt es mehr oder weniger von der Wand weg. Das hat jemand mit Dübeln befestigt, erkannte er, als er hinter den Rahmen linste. Und er sah noch etwas anderes. Was um alles in der Welt ist das?

Er zerrte noch einige Male daran herum, dann löste es sich endgültig von der Wand und offenbarte ...

... ein weiteres Gemälde in einem Rahmen.

Es war mehrere Zentimeter tief in die Wand eingelassen, offenbar die Maßanfertigung eines Schreiners. Westmore drehte die Schreibtischlampe, sodass sie direkt in die große viereckige Vertiefung leuchtete. Es handelte sich um einen weiteren Kupferstich, der unglaublicherweise noch älter wirkte als der andere und sich in einem Gehäuse aus Plexiglas befand.

Westmore begutachtete das Werk. Statt des alten Johannes, der zur Feder griff, war hier ein junger Kupferstecher mit kurzem lockigem Haar, einer etwas zu groß geratenen Nase und zu konzentrierten Schlitzen verengten Augen verewigt. Er bearbeitete mit dem Stichel die Kupferplatte und schuf das Ebenbild einer grässlichen Fratze. Wie bei dem anderen Kupferstich fand sich die rätselhafte Albrecht-Signatur und die Jahreszahl 1599.

Diesmal verliefen entlang des unteren Rands Worte auf Deutsch. Westmore beherrschte die Sprache zwar nicht, aber wiederum hielt eine kleine Plakette praktischerweise die Übersetzung parat: ICH, WIE ICH ES WAGE, DAS ANTLITZ AUS MEINER VISION NACHZUBILDEN: BELARIUS.

Also hat Albrecht ein Selbstporträt graviert, dachte Westmore. Und Belarius? Er kniff die Augen noch konzentrierter zusammen. Muss diese potthässliche Fresse sein, die er gerade graviert. Ein Bild im Bild.

Westmore konnte mit seiner Entdeckung nichts anfangen. Gut, Hildreth mochte den Kupferstich versteckt haben, weil er wertvoll war, aber wozu der Aufwand, das Gemälde der Brünetten hinter der Kommode zu verbergen? Trotzdem schien die junge Frau seine bislang vielversprechendste Spur zu sein, auch wenn es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um Hildreths Tochter handelte.

Wer mochte das Mädchen sein?

»Immerhin ist es ein Anfang«, murmelte er, nicht ganz unzufrieden mit den Entdeckungen des Tages.

Ich frage mich ...

Adrenalin strömte durch seinen Körper, als er an dem Kupferstich zog und spürte, dass dieser nachgab, genau wie zuvor schon das Gemälde. Als er ihn jedoch von der Wand nahm ...

»Oh nein! Nicht noch mehr DVDs!«

In einem Fach hinter dem Kupferstich lag ein kleiner Stapel der silbernen Scheiben. Stöhnend holte Westmore ihn heraus, dann fiel ihm etwas anderes auf.

Eine Naht in der Rückwand aus schwarzem Samt sowie ein winziges Seidenband, dessen Zweck er sofort durchschaute.

Das sind Türen ...

Er zog an dem Band. Die schwarze Rückwand teilte sich und gab den Blick auf einen hochwertigen Wandtresor frei. Ein Bild im Bild ... und ein Panzerschrank, um den ihn so manche Bank beneiden würde!

Gebürsteter Edelstahl schimmerte ihm entgegen. Im Zentrum ein mit Zahlen beschrifteter Drehregler aus Messing, daneben ein massiver Riegelgriff aus Stahl. Es mochte einer der grundlegendsten menschlichen Instinkte sein, aber Westmore brannte darauf zu erfahren, was sich im Inneren befand. Er stellte sich Juwelen und Geldbündel vor.

Welche Geheimnisse mochten noch auf ihn warten?

Jetzt brauche ich nur noch die Kombination ...

»Ich weiß nichts von irgendwelchen Tresoren«, teilte ihm Vivica Hildreth eine Minute später über ihr Mobiltelefon mit.

»Dieser ist hinter einem Gemälde und einem Kupferstich in seinem Büro im zweiten Stockwerk versteckt«, präzisierte Westmore. »Sind Sie sicher, dass Sie ihn nie gesehen haben?«

»Wie ich Ihnen schon bei unserem Treffen mitgeteilt habe, Mr. Westmore, bin ich noch nie in der Villa gewesen.«

»Ach ja, richtig. Aber hat Ihr Mann nie einen Tresor erwähnt?«

»Nein.«

»Also, ich möchte wirklich gern wissen, was in dem Safe ist, und ich bin sicher, Sie möchten das auch. Könnte Mack die Kombination kennen?«

»Er dürfte auch nichts von dem Safe wissen, und ich bin sicher, dasselbe gilt für Karen. Sonst hätte einer von den beiden es erwähnt.«

Scheiße ...

Vivica schien nicht zu den Frauen zu gehören, die sich ihre Erregung anmerken ließen, aber die lange Pause in der Leitung verriet ihr Interesse.

»Ich werde Mack einfach fragen.«

Plötzlich grenzte der Tonfall ihrer Stimme an Verärgerung. »Fragen Sie Mack und Karen.«

»Aber Sie haben doch gerade gesagt, dass die zwei ...«

»Mir ist egal, was ich gesagt habe. Fragen Sie beide, und wenn sie die Kombination nicht kennen, dann brechen Sie den Tresor auf.«

Westmore musste beim Blick auf den Safe ein Lachen unterdrücken. »Sie verstehen nicht, wir reden hier von keinem Sparschwein, sondern von einem Tresor, an dem sich so mancher Einbrecher die Zähne ausbeißen würde. Ich müsste ...«

»Tun Sie, was nötig ist, um ihn zu öffnen. Scheuen Sie keine Kosten und Mühen. Sagen Sie Mack Bescheid. Und richten Sie ihm aus, er soll mich anrufen; er soll mich eigentlich mehrmals täglich anrufen.«

»Ich sage es ihm. Er war gerade hier.« Westmore wollte noch die gefundenen 10.000 Dollar erwähnen, verwarf die Idee jedoch sofort. Warten wir ab und schauen, was passiert. Mal sehen, wie lange es dauert, bis er ihr davon erzählt. Ob Mack das Geld möglicherweise einfach einsteckte? Es schien die einfachste Möglichkeit zu sein, die Loyalität des Sicherheitschefs auf die Probe zu stellen, vor allem, weil Vivica sich gerade darüber ausgelassen hatte, dass er seine Pflichten vernachlässigte. »Ich suche ihn auf der Stelle.«

»Tun Sie das. Und sagen Sie diesem dreisten Penner, er soll lange genug die Hand aus der Hose nehmen, um seinen Job zu erledigen.«

Ui, sie ist echt stinksauer! »Ja, Ma’am.«

Eine weitere Pause, dann zischte sie: »Ich will wissen, was in diesem gottverdammten Safe ist, Mr. Westmore. Ich verlasse mich darauf, dass Sie es herausfinden.«

»Verstanden.«

Klick.

Was war das denn für eine Szene ... Dann stöhnte Westmore; er hatte ganz vergessen, sie zu fragen, ob sie etwas über die Brünette auf dem Foto wusste. Angesichts ihrer gereizten Stimmung hatte er jedoch nicht vor, sie gleich noch einmal anzurufen.

Stattdessen spürte er Mack über die Videoanlage im Südatrium auf. »He, Mack. Kennen Sie die Kombination für Hildreths Tresor?«

»Es gibt keinen Tresor.«

»Ich habe ihn direkt vor mir.«

»Im Büro?«

»Genau.«

»Ich wusste nichts davon. Macht mich ziemlich sauer. Ich dachte immer, er hätte mir vertraut.«

»Jedenfalls ist hier ist ein Safe und Vivica verlangt, dass er geöffnet wird.«

»Sie haben ihr davon erzählt?«

Westmore grinste. »Natürlich. Und sie will ihn geöffnet haben, koste es, was es wolle. Das hat sie so gesagt. Außerdem soll ich Ihnen ausrichten, dass sie dringend auf Ihren Anruf wartet.«

»Scheiße. Klang sie sauer?«

»Ich würde sagen, das ist ziemlich treffend formuliert.«

»Scheiße. Na schön, kümmern Sie sich um den Safe.«

»Wie?«

»Rufen Sie einen Schlüsseldienst an. Ich kümmere mich um Vivica.«

»In Ordnung. Ach, könnten Sie bitte Karen fragen, ob Sie etwas über den Tresor weiß?«

Aber Mack hatte bereits aufgelegt.

»Von welchem Tresor soll Karen etwas wissen?«

Erschrocken wirbelte Westmore herum. »Schleichen Sie sich doch nicht so heran.«

»Warum nicht?«, fragte Karen von der Tür her. »Nervös? Schreckhaft?«

»In einer Villa, in der erst vor wenigen Wochen über ein Dutzend Menschen abgeschlachtet wurde? Ja, ein klein wenig vielleicht.«

»Ich wusste nicht, dass Hildreth hier drin einen Tresor hat«, erklärte sie und kam herein. Sie trug nach wie vor ihre engen Lederjeans. Die Figur, die sie in ihren Jeans und dem grauen Schlauchtop abgab, lenkte Westmore so sehr ab, dass es ihn fast schon ärgerte. Mit einem Drink in der Hand, in dem Eiswürfel schwammen, betrachtete sie den Safe.

»Wer ist dieses Mädchen?«, fragte er und zeigte mit einem Finger auf das Gemälde.

»Keine Ahnung.« Allerdings schien Karen nicht besonders genau hingesehen zu haben.

»Und was ist mit diesem Mädchen?« Er zeigte ihr das Foto.

»Das ist dieselbe junge Frau«, stellte sie fest. »Bin ihr nie begegnet.« Ihr Blick ruhte weiterhin auf dem Tresor. »Macht mich echt sauer, dass er mir nichts von dem Safe erzählt hat.«

»Mack hat dasselbe gesagt. Vielleicht waren Sie beide nicht so ›eingeweiht‹, wie Sie immer dachten.«

»Ich habe mich nie für ›eingeweiht‹ gehalten«, gab Karen zurück, als hätte die Äußerung sie beleidigt. »Gut, dass Sie nicht mehr trinken. Bei der Bar unten kämen Sie sonst schnell auf andere Gedanken.« Karen prostete ihm zu. »Das ist 24 Jahre alter Glenlivit

Westmore knirschte mit den Zähnen. Vielen Dank auch, Gott ...

Karen begriff auf Anhieb. »Dieses Gemälde war also hinter der Kommode, und Sie haben die Kommode weggeschoben.«

»Ja.«

»Und die junge Frau zeigt auf ...« Sie drehte sich um. »Den guten, alten Johannes, der das Buch der Offenbarung schreibt. Das wäre zu einfach, oder?«

Westmore verstand, worauf sie hinauswollte, und kam sich schlagartig dumm vor. Er eilte zum Tresor und legte die Hand auf dessen Drehknopf.

Karen beobachtete ihn belustigt und zitierte: »›Die Könige auf Erden sind betrunken geworden von dem Wein ihrer Hurerei ...‹«

»Was?«

»Na los, versuchen Sie es schon!«

Westmore stellte die Kombination 6-6-6 ein.

Nichts.

Danach probierte er es mit 13-18 und Variationen dieser Zahlen.

Ergebnislos. »Sie haben recht, das ist zu einfach.« Also suchte er aus dem Telefonbuch die Nummer eines Schlüsseldienstes in der Nähe heraus. Dabei fiel ihm auf, dass Karen gelangweilt den zweiten Kupferstich betrachtete, das Selbstporträt.

»Ist er verkabelt?«, erkundigte sich die raue Stimme eines Mannes am anderen Ende der Leitung.

»Ich ... weiß es nicht.«

»Sind irgendwelche Lichter dran?«

»Nein.«

»Hat das Ding ein Tastenfeld oder irgendwelche Knöpfe auf der Tür?«

»Nein.«

»Dann ist er nicht verkabelt und wir können ihn öffnen. Ich komme morgen Vormittag vorbei.«

Westmore runzelte die Stirn. »Wie wär’s mit heute Abend? In Ihrer Anzeige steht, Sie sind 24 Stunden täglich verfügbar.«

»Das berechnen wir extra.«

»Kein Problem. Hauptsache, das Ding ist so schnell wie möglich offen.«

»In Ordnung. Dann kommt gleich jemand von meinen Leuten vorbei. Sagen wir gegen 22:00 Uhr?«

»Perfekt! Danke.«

»Was ist das?« Karen hatte den Kupferstich entdeckt.

»Der war hinter dem Gemälde der jungen Frau in die Wand eingelassen. Schräg, was?«

»In diesem Haus ist so einiges schräg.« Sie setzte sich mit gespreizten Schenkeln auf den Schreibtisch. »Heute bekommen wir eine besonders große Ladung davon ab.«

»Was meinen Sie? Den Safe?«

»Nein, ich meine die da unten. Die sind mir auf die Nerven gegangen, also habe ich mich davongemacht und nach Ihnen gesucht.« Sie leerte den Scotch und setzte sich auf ihre Hände. Die Pose wirkte aufreizend und Westmore vermutete, dass sie es absichtlich tat, um ihn aufzugeilen.

Er wandte den Blick ab und widmete sich den DVD-Stapeln. »Ist unten irgendetwas Konkretes vorgefallen?«

»Kann man wohl sagen. Willis hat im zweiten Stock etwas gesehen und wäre beinahe zusammengeklappt ...«

»Er ist zusammengeklappt und hat sich übergeben. In einem der Salons. Ich habe ihm vorhin geholfen.«

Mittlerweile ließ sie die Beine baumeln wie ein Kleinkind, das auf einer Mauer saß. »Irgendetwas an ihm beunruhigt mich. Ich glaube, das ist kein Faker.«

»Was ist mit den anderen?«

»Weiß ich nicht. Über die versponnene Schnepfe habe ich einen Artikel gelesen. Auch sie hat was an sich, das echt zu sein scheint.«

»Vielleicht ist sie auch nur echt drogensüchtig.«

»Vielleicht. Und Cathleen wurde vergewaltigt.«

Westmore rutschte vor Schreck der Stapel aus den Händen, den er sich gerade vorgenommen hatte. »WAS?«

»Sie behauptet, sie sei von einer ›subkarnaten spirituellen Instanz‹ sexuell berührt worden, womit wohl ein Geist gemeint ist.«

»Um Himmels willen ...« Westmore zündete sich eine Zigarette an und stellte fest, dass er größere Lust auf Karens leeres Scotch-Glas als auf ihre gespreizten Beine hatte. »Und Sie glauben, sie ist ein echtes Medium?«

»Das bezweifle ich. Sie scheint mir eher eine Hochstaplerin zu sein, aber – Mann – was für ein Körper. Macht mich neidisch ... genau wie Vivica. Manches ist einfach nicht fair.« Seufzend legte sie sich flach auf den Schreibtisch. »Und keine Sorge, ich will Sie nicht anbaggern, indem ich mich so hinlege. Ich bin nur ... wirklich müde.«

»Verstehe.«

»Und Sie sind der Einzige in diesem Irrenhaus, in dessen Gegenwart ich mich wohlfühle.«

Ich schätze, das war ein Kompliment. Westmore tat, was er immer tat, wenn er sich unbehaglich fühlte: Er wechselte das Thema. »Und Nyvysk? Echt oder falsch?«

Auf dem Rücken liegend und mit geschlossenen Augen zuckte Karen mit den Schultern. »Nyvysk behauptet nicht, übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen. Er arbeitet bloß mit technischem Kram. Und er führt Exorzismen durch.«

»Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Ich wünschte, es wäre so. Wir haben jemanden damit beauftragt, Hintergrundinformationen über diese Leute zu beschaffen, bevor Vivica sie engagiert hat. Ich konnte einen kurzen Blick in die Lebensläufe werfen. Nyvysk ist ein ehemaliger Priester, der über 20 Jahre lang Exorzismen vorgenommen hat. Er war überall auf der Welt im Einsatz.«

»Ein ehemaliger Priester? Wieso ehemalig?«

»Irgendwas mit Sex. Wie bei den Meisten aus der Truppe. Ich bin sicher, Sie werden die schmutzigen Details bald erfahren.«

Westmore war sprachlos. Irgendwas mit Sex ... Er wollte es gar nicht genauer wissen. Dann starrte er missmutig auf die DVDs, die er sich vornehmen wollte. Sex-DVDs. Unzählige Stunden.

»Es wird langsam Zeit fürs Abendessen«, sagte Karen und rappelte sich vom Schreibtisch auf. »Gehen wir runter und sehen nach, ob sich die Freakshow beruhigt hat.«

Westmore folgte ihr verwirrt und aufgewühlt nach draußen. Als sie durch den dunklen Flur gingen, wurde er das Gefühl nicht los, dass sich die Gesichter auf den Ölgemälden und sämtliche Statuen verändert hatten, doch er wusste, dass es Einbildung sein musste.

»Ich vermute, Nyvysk ist schon runtergegangen«, sagte Karen und deutete auf die Tür der Kommunikationszentrale. Sie war geschlossen.

»Nein«, widersprach Westmore und verharrte mitten im Schritt. »Ich höre ihn da drinnen reden.« Er stellte sich an die Tür und vernahm leise Stimmen.

»Hören Sie auf zu lauschen und kommen Sie«, drängte ihn Karen. Sie ergriff seinen Arm und zog ihn hinter sich her. »Ich bin fast am Verhungern!«

Während Westmore regelrecht zur Treppe geschleift wurde, dachte er: Ich wüsste zu gerne, mit wem er sich da unterhält. Denn er war sicher, mehr als nur eine Stimme in dem Raum gehört zu haben.