Kapitel 2

I

Westmores Selbstvertrauen schwand rapide, als er am Baywalk-Einkaufszentrum aus dem Bus der Linie 35 stieg. Im Schaufenster einer noblen Designerboutique konnte er sein Spiegelbild erkennen. Du lieber Himmel, ich sehe aus wie ein Tourist ... weiße Hose, Slipper und ein weites blau-gelbes Hawaiihemd mit Ananasmuster. Er hätte einen Anzug getragen, wenn er noch einen besitzen würde. Der war seiner Selbstfindung zum Opfer gefallen, als er bei der St. Petersburg Times gekündigt hatte, um sich selbstständig zu machen. Er war in eine wirklich kleine, wirklich billige Wohnung gezogen, hatte das Auto verkauft – ohne Führerschein durfte er sowieso nicht mehr fahren – und alle Kleider, die er nicht unbedingt brauchte, sowie sonstigen Krempel der Wohlfahrt gespendet. Außer der weißen Hose und dem Ananashemd besaß er keine sauberen Klamotten mehr.

Da sind 10.000 Dollar per Express Mail ein mehr als verlockendes Jobangebot.

Er hatte eine oberflächliche Suchmaschinenrecherche zu Vivica Hildreth durchgeführt und nichts Nennenswertes gefunden. Dafür reichlich über ihren Ehemann, den unlängst verstorbenen Reginald Parker Hildreth – hauptsächlich Links zu Vertriebspartnern von Porno-DVDs. Seine Frau hingegen blieb eine unbekannte Größe, was sein Misstrauen geweckt hätte, wären da nicht ...

Zehn verfluchte Riesen in einem Expresspaket, erinnerte er sich. Noch dazu bar, nicht einmal in Form eines Schecks. Ein äußerst lautes Hallo.

Die Tampa Bay schillerte jenseits des Piers wie lindgrünes Eis in der grellen Sonne. Die pralle Sonne und der frische, salzige Meeresduft, der vom Wasser herwehte, erinnerten ihn daran, weshalb er ursprünglich nach Florida gezogen war. Als weitere Gedächtnisstütze dienten mehrere unverschämt attraktive Strandschönheiten in provokativ knappen Bikinioberteilen und hauchdünnen Sarongs. Seit Westmore bei der Zeitung gekündigt hatte, war er nicht mehr beim Friseur gewesen; mittlerweile besaß er eine schulterlange, dunkle Mähne, und als er die Second Avenue überquerte, traf ihn ein Windstoß ins Gesicht und blies ihm die zersausten Haare vor die Augen. Er griff nach seinem Kamm und runzelte die Stirn, als er merkte, dass er ihn vergessen hatte. Ja, ich werde wirklich einen großartigen Eindruck hinterlassen.

Vor ihm erstreckte sich das Zentrum von St. Petersburg, sauber und nicht überlaufen. Es war ein kleines, abwechslungsreiches Städtchen, das aus irgendeinem Grund das Flair einer Metropole ausstrahlte. Das Kneipenviertel kam ihm vor wie ein Best-of amerikanischer Gastrokultur: ein wenig Bourbon Street, vermengt mit etwas Rodeo Drive und gewürzt mit Krümeln von Baltimores Inner Harbor. Westmore gefiel das – feine, aber schlichte Lokale, kultivierte, aber authentische Menschen und schicke Bars. Als er jedoch an einer dieser Bars vorbeilief, verspürte er einen Stich im Herzen. Ja, er mochte diese Gegend, trotzdem kam er hier nicht gerne her. Er konnte sich selbst nicht mehr trauen.

Die Neonlaufschrift im bodenhohen Fenster der Martinibar hätte genauso gut seinen Namen anzeigen können. Er konnte die Traurigkeit und den Verlust eines Teils von sich – so schlimm er auch gewesen sein mochte – nicht gänzlich abschütteln.

Er folgte dem nächsten Häuserblock und trat aus dem Sonnenschein in den kühlen Schatten, den eines der höchsten Gebäude der Innenstadt warf. Ehe er sich’s versah, stand er vor seiner Lieblings-Austernbar und beobachtete, wie der geschickte Schäler mühelos die obere Schale von Muscheln entfernte, die größer als seine Hand waren. Während seiner Zeit bei der Zeitung hatte Westmore oft hier gegessen. Auch etwas anderes hatte er hier oft getan. Während er durch das Fenster starrte und die unzähligen Reihen erstklassiger hochprozentiger Tropfen begutachtete, dachte er mit vager Nostalgie daran zurück.

Schließlich wandte er sich ab.

Der Schatten der Straße fiel auf ihn herab. Er hatte das Strauss Building in der Vergangenheit unzählige Male gesehen: elegant, schmal, 40 Stockwerke hoch. Es sah aus wie ein riesiges Rechteck aus völlig glattem, völlig schwarzem Vulkanglas – denn die dunkel getönten Fenster bildeten zugleich die äußere Hülle des Gebäudes. Er hatte es oft gesehen, ja, aber er hatte lange nicht gewusst, dass es sich um einen Wohnturm handelte; Westmore hatte es immer für einen Bürokomplex gehalten. Vielleicht hat Vivica Hildreth hier ja ein paar Räume angemietet, ging ihm durch den Kopf. Oder vielleicht benutzte sie den Sitz der Firma ihres Mannes für das Vorstellungsgespräch. Dann jedoch erinnerte er sich an den Wortlaut des Briefs, in dem er ausdrücklich zu ihr »nach Hause« eingeladen wurde.

Ein ziemlich beeindruckendes Zuhause, dachte er, als er die vornehme Lobby betrat. Ein Sicherheitsangestellter trug ihn in eine Liste ein und nahm sogar mit einer Metalldetektor-Handsonde eine Leibesvisitation vor. Reiche Leute litten oft an Paranoia. Als Westmore zum Fahrstuhl ging, erhaschte er durch das Maschendrahtfenster einer Tür den Blick auf die Parkgarage. Ihm fielen ein Rolls-Royce, mehrere Porsches, ein Ferrari sowie etliche protzige Mercedes-Limousinen auf. Als sich die Türen des Lifts öffneten, trat eine Frau heraus und sagte: »Mr. Westmore, tut mir leid, dass ich zu spät komme.«

Er war überrascht. Die kleine, gut gebaute Frau mit dem zurückhaltenden Lächeln hätte in der bauchfreien Bluse aus schwarzem Leder über dem schlichten grauen Rollkragenpulli kaum steifer aussehen können. Komplettiert wurde der Look einer niveauvollen, aber sexy Büroleiterin von einem schwarzen Rock und hohen Absätzen. Perfekt gleichmäßige Stirnfransen, makellos glattes, rötlich-blondes Haar bis zum Ausschnitt kamen hinzu. Sie sah aus wie 40, war jedoch vermutlich erst 30 – die Sonnenbräune Floridas bewirkte so etwas bei Frauen und raute die Haut ein klein wenig auf. Andererseits ließ die beispielhafte Bräune darüber hinwegsehen und verstärkte irgendwie sogar die spröde Attraktivität.

Westmore hatte ein Bild von Vivica Hildreth gesehen. Als er ihre Hand schüttelte, sagte er: »Sie sind nicht ...«

»Nein, ich bin nicht Mrs. Hildreth. Mein Name ist Karen Lovell. Ich bin ... derzeit als Mrs. Hildreths persönliche Sekretärin engagiert.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Die Formulierung kam ihm merkwürdig vor, als wäre sie bis vor Kurzem etwas anderes gewesen. Bis zu Hildreths Tod?, fragte er sich.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden«, fuhr sie fort. »Mrs. Hildreth kann es kaum erwarten, Sie kennenzulernen.«

Er betrat mit ihr den Aufzug und beobachtete, wie sich die Türen geräuschlos schlossen. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, versuchte er eine Unterhaltung anzustoßen. »Ich bin Enthüllungsjournalist und lebe schon eine ganze Weile in der Gegend. Trotzdem habe ich von der Hildreth-Villa nie etwas gehört.«

Sie sah ihn wieder mit diesem feinen, zurückhaltenden Lächeln an. Eine zierliche Brille unterstrich die Intensität ihrer strahlend blauen Augen. Sie erwiderte nichts.

Tja. »Wo genau befindet sie sich?«

»Ich würde es vorziehen, vorläufig nicht über das Haus zu reden, Mr. Westmore. Mrs. Hildreth wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen.«

»Aber ich vermute mal, sie möchte mich engagieren, damit ich einige Dinge enthülle, die sie nicht weiß.«

Keine Erwiderung, während der Aufzug nach oben fuhr. Barocke Hintergrundmusik drang fast unhörbar aus unsichtbaren Lautsprechern.

Brauche ich ein verdammtes Brecheisen, um deinen Mund aufzukriegen, damit du redest? »Zumindest läuft es normalerweise so. Wenn mich jemand engagiert, damit ich für ihn schreibe, geht es auch darum, dass ich Dinge in Erfahrung bringen soll.«

»Noch sind Sie nicht engagiert ...«

Ich mag Frauen mit positiver Persönlichkeit, meldete sich unweigerlich sein innerer Sarkasmus zu Wort. Westmore schüttelte ihn ab. Er war es gewohnt, dass man ihm mit einer abweisenden Haltung begegnete. Wer vertraute schon einem Reporter? Wahrscheinlich befürchtete sie, er würde eine Menge übles Zeug über den Ehemann oder vielleicht sogar über Vivica selbst ausgraben. Eine Mitarbeiterin mit allzu ausgeprägtem Schutzinstinkt.

Sie drehte einen Schlüssel in einem ungekennzeichneten Schlüsselloch neben dem Tastenfeld, während der Aufzug weiter nach oben fuhr. Der Duft, der von ihrem Haar ausging, war berauschend. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich hoffe, Sie bekommen den Auftrag«, meinte sie schließlich. »Mrs. Hildreth ist eine äußerst komplexe, detailversessene Persönlichkeit. Es würde ihr immens guttun, herauszufinden, was genau in der Villa vorgefallen ist. Es mögen unangenehme Informationen sein, Mr. Westmore, aber sie würden ihr zumindest etwas Frieden bescheren.«

Jetzt kommen wir langsam weiter. Die Äußerung verriet ihm eine ganze Menge. »Ich werde mein Bestes geben. Das versuche ich eigentlich immer.«

Westmore blickte auf die beleuchtete Etagenanzeige. Das oberste Stockwerk war 39. Die 38 leuchtete auf und erlosch, dann leuchtete die 39 auf und erlosch. Der Lift fuhr noch einen Stock weiter – vermutlich zum Penthouse –, dann hielt er an und die Türen glitten auf.

»Ich verlasse Sie jetzt, Mr. Westmore. Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Gespräch.«

Westmore schüttelte ihr die Hand. »Sie kommen nicht mit rein?«

»Nein. Der Sicherheitsmitarbeiter und die Haushälterin sind auch weg. Mrs. Hildreth möchte unter vier Augen mit Ihnen reden. Absolut vertraulich. Man weiß schließlich nie, wer etwas belauschen und ein loses Mundwerk haben könnte.«

Hm. Diese Angelegenheit wurde von Minute zu Minute interessanter, dabei hatte er seine potenzielle Auftraggeberin noch gar nicht kennengelernt.

»Ich warte auf der gegenüberliegenden Straßenseite in der Austernbar auf Sie. Kommen Sie dorthin, wenn Sie fertig sind, dann fahre ich Sie nach Hause.«

»Prima, dann brauche ich zurück nicht den Bus zu nehmen. War schön, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er, aber der Duft ihrer Haare raubte ihm schier den Verstand. Schätzchen, du bist ein eiskalter Fisch ... aber dein Haar riecht so gut, dass ich mich am liebsten zurücklehnen und aus voller Kehle jauchzen möchte.

»Bis bald, Mr. Westmore«, sagte sie, als die Türen wieder zuglitten.

Wow, die ist irgendwie schräg. Westmore fand sich vor einem beeindruckenden Portal wieder, das vollständig aus schwarzem Marmor zu bestehen schien. Auf einem goldenen Schild stand V. HILDRETH, darüber hing ein höchst merkwürdiger Klopfer aus Gold – ein ovales Schemen, das ein finsteres, nur unzureichend ausgeformtes Gesicht darstellte. Nur zwei Augen, kein Mund, keine sonstigen Konturen. Die Augen schienen ihn zu mustern. Als er die Hand hob, um anzuklopfen, klickte die Tür und schwang langsam auf.

Er betrat das Foyer, wo er niemanden antraf. Muss wohl ein elektrisches Schloss sein ...

Die Gestaltung des Vorzimmers verblüffte ihn. Bestanden die Wände aus schwarzem Plexiglas? Der Boden setzte sich aus glänzenden schwarzen und weißen Fliesen zusammen und ein Spiegel bildete die Decke. Drahtregale beherbergten Designer-Silbervasen mit riesigen schwarzen Seidenblumen. Total Art déco, dachte Westmore. Weit vom Stil ihres Ehemanns entfernt.

»Bitte hier herein, Mr. Westmore.«

Die nüchterne Stimme drang aus einem anderen Raum an seine Ohren. Ein beeindruckendes Wohnzimmer schloss an das Foyer an, aber auf den Sofas und Stühlen aus Drahtgeflecht, nach seinem Dafürhalten im Warhol-Stil gehalten, saß niemand. Eine prächtige blauviolette Tapete erstreckte sich bis zur abgerundeten Decke. An einer Wand hing ein abstrakt gehaltenes, expressionistisches Gemälde, an das er sich aus dem Kunstunterricht am College erinnerte: ein verschmiertes Gesicht aus Pastellfarben, ein Gesicht, das zugleich hoffnungsvoll, niedergeschlagen und hässlich wirkte. Es hieß Studie einer Frau Nummer eins und stammte von Willem de Kooning. Er würde fast darauf wetten, dass es sich nicht um einen Nachdruck handelte. Wenn das wirklich das Original ist, hängen dort an der Wand rund zehn Millionen Dollar, schoss ihm durch den Kopf.

Durch einen merkwürdig schmalen Durchgang lächelte ihm Helligkeit entgegen.

»Hier drinnen. Ich verspreche Ihnen, ich beiße nicht.«

Westmore betrat einen geschlossenen Balkon, der vor verzerrtem Sonnenlicht regelrecht gleißte. Fast musste er die Augen abschirmen. Was für ein seltsamer Ort, dachte er. Der direkte Blick zum Himmel blieb verwehrt, den gesamten Raum umschlossen transparente Sicherheitselemente.

»Sie wohnen im Penthouse, wollen aber die Aussicht auf die Bucht nicht genießen?«, fragte er, ohne nachzudenken.

Die Frau, die zu ihm aufsah, war auf eine erhabene, reife Art unheimlich gut aussehend. Ende 40, aber man sah, dass sie viel Wert auf ihr Äußeres legte. Vivica Hildreth saß auf einem der allgegenwärtigen silbernen Stühle, der in der Luft zu schweben schien. Westmore hatte eine gesetzte Dame erwartet und wurde vom Gegenteil überrascht. So sieht dann wohl ein legeres Outfit für Reiche aus. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und trug schwarze Kaschmirshorts sowie ein dunkles Halstuch mit Paisleymuster über einem dunklen T-Shirt, auf dem in weißen Blockbuchstaben ROTHKO stand. Es war vorne zusammengeknotet, sodass ein flacher und sonnengebräunter Bauch zum Vorschein kam. Schwarze Flipflops mit – Grundgütiger! – Diamanten in den Riemen. Die Finger- und Zehennägel glänzten dank Blattgoldlack. Klarer Fall von Reizüberflutung, dachte Westmore.

»Ich liebe die Sonne, Mr. Westmore«, meinte sie mit einem Blick auf die durchscheinenden Sicherheitselemente, »aber ich werde nicht gern gesehen.«

»Würde man Sie im 40. Stock denn sehen?«

»Diese fürchterlichen Strandflugzeuge mit den Werbebannern! Gott!«

Es war eine belustigende Äußerung, aber ... meint sie das ernst? »Warum sind Sie dann so braun gebrannt? Ein Studio?«

»Ich habe eine Sonnenbank hier.« Sie betrachtete erst ihre Beine, dann ihre Arme. »Sie funktioniert gut. Jedenfalls hoffe ich, dass Ihnen mein Zuhause gefällt. Die meisten Menschen empfinden es als inspirierend.«

Es ist eine Beleidigung für die Augen. »Es ist abwechslungsreich und einzigartig«, erklärte er diplomatisch. Ihre elegante Hand bedeutete ihm, sich zu setzen. Das Drahtgeflecht protestierte krächzend, als er auf einem Kissen aus durchsichtigem Kunststoff Platz nahm, das mit bunt gefärbten Gänsefedern gefüllt war. »Und danke, dass Sie mich hierher eingeladen haben ... und auch für das Geld.«

»Sie brauchen also Geld«, stellte sie nüchtern fest, ohne es als Frage zu formulieren. »So wie wohl jeder andere auch.« Ihre Stimme klang zwar nüchtern, doch trotzdem leicht beschwingt. Hellblondes glattes Haar hing ihr bis zum Schlüsselbein. Anmutig saß sie da. Ihre Züge wirkten ruhig, aber der Blick der myrtengrünen Augen fühlte sich durchdringend an. Insgesamt strahlte sie ein exotisches Flair aus, nicht das einer in die Jahre gekommenen Frau. Sie war atemberaubend exzentrisch, ihr voller Busen trug sicher seinen Teil dazu bei. Westmore fühlte sich an eine Lauren Hutton oder Jacqueline Bisset in Gruftilook erinnert.

»Ich bin nicht arm, aber ...«

»Aber Sie haben keinen de Kooning an der Wand hängen«, beendete sie den Satz lächelnd für ihn.

Er musste grinsen. »Nein, Ma’am, habe ich definitiv nicht.«

»Ich habe gesehen, wie sie ihn begutachtet haben.« Ein eleganter Finger wies nach oben an die verspiegelte Decke des Wohnzimmers. »Im Spiegel. Falls Sie Kunstliebhaber sind, können Sie sich gern im Arbeitszimmer umschauen, bevor Sie gehen. Man weiß dort gar nicht, wo man zuerst hingucken soll.«

»Mach ich«, erwiderte er und geriet dabei fast ins Stottern. Das fing ja gut an. »Allerdings überrascht mich die Einrichtung der Wohnung. Laut den spärlichen Informationen über Ihren verstorbenen Mann war er in Sachen Architektur und Design eher ein Fan von Neogotik. Das hier ist eigentlich das genaue Gegenteil.«

»Also haben Sie sich die Hildreth-Villa angesehen?«

»Nein, das nicht. Bevor ich Ihren Brief erhielt, hatte ich noch nie davon gehört. Aber ich erinnere mich, eine kurze Meldung in der Zeitung darüber gelesen zu haben, als ... als sich die Tragödie vor einigen Wochen ereignete. Mord in Prospect Hill. Wenn ich mich recht erinnere, wurde das Haus in dem Artikel nicht namentlich erwähnt.«

»Nein, das wurde es nicht, dafür habe ich bezahlt.«

Ihre Direktheit ließ ihn verstummen. Die Reichen fanden also auch heute noch Mittel und Wege, um Einzelheiten über Familienverbrechen aus der Öffentlichkeit herauszuhalten.

Als sie das Gewicht verlagerte, knarzte der Stuhl. Sie deutete auf die Wand hinter ihm. Ihre veränderte Haltung enthüllte weitere Details ihres Körpers – durch die Drehung ihrer Hüfte drängte sich das T-Shirt enger an ihren Busen. Westmore war ihr bereits jetzt regelrecht verfallen. Durch die übereinandergeschlagenen Beine lagen die Shorts eng am Schritt an, auch die offensichtlich ohne BH unter dem T-Shirt verborgenen Brüste machten ihn an. Einer der bestimmt 20.000 Dollar teuren Flipflops hing vom makellos pedikürten Fuß. Westmore verspürte eine lächerliche Erregung. Sogar die hauchdünnen Linien an ihrer Taille empfand er als attraktiv. Manchen Frauen stand das mittlere Alter gut – dieser Frau stand es wie ein teurer Nerzmantel. Ich wette, sie hat für Schönheitsoperationen mehr als für den de Kooning hingeblättert. Aber sie hatte hinter ihn gezeigt, weshalb er den Blick wohl oder übel von ihr losreißen musste. »Ich würde Ihnen ja einen Drink anbieten, aber meine Leute haben mich darüber informiert, dass Sie Antialkoholiker sind.«

Da platzt die erste Bombe. Bei diesem Thema redete er nie lange um den heißen Brei herum. »Im Gegenteil, ich bin Alkoholiker, Mrs. Hildreth. Das werde ich immer sein. Allerdings bin ich seit mittlerweile drei Jahren trocken.« Sie hatte auf eine elegante Bar gezeigt, eine Glastheke mit dem unvermeidlich scheinenden Silberdrahtgestell. Vor bizarren Flaschen mit abstrusen Formen waren schwarze Schnapsgläser in einer Reihe aufgestellt. »Allerdings gefallen mir diese Gläser.«

Sie stand auf und ging so gesittet, wie es in Flipflops möglich schien, zur Bar. Westmore warf weiter verstohlene Blicke auf ihre Figur, auf die makellosen Linien ihrer Schultern und ihres Rückens, auf die Wölbung ihrer Brüste. Die glatte gebräunte Haut glänzte verführerisch. Die Schmetterlinge in seinem Bauch senkten sich in seinen Schritt, dann herrschte er sich in Gedanken an: Was zum Teufel ist bloß los mit dir? Du bist geil auf eine Frau, die 15 Jahre älter ist als du und noch dazu eine mögliche Auftraggeberin! Ob man sich wohl noch unprofessioneller verhalten kann?

Sie lächelte mit schmalen Lippen und drückte ihm eins der Schnapsgläser in die Hand. »Hier, nehmen Sie eins davon mit. Sie bestehen aus Onyx. Und ich bin froh, dass Sie nicht mehr trinken. Da haben wir etwas gemeinsam. Ich halte es für das Beste, zerstörerische Gelüste in Annehmlichkeiten umzulenken ... natürliche Annehmlichkeiten.«

Wow, konnte er nur noch denken. Ja, da hast du recht. Ich bin seit einem Jahr nicht mehr flachgelegt worden ... Er betrachtete ihre Waden und die femininen Rundungen, als sie auf ihren Platz zurückkehrte. »Danke für das Glas. Es ist wunderschön.«

»Mein Ehemann war genauso. Er hat nie getrunken oder Drogen genommen. Sein Rauschmittel war Sex.«

Wow, dachte Westmore abermals. Er setzte zu einer Erwiderung an, doch sie kam ihm zuvor.

Weitere unverhohlene Direktheit. »Ich möchte mir Ihre Verschwiegenheit kaufen, Mr. Westmore.«

Schätzchen, die ist käuflich. »Diskretion kann ich Ihnen garantieren, Ma’am. Hier geht es um einen privaten Auftrag. Ich bin kein Zeitungsreporter mehr. Allerdings bin ich immer noch nicht sicher, was genau ich für Sie tun soll. Möchten Sie, dass ich ein Buch über die Villa Ihres Mannes schreibe? Soll ich seine Biografie verfassen?«

»Nichts dergleichen. Aber zuerst versprechen Sie mir Ihre Verschwiegenheit.« Mit wogendem Busen beugte sie sich vor und drückte ihm einen dicken Umschlag in die Hand.

Allein daran, wie er sich anfühlte, merkte Westmore, dass er Geld enthielt. »Sie haben mir bereits einen großzügigen Vorschuss bezahlt.«

»Machen Sie ihn auf.«

Westmore kippte beinahe vom Stuhl. Geldbündel. Nicht zu knapp.

»Das sind 25.000 Dollar. Die bekommen Sie zusätzlich zu Ihrem Vorschuss. Auch diesen Umschlag können Sie selbst dann behalten, wenn Sie den Auftrag nicht annehmen. Gleich zu Anfang muss ich Ihnen etwas sagen, was Sie auf keinen Fall jemandem erzählen dürfen.«

Westmore konnte nicht mehr an sich halten, deshalb erwiderte er einfach, was ihm durch den Kopf ging. »Hören Sie, Mrs. Hildreth, ich bin genauso sehr hinter Geld her wie jeder andere auch, aber ... das ist verrückt. Sie kennen mich überhaupt nicht. Theoretisch könnte ich zusagen, das Geld nehmen und trotzdem den Mund aufmachen.«

»Seien Sie nicht albern! Natürlich steckt auch eine Verschwiegenheitserklärung in dem Umschlag.«

»Oh.« Er sah nach, zog das Dokument heraus und las es. Ziemlich eindeutig. Diese Frau meint es definitiv ernst.

»Unterschreiben Sie und das Geld gehört Ihnen. Und wenn Sie gegenüber irgendjemandem wiederholen, was ich Ihnen gleich erzähle, wird Ihnen das sehr, sehr leidtun.«

Westmore konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ist das eine Drohung?«

»Das ist ein eiskaltes Versprechen, Mr. Westmore. Ich beschäftige nicht bloß einen Anwalt. Ich beschäftige eine ganze Anwaltskanzlei. Wenn Sie gegen diese Vertraulichkeitsvereinbarung verstoßen, werden Sie so tief in Grund und Boden geklagt, dass Sie die nächsten hundert Jahre kein Sonnenlicht mehr zu Gesicht bekommen.«

Sie lächelte nicht.

»Glaub ich«, sagte er und unterzeichnete das Schriftstück. Er legte das Geld ungläubig und wie betäubt zur Seite.

Vivica musterte ihn mit einem unvermittelt abwesenden Blick.

»Ich bin bereit«, verkündete Westmore.

»Sie haben zuvor meinen ›verstorbenen‹ Mann erwähnt. Nun, Mr. Westmore, ich glaube nicht, dass er tot ist. Es gibt dafür keinerlei Beweise.«

Westmore runzelte die Stirn. »Ich habe die Todesanzeige gelesen. Selbstmord.«

»Die ist gefälscht.«

Westmore lehnte sich im Stuhl nach vorne. »Soll das heißen, Sie ...«

»Geld regiert die Welt. Ich habe die richtigen Personen dafür bezahlt, die Todesanzeige und die angeblichen Ermittlungsergebnisse der Polizei zu fingieren.«

»Wer liegt dann im Grab Ihres Mannes? Etwa eine Woche nach dem Selbstmord wurde eine Beerdigung angekündigt.«

»Jedenfalls nicht mein Mann. Das haben mir meine Leute versichert.«

Westmore fuhr sich über die Stirn. »Gerüchten zufolge hat Ihr Mann einen Haufen unschuldiger Menschen mit einer Axt umgebracht ...«

»Niemand ist unschuldig, Mr. Westmore. Glauben Sie mir, keine der Personen in diesem Haus war unschuldig.«

»Na schön. Was genau wollen Sie von mir?«

»Finden Sie heraus, was in der Nacht passiert ist. Ich glaube, dass mein Mann noch lebt. Ich glaube, dass er sich immer noch in dem Haus befindet.«

Auf einmal schien Westmores Blick genauso in die Ferne abzuschweifen wie ihrer. Er konnte sie nur noch verschwommen erkennen.

»Sie sind Berichterstatter. Erstatten Sie Bericht. Mir. Und ich möchte, dass Sie die anderen überwachen, die dort sein werden.«

»Wo?«

»In der Hildreth-Villa. Ich habe einige weitere Leute engagiert, die den Ereignissen der fraglichen Nacht auf den Grund gehen sollen.«

Weitere Leute? Weitere Reporter? Gott, ich hoffe nicht. Er sah bereits ein übles Szenario auf sich zukommen. »Es ist vor einigen Wochen passiert, oder?«

»Ja. In der Nacht zum 3. April.«

»Und Sie glauben, dass sich Ihr Mann nach wie vor in dem Haus aufhält?«

»Ich glaube, dass es so sein könnte.« Sie reichte ihm eine Visitenkarte. »Das ist die Nummer meines Mobiltelefons. Sie können mich jederzeit anrufen, Karen steht Ihnen ebenfalls zur Verfügung. In dem Haus befinden sich noch zahlreiche Videobeweise für das, was dort vorgefallen ist. Lassen Sie sich Zeit und untersuchen Sie sie in Ruhe. Es mag eine strapaziöse Aufgabe sein, aber ... dafür möchte ich Sie engagieren.«

»Was meinen Sie mit Videobeweisen?«

»DVDs und digitale Masterbänder. Meinem Mann gehörte eine Firma, die Erotikfilme produziert. Er hat das Unternehmen vor einiger Zeit zu 100 Prozent übernommen und Studio und Verwaltung in die Villa verlegt. Ich rede von Pornografie, Mr. Westmore. Mein Gatte war ein äußerst sexbesessener Mensch. Er hat sich quasi 24 Stunden täglich mit sexueller Energie umgeben.«

Also das ist wirklich abgefahren. Diese Frau zahlt mir ein Vermögen dafür, dass ... ich mir Pornos ansehe?

»Reden Sie mit niemandem über das, was sie herausfinden – das ist von entscheidender Bedeutung. Ich vertraue nur Karen und Mack, meinem Sicherheitschef. Bei den anderen bin ich mir nicht so sicher. Es handelt sich ebenfalls um Schriftsteller.«

Ich wusste es. »Was können Sie mir über die Villa sagen?«

»Sie ist ... unbeschreiblich. Sie ähnelt nichts, was Sie je zuvor gesehen haben. Und sie hat eine ... bewegte Vergangenheit, wie Sie im Zuge Ihrer Arbeit zweifellos feststellen werden.« Dann lächelte sie.

Westmore fühlte sich von so vielen Überraschungen innerhalb so kurzer Zeit überrumpelt. »Mrs. Hildreth, Sie bezahlen mir einen Haufen Geld und ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, was Sie genau von mir erwarten.«

»Letztlich möchte ich wissen, wo mein Mann ist. Darüber hinaus will ich die Gründe für seine Besessenheit erfahren. Mein Gatte hat sich auf irgendetwas vorbereitet, von dem er glaubte, dass es sich in Zukunft ereignen würde. Mich interessiert, worum es sich handelt und wann es passieren wird. Verlieren Sie das bei Ihrer Arbeit bitte nie aus dem Blick.«

Westmore konnte sich nur matt in den Stuhl aus Drahtgeflecht zurücklehnen. Er warf in einer resignierenden Geste die Hände in die Luft. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Als Vivica Hildreth den Kopf etwas drehte, wurde ihr Gesicht durch den geänderten Winkel in Dunkelheit getaucht.

»Ich glaube nicht an den Teufel, Mr. Westmore. Mein Mann hingegen schon.«