Prolog
»Du hättest mich einfach töten sollen«, sagte das Mädchen.
Der Mann zeigte sich geschockt. Diese seltsamen Worte waren die ersten, die sie überhaupt gesprochen hatte, seit ...
... neun Monaten, erinnerte er sich.
»Und ich weiß, dass du darüber nachgedacht hast«, meldete sie sich von ihrem Platz auf dem schäbigen Bett. Sie senkte die Stimme. »Ich weiß, dass du diese Pistole besitzt. Und ich weiß, dass du mehr als einmal ernsthaft in Versuchung warst, mir einfach eine Kugel in den Kopf und in den Bauch zu jagen ... und dann abzuhauen.«
Stimmte das wirklich? Er hielt sich eigentlich für einen Menschen, der sich nichts vormachte. Andere konnte man anlügen, sich selbst trickste man so schnell nicht aus. Die Lügen holten einen immer ein.
Mein Gott. Ich hoffe, das stimmt nicht.
Er hatte es doch so weit gebracht und es so lange geschafft, sie nicht zu töten, oder?
Sie bot einen schändlich erotischen Anblick. Lässig lag sie auf dem Bett, ihr 19-jähriges Fleisch jung und glänzend. Sie trug nur einen Slip und einen BH. Er konnte sehen, wie der üppige Wuchs ihrer Schamhaare gegen den Stoff des Höschens drückte. Der BH saß durch die vorgeburtliche Zusatzfülle ihrer Brüste entschieden zu eng – ihr Busen drohte die Nähte zu sprengen. Über dem basketballgroßen Bauch war die Haut zum Zerreißen gespannt, der Nabel ragte hervor wie eine kleine weiße Haselnuss.
Der Mann wandte den Blick von diesem verlockenden Bild ab, wie er es all die Monate getan hatte.
Er sprach zur Wand. »Du redest jetzt. Das ist wunderbar. Erinnerst du dich, wann du zuletzt geredet hast?«
»Nein.«
»Nach all der Zeit ... was hast du zu sagen? Was hast du mir zu erzählen?«
»Nichts«, erwiderte sie.
»Nichts?«
»Alles, woran ich mich erinnere, ist das Haus.«
Quer durch das Land hatte er sie mitgenommen. In anonymen Bussen, durch windige Motels. Schon bevor sich ihre Schwangerschaft abzeichnete, war ihm in ihrer Gegenwart unwohl gewesen. Wegen der Blicke, die ihm die Leute zuwarfen. Die Angestellten an der Rezeption zogen mitten in der Nacht ihre Augenbrauen hoch, als wollten sie zu ihm sagen: Was treibt ein Mann in Ihrem Alter mit einem Mädchen, das noch keine 20 ist? Warum bringen Sie die Kleine an einen solchen Ort, noch dazu um diese Uhrzeit?
Derzeit hatten sie sich in Seattle im Aurora Motel einquartiert. Ihr Zimmer sah aus, als sei es gerade mal das wert, was er dafür bezahlte: 25,95 Dollar pro Übernachtung. Er wusste, dass er auf Anonymität setzen musste, auf Orte, an denen es niemanden interessierte, welchen Namen man beim Check-in auf das Formular kritzelte. Dort wollte man nur eins: Bargeld. Mittlerweile waren die Blicke schlimmer geworden. Die Leute glotzten ihn an, als wäre er ein Perverser übelster Sorte. Eines Nachts vor nicht allzu langer Zeit hatte er für sie beide ein Zimmer in Needles, Kalifornien, gemietet. Der Laden erwies sich als Absteige für Säufer, Prostituierte und Junkies. Er hatte gerade ein Soda aus dem Getränkeautomaten gezogen, als ein ungepflegter, kahlköpfiger Mann im zerknitterten Anzug auf ihn zukam und sagte: »He, Mann. Ich hab die süße schwangere Mieze gesehen, die du mitgebracht hast. Weißt du, da steh ich auch drauf. Was kostet die Stunde?«
»Hau ab oder ich schieß dir ins Gesicht ...«
Die Antwort hatte gereicht.
Nach allem, was er inzwischen gesehen hatte, ekelte ihn die Welt zutiefst an.
Die Welt, dachte er nun.
Er sah das Mädchen an.
Die ganze Welt ...
»Tut mir leid, dass es hier so schäbig ist«, sagte er, während er ihre Kleider auf dem mit Brandflecken übersäten Brett bügelte, das er im Schrank entdeckt hatte.
»Es ist überall schäbig gewesen.« Lächelte sie etwa? Auch das hatte sie seit neun Monaten nicht mehr getan. »Aber ich verstehe das. Du redest viel mit dir selbst. Du kannst deine Kreditkarte nicht benutzen.«
»Stimmt.«
»Und du drehst jeden Cent zweimal um.«
Er lächelte über einem Hemd. »Das auch.«
»Du versteckst mich, nicht wahr?«
Das Lächeln des Mannes erstarb. »Ja.«
»Vor ihnen, richtig? Vor den Leuten aus dem Haus.«
Der Mann hatte nie im Bett bei ihr geschlafen, obwohl er sicher war, dass nichts passieren würde. Er hatte nie etwas mit ihr gemacht, nicht einmal daran gedacht. Überhaupt nie etwas Falsches getan ...
... außer sie zu entführen.
Der Mann schlief immer auf der Couch – oder auf dem Boden, wenn es keine Couch gab. Im Zimmer, das er in Seattle ergattert hatte, stand eine Ausziehcouch – ein Luxus in seinen Augen. Die Federn drohten, ihn durch die Matratze aufzuspießen, außerdem stank das verdammte Ding. Gott sei Dank bin ich nicht pingelig, dachte er. In der ersten Nacht lag er wach und lauschte dem Lärm des Verkehrs auf der Hauptstraße und dem Regen. Die Vorhänge hatte er zugezogen. Im Zimmer war es stockfinster und einen Moment lang ließ ihn die schiere Schwärze an die Vergangenheit denken, an das Haus. Sofern das Böse eine Farbe besaß, wusste er, welche.
Trotz seiner Erschöpfung schlief er nicht. Stattdessen lag er auf der abgehalfterten Matratze und starrte an die Decke. Vom Bett hörte er das rhythmische Atmen des Mädchens, das fast hypnotisch wirkte.
Dann setzte die Atmung aus.
Die Augen des Mannes weiteten sich. Er wollte sich gerade aufraffen und nach ihr sehen, doch dann drang rau ihre Stimme aus der Dunkelheit.
»Ich will, dass du mich tötest. Bitte tu es. Warte, bis ich wieder eingeschlafen bin. Und dann tu es.«
In der nächsten Nacht stieß sie im Schlaf ein einziges Wort hervor.
»Belarius.«
»Blondes Haar funktioniert bei dir nicht«, stellte sie am nächsten Morgen fest. Er hatte Kaffee, Limo und Donuts vom 7-Eleven, mehrere Blocks den Hang hinunter, geholt. Sie aß gemächlich auf dem Bett, sah fern und kam ihm trotz der vollen Brüste und dem aufgeblähten Bauch wie ein unreifes Kind vor.
»Warum nicht?«, fragte er und drehte sich um.
»Du siehst aus wie jemand, der versucht, sich zu verkleiden. Die Haarfarbe wirkt falsch. Sie ist viel zu hell.«
Er betrachtete sich im Spiegel. »Wirklich?«
»Ja.«
Der Mann seufzte. Er zog seine Jacke an. »Ich bin bald wieder da.«
»Wohin gehst du?«
»Mir eine andere Tönung besorgen.«
Würden sie ihm wirklich folgen? Vielleicht sind wir beide bloß paranoid, überlegte er. Der Bus bahnte sich den Weg durch den Regen. Durch das mit Tropfen übersäte Fenster sah er eintönige graue Gebäude. Ein Mann mit Brille und ein anderer mit einem Schutzhelm schauten gleichzeitig zu ihm. Ja, ich bin bloß paranoid. Oder vielleicht hat sie recht. Ich habe die falsche Haarfarbe benutzt und sehe jetzt aus wie ein Pferdearsch. Einige Teenager hinten im Bus wurden laut und benahmen sich mächtig daneben, aber er bekam es kaum mit. Dann stand ein Schwarzer auf, der vorne saß, grinste ihn an und sagte: »Da waren Lou Rawls und ich. Sie haben uns in diesen Käfig gesteckt und uns nur Milchflaschen und Suppe gegeben.« Dann öffneten sich die Türen und er stieg aus.
Am liebsten hätte er gelacht. In Großstädten gibt es eine Menge Obdachlose, eine Menge Schizophrene. Traurig.
An der nächsten Haltestelle stolperte ein Blinder die Treppen herauf, der sich mit blicklosen Augen und einem Stock vortastete. Er setzte sich direkt neben ihn.
»Hallo«, sagte der Blinde und starrte geradeaus.
»Hi.«
»Ich ... besitze übernatürliche Kräfte. Glauben Sie mir?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Glauben Sie, dass es Menschen mit solchen Kräften gibt?«
»Ja. Daran glaube ich ganz fest.«
Der Blinde kicherte. »Ich bin ein Seher, der nicht sehen kann.« Die leeren Augen richteten sich auf ihn. »Sie besitzen eine unheilvolle Aura.« Nach einer Pause seufzte er. »Mein Gott ... sie ist fast schwarz.«
Der Mann wusste nichts zu erwidern, denn er glaubte tatsächlich an solche Dinge. Wie hätte es nach einer Woche in diesem Haus auch anders sein können?
Die Hände des Blinden zitterten ebenso wie seine Unterlippe. Die von Arthritis gezeichnete Rechte fasste über seinen Kopf und tastete verzweifelt nach einem Haltegriff. »I-ich muss aussteigen, ich muss aussteigen.«
Der Mann sah ihn nur verblüfft an. »Was ist denn los?«
»Nichts davon ist Ihre Schuld, warum also bringen Sie sich in Gefahr?« Als der Bus an der nächsten Haltestelle schwankend zum Stehen kam, stand der Blinde auf und kämpfte auf wackeligen Beinen mit seinem Stock darum, das Gleichgewicht zu halten. Erneut richtete er seine toten Augen auf den Mann, dann sagte er: »Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Wofür?«
»Um das Mädchen zu töten.« Mit klapperndem Stock entfernte er sich. »Um sie zu töten.«
Damit stieg er aus und die Türen schlossen sich hinter ihm.
Das Mädchen einige Stunden lang allein im Zimmer zu lassen, beunruhigte ihn nicht sonderlich. Natürlich redete sie nie darüber, aber sie schien zu wissen, was draußen lauerte. Wie viel weiß sie wirklich noch?, überlegte er, als er durch den Gang einer CVS-Filiale lief. Dann schossen ihm beunruhigendere Fragen durch den Kopf: Was muss sie durchgemacht haben? Was hat sie gefühlt und gesehen? Was sah sie, als sie die Augen aufschlug?
Was genau starrte sie in diesem Moment an?
Der Mann konnte nur beten, dass sie traumatisiert genug war, um sich nicht genau zu erinnern.
Verdammt ... Die Pistole in seiner Hosentasche hatte sich nach oben gearbeitet. Die Spitze des Griffs ragte verräterisch heraus. Er zog seine Windjacke darüber, dann schob er die Waffe an ihren Platz zurück. Ich muss vorsichtiger sein. Die Waffe würde er nie im Zimmer zurücklassen, wenn er irgendwohin musste. Er wollte nicht, dass sie damit allein blieb.
Der Mann kaufte eine dunklere Haartönung und eine Schachtel Zigaretten. Der Nieselregen wollte einfach nicht aufhören. Als er den Laden verließ, zog er die Kapuze über den Kopf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Irish Pub. Der Mann fühlte sich wie gelähmt und starrte gebannt auf das Schild der Brauerei.
Verdammt, dachte er abermals.
»Nur eins«, murmelte er. »Nur eins, das täte jetzt so gut ...«
»So etwas wie ›nur eins‹ gibt es nicht«, meldete sich eine hohe Stimme hinter ihm zu Wort. Er drehte sich um und musste nach unten schauen.
Eine Gestalt, die er für eine junge Frau hielt, kauerte in einem Ziegelsteinverschlag neben einem Hydranten. Sie war völlig durchnässt. Der Nieselregen prasselte auf eine durchlöcherte Regenjacke, deren grelles Gelb sich längst in ein schmutziges Braun verwandelt hatte. Der Mann konnte kaum ihr Gesicht erkennen, weil die Kapuze die offenen Augen halb verbarg. Durch ihr Lächeln entblößte sie faulige Zähne, die wie zersetzte Pillen aussahen.
»Aus einem werden ziemlich schnell 20«, sagte sie.
»Ich weiß.«
»Aber Sie sollten trotzdem reingehen und sich eins genehmigen, um zu feiern.«
»Um was zu feiern?«
Schmutzige Hände breiteten sich zu einer sonderbar fröhlichen Geste aus. »Diesen wunderschönen Tag!«
»Ach ja? Ich komme aus Florida. Ich schätze, deshalb kann ich Seattles Definition von ›wunderschön‹ nicht wirklich nachvollziehen.«
»Es gibt tolle Ecken hier, wenn man genau hinsieht.«
»Da bin ich ganz sicher«, erwiderte der Mann.
»Ich war früher auch wunderschön ...«
Darauf wusste er angesichts ihrer offensichtlichen Notlage nichts zu entgegnen. Sie konnte nicht älter als 30 sein, aber wer mochte das schon mit Sicherheit sagen? Rosa Flecken besprenkelten den gelblichen Teint der aufgedunsenen Wangen. Chronische Alkoholikerin, stellte er mit Kennerblick fest. Die Haut wird gelb, weil ihre Leber nach und nach den Geist aufgibt ...
»Wo wohnen Sie?«, fragte er.
»Im Asyl in der King Street. Wenn ich laufen kann.«
Der Mann zögerte kurz, dann kramte er in der Hosentasche. »Ich habe etwas Geld, das ich Ihnen geben kann ...«
»Nein. Das brauche ich nicht. Was ich brauche, ist ein Drink. Holen Sie mir etwas zu trinken.«
Der Mann fühlte sich kraftlos. »Das ... das kann ich nicht. Tut mir leid.«
»Schon okay.« Mit schief in den Nacken gelegtem Kopf warf sie ihm noch immer ihr verunstaltetes Lächeln zu. »Aber falls Sie doch in den Pub auf der anderen Straßenseite gehen, und ich denke, das werden Sie ...«
»Werde ich nicht«, widersprach er.
»Aber falls doch, dann trinken Sie einen für mich mit.«
Erneut wusste der Mann nichts zu entgegnen.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Die ihren Umständen trotzende Heiterkeit schlug in etwas Düsteres um. »Da ist noch etwas in mir.«
»Was?«
»Ich soll Ihnen etwas mitteilen.«
Die letzten Stadien einer chronischen Säuferin. Verminderte Sauerstoffversorgung des Gehirns, Toxin im Blut, dann kamen die Psychosen. Er spielte mit. »Was sollen Sie mir mitteilen?«
Jäh veränderte sich ihre Stimme. »Gehen Sie weg. Lassen Sie sie zurück.«
Die Zähne des Mannes klappten aufeinander. »Wen soll ich zurücklassen?«
»Töten Sie sie nicht.«
Der Mann glotzte sie entgeistert an.
»Gehen Sie einfach irgendwohin. Wenn Sie das tun, werden Sie belohnt.«
Der Mann brachte kein Wort hervor. Er starrte die Frau in der Gosse nur weiter an, während Regen auf seine Kapuze prasselte.
»Überlassen Sie den Rest ... uns.«
Dann verwandelte sich ihr Gesicht einen flüchtigen Moment lang in etwas, das nicht mehr an einen Menschen erinnerte, eher an ein pulsierendes schwarzes Loch in ihrer Kapuze.
Der Mann konnte sich nicht rühren.
Das echte Gesicht kehrte mit einem verblassenden Lächeln und Augen, aus denen kein Leben mehr sprach, zurück. »Leben Sie wohl«, sagte sie, bevor sie ein altmodisches Rasiermesser hervorholte, mit dem sie sich die Kehle bis zum Knochen aufschlitzte.
Der Mann wandte sich ab, als sich das Blut zu seinen Füßen ergoss. Autos hupten, als er vom Randstein auf die Straße wankte; rot gefärbtes Regenwasser spritzte zu seiner Jacke hoch. Er überquerte die Straße und betrat den Pub.
»Komm rein.«
Der Mann schwankte an der Tür im Regen. Hinter ihm rasten Autos auf dem Highway vorbei, jedes mit einem langen, nassen Zischen.
Ihre warmen Finger ergriffen sein Handgelenk und zogen ihn in das Motelzimmer, dann schloss sie die Tür und sperrte den unablässigen Lärm des Regens und der Fahrzeuge aus.
»Du bist klitschnass. Du bist ...«
Der Mann war fast besinnungslos, konnte kaum stehen. Er starrte sie nur mit großen Augen und beschämtem Blick an. Er brachte kein Wort hervor, aber er dachte: Ich bin eine Schande.
»Das wird schon wieder«, versicherte sie ihm.
Der Fernseher lief leise im Hintergrund. Ein Moderator von CNN berichtete mit ernster Miene, dass ein weiterer Helikopter der US Army von irakischen Partisanen abgeschossen worden war. 21 Tote.
»Hast du dich ... vollgekotzt?«
Der Mann wusste es nicht. Sie schälte ihn aus seiner Jacke, setzte ihn aufs Bett und begann ihn auszuziehen. Kein Wort kam über ihre Lippen, als sie die Pistole aus seiner Tasche holte. Dann lachte sie. »Bist du nicht los, um eine neue Haartönung zu besorgen? Wo ist sie?«
»Ich ...« Er wischte sich die nassen Haare aus der Stirn. »Ich hab sie im Pub liegen lassen.«
»Du bist so ein Trottel.«
Seine Sicht trübte sich, verschwamm an den Rändern. Ihr hübsches Gesicht schwebte wie eine verzerrte Blase vor seinen Augen. Als sie ihm die Schuhe auszog, hielt sie inne und betrachtete die rote Färbung. »Ist das ...« Doch sie beendete den Satz nicht. Stattdessen machte sie sich an seinen Socken, seiner Jeans und seinem T-Shirt zu schaffen. »Komm schon, hilf mir. Du brauchst jetzt eine heiße Dusche.«
»Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.«
»Klar doch, sicher schaffst du das.« Sie stellte ihn aufrecht hin und zog ihm ohne zu zögern die Boxershorts aus. Sein Gehirn stockte. Er nahm kaum wahr, dass er splitternackt vor ihr stand.
»Einen Schritt nach dem anderen.« Sie griff nach seinem Arm und führte ihn ins Badezimmer, wo er im grellweißen Licht blinzelte. Die Helligkeit schmerzte in seinem Kopf. Das Wasser zischte aus dem Duschkopf. Dampf stieg auf.
Ihr Arm schlang sich kräftig um seine Hüfte. »Rein mit dir«, sagte sie. »Lass dir Zeit. Linker Fuß zuerst.«
Seine Hand schoss vor, um sich an der gefliesten Wand abzustützen. Er schämte sich unheimlich. »Ich glaube, das schaffe ich nicht.«
»Hey, reiß dich zusammen! Ein bisschen musst du schon mithelfen!« Ihre Geduld war am Ende. »Du bist schließlich nicht behindert.«
Er riss sich zusammen, setzte sich auf den Rand der Wanne und hob behutsam ein Bein nach dem anderen darüber. Das herabspritzende Wasser war heiß und belebend. Vernunftfetzen tauchten in seinem Geist auf. Mehr Bewusstsein, mehr Schamgefühl.
»Und jetzt steh auf und wasch dich!«
Sachte, sachte!, mahnte er sich. Verlegener hätte er kaum sein können: ein blasser, nackter Säufer mittleren Alters. Als er aufzustehen versuchte, rutschte er sofort aus. Sein Hintern landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden der Wanne.
»Oh Mann ... Was soll ich nur mit dir machen?«
Sie streifte ihren Morgenmantel ab und stieg nur mit BH und Slip bekleidet zu ihm in die Wanne. Er sah auf wie ein desillusioniertes Kind, als sie sich vorbeugte, grunzte und ihn unter den Wasserstrahl bugsierte. Sofort fiel ihr das Haar in nassen Strähnen ins Gesicht. Große Brustwarzen traten dunkel hervor, als das Wasser den BH durchnässte. Die üppigen, mit Milch gefüllten Brüste wogten erotisch. Das Bild blendete ihn regelrecht – der mächtige schwangere Bauch voller Leben, der Busen, das dunkle Büschel ihrer Schambehaarung, die sich gegen den nassen Slip abzeichnete. In ihrer Fruchtbarkeit bot sie einen wahrhaft schönen Anblick, doch er war zutiefst erleichtert, dass er trotzdem keine erotischen Gefühle für sie entwickelte. Keine Lust, kein Verlangen, nicht einmal, als ihre weichen Hände ihn einseiften.
Sie half ihm aus der Dusche, trocknete ihn ab und unterstützte ihn bei dem mühsamen Unterfangen, seinen Bademantel anzuziehen. Danach führte sie ihn Schritt für Schritt hinaus ins Zimmer und setzte ihn aufs Bett.
Mittlerweile fühlte sich der Mann ein wenig besser als tot.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Schon gut.«
Im Fernsehen liefen immer noch Nachrichten. Von einem Schulhof in Maryland waren Kinder entführt worden. Bundesagenten hatten eine Razzia in einem geheimen Labor durchgeführt, in dem mit Gehirngewebe von Föten experimentiert wurde. Eine Krankenpflegerin für Schwerbehinderte gestand vor laufender Kamera, ein sechsjähriges, geistig zurückgebliebenes Mädchen ermordet zu haben, um sich mit dem Vater des Kindes das Geld von der Versicherung zu teilen. Ruandische Soldaten hatten ein Krankenhaus vom Roten Kreuz niedergebrannt und dabei 60 Menschen getötet.
»Das Böse lauert überall«, stellte das Mädchen fest.
»Ich weiß.«
Sie schaltete den Apparat aus und setzte sich neben ihn. »Ich habe mehr Angst als du. Verstehst du, was ich meine?«
Die Worte durchschnitten den Nebel der Alkoholvergiftung wie ein starker Lichtstrahl. »Ja. Da gibt es ja nichts falsch zu verstehen.«
»Ich weiß nicht, was passieren wird.«
»Ich auch nicht.«
Ein Klicken ertönte, als sie schluckte. »Meine Fruchtblase kann inzwischen jeden Tag platzen, vielleicht sogar jede Stunde.«
Der Mann nickte. Er brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, wovon er beinahe überzeugt war. Es wird morgen nach Mitternacht geschehen.
»Ich will, dass du mich umbringst. Erschieß mich mit deiner Pistole und lauf weg. Ich werde dir vergeben«, sagte sie. »Und Gott wird es auch.«
»Ich werde dich nicht umbringen«, krächzte er. »Wäre das mein Plan, dann hätte ich es schon längst getan.«
Sie schaltete das Licht aus. »Dann lass uns jetzt schlafen.«
Er wollte noch einmal aufstehen, aber ihre Hand zog ihn zurück. »Schlaf hier im Bett bei mir. Glaubst du etwa, dass ich dir nach allem, was du getan hast, nicht vertraue?« Ein freudloses Kichern. »Wenn du etwas Perverses mit mir vorhättest, hättest du auch das längst getan.«
Der Mann legte sich hin, schmiegte sich an sie und ließ seine Gedanken wandern. Er fühlte sich nach wie vor schrecklich und wusste, dass es noch eine Zeit lang so bleiben würde, aber so neben ihr zu liegen – in vollkommenem Vertrauen –, vermittelte ihm ein tröstliches Gefühl, das unschätzbar schien. Sie schlief rasch ein, während sich in seinem Kopf immer noch alles drehte, aber nach einer Weile beruhigte er sich. Er lauschte ihrem Atem, während ihre Hand auf seiner Brust ruhte.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, konnte er ihre Umrisse erkennen. Die Brüste hingen seitlich über dem gewaltigen Bauch.
Bevor er selbst in einen benommenen Schlaf fiel, ging ihm noch durch den Kopf: Nein, ich werde dich nicht töten. Aber ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen, dass ich töten werde, was immer aus dir herauskrabbelt ...