Kapitel 4

I

»Pater Nyvysk?«

»Nur ... Nyvysk«, korrigierte er geduldig.

»Ach ja, richtig. Danke fürs Kommen. Die meisten anderen sind schon hier.«

Nyvysk kannte einen Großteil der Anwesenden. Den deutlich jüngeren Mann, der ihn ins Haus führte, sah er hingegen zum ersten Mal.

»Ich bin Mack Colmes«, stellte der sich gerade begeistert vor. »Ich bringe Sie jetzt zum Südatrium. Die Villa ist riesig und anfangs ein bisschen verwirrend. Aber nach einer Weile kommt man schon klar. Ich wette, die ganze Sache stellt sich am Ende als Scherz raus.«

Ein Jungspund, dachte Nyvysk auf Anhieb. Feuer in den Augen. Er hält das hier für ein großes Abenteuer. »Sind Sie ein Medium?«, fragte er, obwohl er ernsthaft daran zweifelte.

»Nein, Sir. Ich bin nur der Sicherheitschef. Ich bleibe bei Ihnen und den anderen, um das Gelände zu kontrollieren, den Alarm zu überwachen und mich um ähnlichen Kram zu kümmern. Ich arbeite für Vivica. Das übernatürliche Zeug – das ist Ihr Fachgebiet.« Kurze Haare, muskulös, athletischer Gang. Er trug ein Muskelshirt mit der Aufschrift FLORIDA STATE, knielange Shorts und teure Sportschuhe ohne Socken, wodurch er wie ein Collegestudent in den Semesterferien wirkte. »Sie haben Ihre Ausrüstung draußen, richtig?«

»Im Van, ja.«

»Und es kommt noch ein Laster?«

»Ja, hoffentlich innerhalb der nächsten Stunde. Pritschen, Trennwände, Proviant. Ich habe alles mit Mrs. Hildreths Erlaubnis auf ihre Rechnung bestellt.«

Mack nickte. »Ja, Vivica hat mir gesagt, dass sie Sie zum Boss des Ganzen ernannt hat.«

»Nicht zum Boss, zum Koordinator«, korrigierte Nyvysk den jungen Mann. Er hatte schon öfter an solchen Projekten teilgenommen, und ohne jemanden, bei dem die Fäden zusammenliefen, setzte schnell Chaos ein. Vor allem bei dieser Truppe, schoss ihm durch den Kopf. In den Staaten konnte man kaum einen verrückteren Haufen zusammentrommeln.

Das Innere der Villa verblüffte ihn noch mehr als das maßlos übertriebene Äußere. Das Dekor des rund hundert Quadratmeter großen Foyers aus schwarzem Marmor vermittelte ihm das Gefühl, eine Mischung aus Museum, Kunstgalerie und Antiquitätensammlung betreten zu haben. Handgeknüpfte Teppiche mit byzantinischen Mustern lagen an den Seiten des Raums, während ein Dutzend Granitstatuen, jeweils knapp über einen Meter hoch, das Zentrum beherrschte. Eine davon, eine nachdenklich wirkende Gestalt mit langem Mantel, konnte Nyvysk – gelernter Historiker – nicht einordnen. »Wer ist diese Skulptur? Klinnrath?«

»Oh, keine Ahnung«, antwortete Mack. »Damit kenne ich mich nicht aus.«

»Das ist Edward Kelly«, klärte ihn eine Stimme von oben auf. Sie kam von einer kurzen Galerie mit Geländer. »Dr. John Dees Lehrling in Alchemie und Hexenkunde.«

»Willis«, begrüßte Nyvysk den Mann mit einem kurzen Blick. Er kannte den Taktionisten von einem früheren Auftrag und einigen Dokumentationen im Fernsehen. Der Mann war so echt, wie ein Taktionist nur sein konnte – fast schon zu echt. Nyvysk überraschte, dass Willis nicht längst Selbstmord begangen hatte. »Wie geht es dir?«

»Ging mir beschissen, bis ich diese Einladung bekam.«

»Sollte eine interessante Angelegenheit werden, zumindest können wir darauf hoffen.«

Willis’ Erscheinungsbild hatte sich seit ihrer letzten Begegnung zum Negativen verändert, wie Nyvysk heimlich konstatierte. Willis sah zwar attraktiv, aber abgehärmt und älter aus, als er war – ein Mann, der zu viel von innen gesehen hatte. Doch trotz des physischen Verfalls, den ihm sein Talent abverlangte, lächelte er herzlich. Er deutete auf die Statue. »Falls es dich interessiert, in Hildreths Bibliothek gibt es einige Dee-Übersetzungen – Originale – und einige Briefe von Kelly.«

»Das ist jetzt ein Scherz.«

»Nein. In diesem Haus ist so gut wie alles echt.« Dann warf Willis einen Blick zu Mack. »Richtig, Mack?«

Der junge Sicherheitsbeauftragte runzelte die Stirn, was Nyvysk interessant fand. Die beiden konnten einander unmöglich kennen.

»Ja, richtig«, gab Mack schroff zurück.

»Wir sind hier drüben.« Willis richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Nyvysk. »Komm doch rein.«

Damit verschwand Willis durch eine Walnusstür mit edlen Intarsien.

»Ich weiß ja nicht, wo Sie Ihre Ausrüstung aufbauen wollen, aber geben Sie mir einfach Bescheid, dann schaffe ich sie rein«, bot Mack an.

»Danke. Ich bin zu alt, um noch viel zu schleppen.« Kurz verstummte Nyvysk. »Sie scheinen Willis zu kennen.«

»Nein, ich kenne ihn nicht«, entgegnete Mack und ging weiter. »Folgen Sie mir.«

Bevor Nyvysk weitere Mutmaßungen anstellen konnte, wurde seine Neugier von weiteren Eigenheiten der geradezu düsteren Pracht der Villa gefesselt. Große Bogendurchgänge mit geschnitzten Holzrahmen blickten von jedem Winkel herab. Die meisten Türleisten darüber wiesen ein kleines Messingschild auf: DER CAGLIOSTRO-SALON, DAS BONNEVAULT-ZIMMER, DER BRUHESSEN-SAAL. So gut wie jeder Raum war nach einem Zauberer, Astrologen oder metaphysischen Wissenschaftler benannt. Aufwendig furniertes Holz täfelte die meisten Räume. Eine Vielzahl dunkler, importierter Teppiche variierte den Farbton jedes Bereichs, den sie passierten: ein riesiger Speisesaal, mehrere Wohnzimmer, ein Rauchersalon und schließlich ein helles Wohnzimmer, dessen Außenwand von bleigefassten Fenstern durchsetzt war, was bizarr wirkte.

Einige Scheiben wiesen winzige Intarsien aus zinnober- oder amarantrotem Kristall auf. Anrichten, Schränke und Tische mit herunterklappbaren Seitenteilen und Kugelbeinen säumten weitere Wände, an denen dunkle Ölgemälde ernster, eindringlicher Gesichter hingen. Jahrhundertealte Porträts berühmter und berüchtigter Persönlichkeiten auf dem Gebiet des Übernatürlichen und des Okkultismus, soweit Nyvysk es erkennen konnte. Matte Mineralien schienen ihn aus unterhalb der Decke montierten Halterungen und Fassungen wie Augen anzustarren, darunter seltene wie Amethyst, weißer Lapis und der Kristall von Anpiel, dem Engel der spirituellen Erweiterung. Auch Spiegel mit Zierrahmen gab es in Hülle und Fülle, einige davon nahmen breite Bereiche der Wände ein. Durch weitere, kleinere Ochsenaugen- und Lünettenfenster fielen schmale Sonnenlichtstreifen auf die Laufwege, was eine interessante Wirkung erzeugte. Aber selbst in den taghellsten Räumen verblieben Reste einer Düsternis, die nicht vorhanden sein sollte, als weigerten sie sich, die Nacht loszulassen, an die sich dieses Haus so gewöhnt haben musste.

Als Nächstes folgte ein langer, fensterloser Flur – DER BUGUET-GANG, benannt nach dem französischen Geisterfotografen. Allmählich wurde Nyvysk von all dem überfrachteten Dekor unwohl, als hätte er zu viel von einer erlesenen, aber üppigen Mahlzeit gegessen. Weitere Porträts, juwelenartige Kinkerlitzchen, Granitbüsten und Skulpturen – und kostspielige Antiquitäten. Die Wände dieses Gangs zierte Leder mit Nietköpfen aus Onyx.

Die nächste Intarsientür besaß keinen speziellen Titel, sondern wies den anschließenden Raum lediglich als SÜDATRIUM aus. Als Mack nach dem Eisenknauf des Riegelschlosses greifen wollte, fragte Nyvysk: »Was ist das?« Er deutete auf eine Holzplatte neben der Tür.

Mack schob sie auf. Darunter kamen ein kleiner Bildschirm und einige Tasten zum Vorschein. »Ein Terminal für Bildtelefonie. Gibt es überall im Haus. Sie müssen wissen, wie das Ding funktioniert, also kann ich es Ihnen auch gleich jetzt zeigen.«

Nyvysk sah ihm über die Schulter.

»Osten, Norden, Süden, Westen, in dieser Reihenfolge«, erklärte der junge Mann und drückte auf die Taste 3. »Drei ist Süden, und wir befinden uns im Südflügel des Hauses. Und da wir im Erdgeschoss sind ...« Er drückte die 1. Der kleine LCD-Monitor leuchtete auf. »Und jetzt hören Sie.« Er betätigte eine weitere Taste, auf der ÜBERTRAGUNG stand, und hielt sie gedrückt. »In jedem Raum gibt es Mikrofone und Videokameras.«

»Für das Innere eines Gebäudes scheint mir das arg übertrieben zu sein. Ich vermute, Mr. Hildreth war entweder sehr sicherheitsbewusst ... oder sehr paranoid.«

»Nein, aber er war pervers und ein Voyeur«, gab Mack zurück, ohne nachzudenken. »Er hat sich gern angehört, wie die Menschen beim Fi...« Jäh heftete sich Macks Blick auf Nyvysks Kreuz. »Tut mir leid, ich vergesse ständig, dass Sie Priester sind ...«

»Nein, bin ich nicht mehr. Nur noch Schriftsteller und Forscher.«

Der Sicherheitsverantwortliche wirkte verwirrt. »Na jedenfalls ... Mr. Hildreth hat gern zugehört, wenn ... Sie wissen schon.«

»Natürlich.«

»Und er hat auch gern zugesehen.«

Das überraschte Nyvysk nach allem, was er bisher über den Milliardär erfahren hatte, nicht im Geringsten. »Ich hoffe mal, die Badezimmer sind nicht ähnlich ausgestattet«, scherzte er.

»Doch, das sind sie, aber die Übertragungen kann man nicht über die Türmonitore abrufen. Das geht nur aus der Kommunikationszentrale, die ich Ihnen später noch zeige.«

Nyvysk musterte Macks Gesicht. Er meint das ernst! »Ich ... ich kann meinen ersten Gang zur Toilette kaum erwarten.«

»Niemand wird Ihnen zusehen.« Mack lächelte und setzte seine Erklärungen zur Videoanlage fort, wobei er die Übertragungstaste die ganze Zeit gedrückt hielt. Nyvysk hörte Stimmen und sah auf dem Bildschirm eine nummerierte Liste. Neben einem der Einträge blinkte ein rotes Licht: 7) SÜDATRIUM. »Das rote Licht bedeutet, dass dort gerade jemand redet, also ...« Er drückte auf die Taste 7. »So. Sehen Sie?« Der Monitor schaltete um. Nyvysk konnte Willis und die anderen sehen, die auf mehreren gewaltigen Sofas aus goldenem Samt mit verschnörkelten Armlehnen saßen. »Und falls man nicht weiß, wo sich das Südatrium befindet ...« Mack drückte eine weitere Taste mit der Aufschrift PLAN. Nun zeigte der Monitor einen Grundriss vom Südflügel der Villa. »Das System deckt das gesamte Haus und Teile des Grundstücks ab. Fast wie Windows XP!«, scherzte Mack.

Nyvysk war beeindruckt und änderte im Kopf bereits einige Pläne für die kommende Untersuchung ab. »Das ist ein erstaunliches System. Muss ja einiges gekostet haben.«

»Ein paar Millionen. Kleingeld für Mr. Hildreth.«

»Ich würde gerne die Kommunikationszentrale sehen.«

»Mit Vergnügen. Aber gehen wir zuerst ins Südatrium.«

Mack zog die Türen auf und führte Nyvysk in einen gut und gerne 450 Quadratmeter großen Saal. Weitere ovale Importteppiche bedeckten einen glänzenden Hartholzboden. Lange Tische, Sekretäre sowie kunstvolle Ständer und Liegen füllten die großzügig bemessene Fläche. Erkerfenster mit dicken Vorhängen säumten eine Wand, eine Treppe mit Geländer verlief quer über eine andere. Mehrere Kronleuchter hingen glitzernd von den Eichensparren einer prismawinkeligen, neun Meter hohen Gewölbedecke. Über den Sparren fielen Nyvysk sogar furnierte Galerien mit langen Mahagonigeländern auf, die zu kleinen, türartigen Tafeln führten, jede mit einem geschnitzten Löwenkopf gekennzeichnet. Das Haus der sieben Giebel, überlegte Nyvysk. Hier schien die Atmosphäre an erster Stelle zu stehen. Vermutlich hatte Hildreth es genau so gewollt.

Dann zuckte Nyvysk zusammen.

Zwei Hauptwände waren im Sockelbereich getäfelt. Oberhalb der Abschlussleiste bedeckte satter avocadogrüner Velours die Wände und schimmerte je nach Betrachtungswinkel in verschiedenen Tönen. Ein Flachrelief minutiös gearbeiteter Schildformen, die aussahen wie Schuppen, prägte den Velours. Drei riesige Sofas bildeten den Versammlungspunkt im Zentrum des Raums. Was die beeindruckende Stimmung für Nyvysk völlig ruinierte, war ein riesiger Flachbildfernseher, vor dem die anderen Mitglieder der Gruppe saßen und Kaffee und Limonade tranken.

Sie sahen sich das Food Network an.

»Nyvysk!«, rief Cathleen Godwin ihm zu und setzte sich auf. »Dein Bart ist länger!«

»Da hast du wohl recht, Cathleen. Schön, dich zu sehen.«

Cathleen präsentierte sich wie üblich in einem provokanten Outfit. Sie trug einen Stonewashed-Minirock kombiniert mit einem himbeerroten, eng anliegenden Rundhalsshirt. Von einem Fuß der langen, übereinandergeschlagenen Beine baumelte eine durchscheinende Sandale – leuchtend-rosa. Am anderen Ende der Couch lümmelte Adrianne Saundlund, die Teleästhesistin. Mit halb geschlossenen Lidern hatte sie sich dem Fernseher zugewandt. Wahrscheinlich auf Barbituraten, mutmaßte Nyvysk. Ihr zierlicher Körper wirkte in der kurzen Jeanslatzhose und dem weiten, grünen T-Shirt noch winziger, als er es ohnehin schon war. Abgekapselt von der Welt, zumindest von dieser ... Nyvysk kannte ihre Geschichte aus verschiedenen Quellen. »Hallo, Adrianne.«

Sie bemerkte ihn nicht einmal, bis seine Stimme sie dazu brachte, den Blick zu heben. »Oh, hallo. Tut mir leid – ich bin nur gerade ein wenig neben der Spur, echt müde.«

»Tja, vielleicht rüttelt dieser kleine Auftrag uns alle etwas wach.«

»Könnte ich gebrauchen.«

Willis erhob sich von der anderen Couch. »Sie ist völlig ins Food Network vertieft, was von Vorteil sein könnte, weil wir jemanden brauchen werden, der kocht.«

»Ich kann jedenfalls nicht kochen«, versicherte Cathleen.

Adrianne lachte verhalten. »Ich auch nicht, aber die Küche und die Vorratskammer hier sind unglaublich.«

Willis kam herüber und schüttelte Nyvysk die Hand. Nyvysk wusste, dass Willis keine richtigen Freunde hatte – er mied die Nähe anderer Menschen, so gut er konnte –, aber er wirkte nun weniger ermattet als bei ihrer kurzen Unterhaltung vorhin im Foyer. Vermutlich freute er sich darüber, ein vertrautes Gesicht zu sehen. »Die Geschichte kommt einem vor wie ein aus dem Zylinder gezaubertes Kaninchen, was?«

»Ich denke, da steckt mehr als nur ein Kaninchen drin«, meinte Nyvysk, den nicht überraschte, dass der Mann Handschuhe trug. Taktionisten taten das mit fortschreitendem Alter häufig, weil sie die »Strömungen« von Gegenständen und Menschen dann noch deutlicher wahrnahmen.

»Klar, könnte sich als Monster erweisen.« Willis lachte. »Aber um ehrlich zu sein, ich brauche das Geld so dringend, dass ich das Risiko eingehe.«

Mack meldete sich zu Wort. »Wirklich? Ich habe gehört, Sie wären ein erfolgreicher Arzt.«

In seinen Worten schwang eine gewisse Schärfe mit, eine unterschwellige Abfälligkeit.

»Ich bin kein Arzt mehr«, gab Willis grinsend zurück.

»Und Nyvysk ist kein Priester mehr und Adrianne ist keine Partymaus mehr«, fügte Cathleen lachend hinzu. »Und ich? Mal sehen, ich ... bin keine 20 mehr.«

»Sieht so aus, als wären alle hier mal etwas gewesen, das sie nicht mehr sind.«

»Ich würde es eher als Weiterentwicklung bezeichnen«, warf Nyvysk ein. »Es geht nicht darum, was wir nicht mehr sind. Viel wichtiger ist, was wir geworden sind.«

»Danke, Aristoteles«, sagte Adrianne sarkastisch.

Willis jedoch musterte Mack mittlerweile mit finstererem Blick. »Was ist mit Ihnen? Was sind Sie nicht mehr?«

»Ich bin, was ich schon immer war, Doktor Willis. Ein Sicherheitsexperte.«

Weitere unerklärliche verbale Spitzen. Ich muss herausfinden, warum die beiden Katz und Maus miteinander spielen, dachte Nyvysk. Für Klatsch hatte er sich nie interessiert, aber mentale Feindseligkeiten – vor allem bei Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten – konnten sich auf wissenschaftliche Sensoren auswirken, manchmal ziemlich drastisch. Warum können diese zwei Männer sich nicht leiden?, rätselte er.

»Hast du schon den Rest der Villa gesehen?«, erkundigte sich Cathleen.

»Nein, ich bin gerade erst eingetroffen.«

»Es gibt hier 13 Schlafzimmer«, verriet Willis.

»Mr. Hildreth mochte diese Zahl«, erklärte Mack. »Aber insgesamt gibt es im Haus 66 Räume.«

»Du meine Güte«, stieß Adrianne hervor. »Ich halte den Kerl jetzt schon für einen Idioten. Ich wette, sein großer Held war Anton LeVey.«

Nyvysk entschied sich, so früh noch keine Vermutungen zu äußern. In 90 Prozent aller Fälle steckte hinter sogenannten Okkultisten rein gar nichts Echtes, doch Nyvysk hatte die restlichen zehn Prozent zu oft gesehen. Und die anderen hier haben das auch, hielt er sich vor Augen, während er den Blick über die Gruppe wandern ließ.

»Hast du das schon gesehen?«, fragte Willis. Er war zum Eingang geschlendert und betrachtete das Videokommunikationssystem. »Die gesamte Villa ist verkabelt. Ich wette, dein Gehirn rattert bereits, wie wir das für unsere Zwecke nutzen können.«

»Natürlich. Je nach Konfiguration des zentralen Systems sollte ich in der Lage sein, Stimmphänomene zu überwachen, ohne mein eigenes Netzwerk aufbauen zu müssen. Infrarot-, Wärme- und magnetische Massesensoren könnten unter Umständen auch funktionieren.«

»Der ewige Geisterjäger«, meinte Adrianne. »Wir bringen unsere Körper mit, er kommt mit seinem Spielzeug an.«

»Ich habe auch Spielzeug dabei«, meldete sich Cathleen zu Wort, dann lachte sie. »Nur eben anderes Spielzeug.«

»Wahrscheinlich schleppst du einen ganzen Koffer davon mit dir rum«, riet Willis.

»Am besten einen ganzen Schrankkoffer. Immerhin ist Adrianne hier, die wiedergeborene Zölibatärin. Sie könnte wahrscheinlich ein wenig Abwechslung durch Freudenspender aus Plastik vertragen.«

»Das ist kein richtiges Zölibat«, belehrte Adrianne ihn. »Stimmt’s, Nyvysk?«

»Stimmt. Unter dem Enthaltsamkeitszölibat versteht man den vorsätzlichen Verzicht auf jede Form von sexueller Befriedigung.«

Mack grinste. »Falls Sie gerade über Vibratoren reden, oben im Salon finden Sie eine riesige Sammlung von den Dingern.«

»Stimmt, das Haus wurde ja als Pornostudio verwendet«, fiel Willis ein.

Cathleen streckte die Beine auf einem Ohrensessel mit Rosenmuster aus. »Das ist verlockend. Ich frage mich, was davon noch übrig ist.«

»Das gehört zu den Dingen, die wir herausfinden wollen«, sagte Nyvysk.

Die Scherze über Vibratoren sollten die Stimmung auflockern, das war Nyvysk klar. Allerdings funktionierte es nicht. Schon jetzt ließ sich hier etwas Unterschwelliges spüren. Leute wie wir fangen auf engem Raum früher oder später an, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Er vermutete, dass einige Lunten bereits brannten.

»Seht euch Willis an«, sagte Cathleen. »Wie er auf diese schreckliche Büste von Kopernikus starrt.«

Die Statue aus weißem unpoliertem Stein mit den ausdruckslosen Augen stand auf einem geschnitzten Sockel. Es handelte sich um einen entschlossen wirkenden Mann mit Umhang und Fellkappe, der sich ein Buch an die Brust drückte.

»Das ist Kopernikus?«, fragte Willis. Er berührte die Büste – ohne Angst – mit einem behandschuhten Finger.

»Nein«, klärte Nyvysk ihn auf. »Das ist Julian der Abtrünnige. Er war Anthropomant – hat die Zukunft aus menschlichen Gedärmen gelesen.«

»Oh, das ist ja reizend«, fand Adrianne.

»Zumindest glaube ich, dass er das ist ... Cathleen, du müsstest es eigentlich genauer wissen.«

Sie schaute zur Büste und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber keine Witze über Prophezeiungen.«

Willis feuerte eine weitere rätselhaft beißende Spitze in Macks Richtung ab. »Mack hält ihn wahrscheinlich für Ron Jeremy.«

Mack warf ihm einen finsteren Blick zu und einige verwirrende Sekunden verstrichen in Stille.

Adrianne kratzte sich am Kopf. »Wer um alles in der Welt ist Ron Jeremy?«

Nyvysk hatte ebenfalls keine Ahnung.

Cathleen blickte zum Fernseher. »Tja. Martha Stewart ist vorbei, damit dürfte uns Adriannes Aufmerksamkeit wieder sicher sein. Warum gehen wir nicht alle los und suchen uns ein Schlafzimmer aus, statt hier untätig rumzusitzen?«

»Wir sind bereits in unserem Schlafzimmer«, erwiderte Nyvysk.

»Was?«, stießen mehrere Leute gleichzeitig hervor.

»Unsere Klientin, Mrs. Hildreth, hat mich als Koordinator eingesetzt ...«

»So eine Scheiße!«, beschwerte sich Cathleen.

»Ich habe nicht im eigentlichen Sinn das Kommando«, beschwichtigte Nyvysk hastig ihr Ego. »Ich bin für die Dauer unseres Aufenthalts lediglich für die Abstimmung hier im Haus zuständig. Sie hielt das für eine gute Idee, deshalb sollten wir uns nicht darüber streiten.«

»Ich hab kein Problem damit«, verkündete Willis.

Adrianne zuckte mit den Schultern, doch Cathleen gab zurück: »Warum? Warum du?«

»Weil es aus praktischer Sicht am sinnvollsten ist.«

»Typisch Mann!«

Adrianne wirkte gelangweilt. »Er hat recht, Cathleen. Er ist nur ein Techniker. Du, Willis und ich sind unter bestimmten Umständen alles andere als stabil. Dieser Ort hier könnte mit mystischer Energie geladen sein.«

»Ihr alle besitzt eine übersinnliche Wahrnehmung. Ich nicht«, ergänzte Nyvysk.

Cathleen lehnte sich auf der Couch zurück und starrte zu einem eigenartigen Messingkronleuchter empor. »Na schön. Aber was soll das mit den Schlafzimmern bedeuten?«

Nyvysk wandte sich der Gruppe zu. »Meiner Ansicht nach ist es entscheidend, dass wir alle im selben Bereich schlafen. Das Südatrium hier scheint mir perfekt dafür geeignet zu sein. Es ist groß genug, damit wir darin alle etwas Privatsphäre haben, wenn wir sie brauchen. Wir sollten nicht räumlich voneinander getrennt sein, während wir schlafen – das gilt ganz besonders für übersinnlich Begabte und doppelt, wenn das Haus tatsächlich geladen ist. Im Schlafzustand sind wir alle verwundbarer. In unterschiedlichen Zimmern zu schlafen, könnte verheerende Folgen haben. Denkt an den Fall der Suit-Villa, Wroxton Hall in Maryland, die Immanuel-Pfarrei in New York City. Dort kam es überall zu schweren Zwischenfällen. Sie wären vermeidbar gewesen, wenn sich die Experten alle im gleichen Raum aufgehalten hätten.«

Cathleen gab sich geschlagen. »Wie immer hast du recht. Aber verdammt noch mal, ich hatte mich echt schon so auf die riesige Zimmerflucht im dritten Stock mit der dunkelblauen Tapete und den Kristallkreuzen gefreut.«

Plötzlich wirkte Mack blass. »Das ... äh ... ist die Aldinoch-Suite. Dort hat Mr. Hildreth seine autoerotischen Erstickungspartys veranstaltet.«

Cathleen wurde blass. »Wie ich schon sagte, hier zu schlafen, ist für mich völlig in Ordnung.«

»Aber wo sollen wir hier schlafen?«, fragte Adrianne. »Auf diesen Sofas? Oder auf den Liegen?«

»Es sollte jede Minute ein Lieferwagen eintreffen. Der bringt Betten, Trennwände, Nachttische – alles, was wir brauchen.« Er deutete zur Nordwand mit ihrem grünen Veloursbezug. »Den Schlafbereich richten wir dort drüben ein. Das hier« – er zeigte zur Fensterseite des Raums – »wird unser Versammlungsbereich. Unter Umständen müssen wir einige zusätzliche Tische hereinschaffen und ein paar der Möbel verrücken, aber ich bezweifle, dass Mrs. Hildreth etwas dagegen hat.«

»Sie können tun, was immer Sie wollen«, meldete sich Mack zu Wort. »Sie haben hier völlig freie Hand.«

»Wann legen wir denn richtig los?«, wollte Willis von Nyvysk wissen. »Ich meine, gibt es einen konkreten Zeitplan?«

»Vielleicht heute Abend. Ich muss erst meine Ausrüstung aufbauen. Allerdings sehe ich keinen Grund, warum ihr drei nicht jederzeit mit eurer eigenen Art von Vorbereitung loslegen solltet.«

»Ich mache heute gar nichts mehr«, verkündete Adrianne. »Ich bin müde und außerdem läuft gleich Emeril. Der verrät das Geheimnis einer perfekt gebratenen Pute.«

Cathleen grinste. »Adrianne, du bist selber eine gebratene Pute.« Gleich darauf stupste sie die andere Frau an der Schulter. »Ich mach bloß Spaß.«

»Ich seh mal nach meiner Ausrüstung und warte auf den Lieferwagen«, sagte Nyvysk. Er warf einen Blick zur Pendeluhr neben dem Kamin. »Treffen wir uns um sieben wieder, dann kümmern wir uns gemeinsam ums Abendessen.«

»Der Vorschlag findet meine volle Unterstützung«, ergriff Cathleen das Wort und kam schwungvoll auf die Beine. Ihre üppigen Brüste wippten dabei heftig, was sie vermutlich beabsichtigt hatte. »Und jetzt suche ich mir das fantastischste Badezimmer der ganzen Villa und nehme ein Schaumbad.« Damit verließ sie den Raum.

»Was ist mit dir, Willis?«, fragte Nyvysk. »Was hast du jetzt vor?«

»Ich fange sofort an. Ich ... fühle etwas.« Er schaute zu Mack. »In welchem Raum fanden die Morde statt?«

»Leichen wurden auf der Treppe, im ersten Salon im zweiten Stock und in einigen der Gästezimmer gefunden, außerdem im zweiten Stock. Die meisten Opfer wurden aber im größten Raum im fünften Stock getötet. Mr. Hildreth nannte es das Scharlachrote Zimmer. Sie finden es auf den Plänen der Videoanlage.«

»Alles klar.« Zögerlich streifte Willis seine Handschuhe ab und ging ebenfalls zur Tür hinaus.

»Ich bin in ein paar Stunden zurück«, sagte Mack. »Falls Sie irgendetwas brauchen ...« Er hielt sein Mobiltelefon hoch.

Nachdem Mack gegangen war, fühlte sich Nyvysk in der alleinigen Gegenwart von Adrianne irgendwie unwohl. Sie starrte zwar auf den Fernseher, allerdings fragte er sich unwillkürlich, wie viel sie von der Sendung wirklich mitbekam.

»Wann hast du das letzte Mal eine Astralwanderung gemacht, Adrianne?«

»Vor etwa einem Monat. War eine Army-Routinekontrolle in Fort Meade.«

»Du arbeitest immer noch für die Army?«

»So gut wie nie. Ich gelte als arbeitsunfähige Frührentnerin. Jetzt bekomme ich statt Befehlen jeden Monat einen Scheck.«

»Wie lief die Astralwanderung?«

»Ganz gut. Die wollten nur meine Reaktion auf Lonolox testen.«

Nyvysk war besorgt. Auf die eine oder andere Weise hatten sie alle einen Schaden. Aber Adrianne musste sich den schlimmsten Ängsten stellen, sollten in dieser Villa wirklich übernatürliche Dinge vor sich gehen.

»Du bist immer noch Christin, oder?«

»Ja«, bestätigte sie nur.

»Sei vorsichtig.«

»Bin ich.« Plötzlich schaute sie neugierig auf und schüttelte ihren Dämmerzustand ab. »Es kommt noch jemand, oder? Ein Schriftsteller aus der Gegend, stimmt’s?«

»Ich glaube ja«, sagte Nyvysk.

»Ich frag mich, wo er bleibt.«