Der Mann am Drücker
Josef K. kam unter größten Anstrengungen an seinem Geburtstag zur Welt. Vor diesem Zeitpunkt weilte er an einem engen und dunklen Ort.
Schon bei seinen ersten Bewegungen übte er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften einen starken Druck auf seine direkte Umgebung aus und erblickte zum vorgesehenen Zeitpunkt mit einem schrillen Schrei das levantinische Tageslicht.
Über die näheren Umstände seiner Geburt hatte sich der kleine Jossi niemals Gedanken gemacht. Er selbst lernte die Bedeutung des Wortes »Druck« erst im zarten Alter von drei Jahren kennen. Und zwar an jenem denkwürdigen Tag, als er, kaum der Sprache mächtig, seinen Eltern unwirsch mitteilte, dass er dringend eine Trommel bräuchte.
Aus verständlichen Gründen waren Jossis Eltern nicht bereit, diesen Wunsch zu erfüllen. Also brach der kleine Jossi, von einem sicheren Instinkt geleitet, in Tränen aus und begann, einige Stunden lang aus Leibeskräften draufloszubrüllen.
Jossis Vater blieb unnachgiebig. »Von mir aus kannst du plärren, solange du willst, du Dickschädel«, sagte der pensionierte Schlittschuhschleifer, »wir werden ja sehen, wer von uns beiden als erster genug hat.«
Nach knapp 48 Stunden bekam der Kleine seine Trommel. Schließlich wollten seine Eltern Ruhe im Hause haben. In diesem Augenblick wurde Josef K. schlagartig bewusst, welche Funktion der Druck im täglichen Leben spielen kann.
In der siebten Schulklasse sollte er ein »Ungenügend« in Betragen bekommen. Jossi ging zu seinem Klassenlehrer und teilte ihm mit, dass von einem ungenügenden Betragen seinerseits keine Rede sein könne, denn er sei, ganz im Gegenteil, schon immer höchst folgsam und brav gewesen. Der Klassenlehrer war anderer Ansicht. Daher sah Jossi sich gezwungen, heftige Hustenanfälle einzusetzen und zusätzlich eine Zeugin für sein vorbildliches Betragen ins Treffen zu führen. Seine Mutter ging zum Klassenlehrer und teilte ihm mit, dass ihr Junge schon immer höchst folgsam und brav gewesen sei. Sie schlug dem Klassenlehrer einen großen Regenschirm über den Schädel. Es war Herbst mit kapriziösem Wetter. Der Getroffene beharrte weiterhin auf seiner Meinung, also bekam er es mit einem zusätzlichen Zeugen zu tun, nämlich Jossis Vater. Der warnte den sturen Pädagogen, dass sein Sprössling wie irre zu toben beginnen würde, wenn das Schulzeugnis nicht auf sein auffallend braves Benehmen hinweise. Bei dieser Gelegenheit zeigte er dem Klassenlehrer auch ein ärztliches Zeugnis, dass er, d. h. der Vater, nicht zurechnungsfähig sei. Der Klassenlehrer versprach, den Fall noch einmal zu überdenken.
Als Jossi ihm freundlich andeutete, dass noch eine ganze Reihe von ebenso gut präparierten Verwandten als Zeugen auftreten könnten, taute der Klassenlehrer endlich auf und korrigierte die Note auf »Genügend«, womit sich Jossi widerwillig zufriedengab.
Als Jossi in das Alter kam, seinen Wehrdienst zu absolvieren, weigerten sich die Militärärzte, ihn für tauglich zu erklären, weil ihnen sein Gesundheitszustand bedenklich erschien. Jossis Stolz war verletzt. Er holte sich bei einem befreundeten Arzt ein Attest, dass gerade er besonders tauglich wäre, und legte es dem Militärarzt vor. Dieser blieb unbeeindruckt. Also holte sich Jossi ein Attest von einem befreundeten Oberarzt und legte es dem Militärarzt vor. Vergebens. So sprang Jossi zum Fenster hinaus und brach sich ein Bein.
Da erkannte der Militärarzt den Ernst der Lage, korrigierte sein Urteil und erklärte Jossi für voll tauglich.
Kurz nach seiner Genesung musste der gemeine Soldat Josef K. jedoch erkennen, dass das Soldatenleben nicht annähernd so bequem war, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Vor allem die Kampfübungen fand er so ermüdend, dass er sich wieder zum Militärarzt begab, um aus gesundheitlichen Gründen eine Versetzung in eine Verwaltungseinheit zu beantragen. Der Militärarzt stellte nach gründlicher Untersuchung fest, dass hierfür kein Grund vorläge. Um Zeit und überflüssige Worte zu sparen, sprang Jossi sofort zum Fenster hinaus, fiel jedoch auf einen Komposthaufen und blieb unverletzt. Der Militärarzt aber wollte Komplikationen vermeiden und setzte Jossis Tauglichkeitsgrad wegen unüberwindlicher Sprungsucht um zwei Stufen herab. Worauf der gemeine Soldat Josef K. in den Stallungen der Bürohengste verschwand.
Nach seiner Entlassung aus der Armee fasste Jossi den Entschluss, sich im bürgerlichen Leben zu etablieren. Er begab sich zur Stadtverwaltung und bat den für ihn zuständigen Unterabteilungsleiter um Zuweisung einer Wohnung. Dieser teilte ihm bedauernd mit, dass Wohnungen ausschließlich an gediente Soldaten vergeben würden. Da ging Jossi zur Schwester des Unterabteilungsleiters, die er zufällig kannte, und erzählte ihr von seinen Nöten. Die Schwester rief ihren Bruder an, um ihm mitzuteilen, dass Josef K. ein gedienter Soldat sei.
Er teilte seiner Schwester mit, dass es bei ihm keine Protektion gäbe. Dies umso mehr, als die Fenster seines Büros mit Gittern versehen wären.
Josef K. ersuchte die Schwester, auch weiterhin mindestens einmal pro Tag anzurufen, während er selbst sich vor dem Rathaus zu einem Sitzstreik niederließ. Neben sich pflanzte er ein großes Plakat auf mit der Aufschrift: »Warum bekommen nur gediente Soldaten Wohnungen?« Zur Sicherheit warf er jede Nacht ein paar verblichene Katzen durch das Schlafzimmerfenster des Unterabteilungsleiters, um diesen davon zu überzeugen, dass er, Josef K., ein gedienter Soldat sei.
Er verließ sich mehr und mehr auf persönlichen Druck. Die Schwester wurde gebeten, drei- bis viermal täglich anzurufen. Josef hingegen setzte sich vor die Bürotür des Unterabteilungsleiters und schlug während der gesamten Bürozeit auf seine Trommel ein. Nachts warf er zusätzlich zu den verblichenen Katzen auch noch einige alte Schuhe durch das Schlafzimmerfenster des unkooperativen Beamten. Donnerstag blieb ihm keine andere Möglichkeit, als die Bürotür aufzustemmen, um mit einem Drei-Zoll-Leitungsrohr die Büroeinrichtung zu zertrümmern.
Der verängstigte Unterabteilungsleiter rief sofort nach der Polizei, doch die Beamten waren wegen der Fußballmeisterschaft überlastet. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass Josef K. ein gedienter Soldat war.
So kam unser Held zu einer netten, zentral gelegenen Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Nebenräumen. Er richtete die Wohnung äußerst geschmackvoll ein, was sogar der Unterabteilungsleiter zugeben musste, als er ihn zur Einweihungsparty, gemeinsam mit seiner Schwester, besuchte.
In jenen Tagen lernte Josef K. ein für allemal, dass Stress nicht nur ein Mittel ist, das vom Zweck geheiligt wird, sondern auch eine Art von Lebensform, die ihre eigenen Spielregeln und Statuten hat.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich Josef K. inzwischen in die Schwester des Unterabteilungsleiters verliebt und wollte sie sogar ehelichen. Doch die hochgewachsene junge Frau lehnte seinen Antrag mit der Begründung ab, dass er kein Einkommen hätte. Daraufhin ging Josef zum Unterabteilungsleiter und ersuchte ihn, seine Schwester zweimal täglich anzurufen, um ihr zu erklären, dass er, Josef, sehr wohl ein Einkommen habe. Doch die Angebetete blieb kalt. Daraufhin verfasste Josef ein vierundzwanzig Strophen langes Liebesgedicht in Hexametern.
»Ein Liebesgedicht, egal welcher Länge, sei keine Garantie für die Fähigkeit, eine Familie zu ernähren«, sagte die hochgewachsene junge Frau.
So wurde Josefs nächstes Gedicht achtundvierzig Strophen lang. Er sandte es gemeinsam mit einem überdimensionalen Blumenstrauß an seine Angebetete, mit demselben Misserfolg. Auch eine sechsundneunzig Strophen lange Ode in Verbindung mit einem riesigen eingetopften Kaktus erreichte keinen Meinungsumschwung, besonders da Josefs künftige Braut sich mittlerweile weigerte, mit ihrem Bruder telefonisch zu sprechen.
Was konnte Josef K. anderes tun, als mit einem Band selbstverfasster Sonette in der Hand persönlich bei seiner Geliebten aufzutauchen? In der anderen Hand hielt er ein geladenes Luftdruckgewehr.
»Geben Sie endlich zu, dass ich ein Einkommen habe?«, fragte er die hochgewachsene junge Frau, während er den Mündungslauf an seine Schläfe presste.
»Natürlich«, flüsterte Shoshanna hold errötend, und die beiden schritten spontan zum Rabbiner des nächstgelegenen Standesamtes.
Josef K. wurde somit zum Ehemann, der sein Weib streng, wenn auch nicht ganz lieblos behandelte.
Sofort nach der Eheschließung ging Josef K. auf die Suche nach einem Einkommen. Nach einigen Überlegungen suchte er um die Konzession für die Eröffnung eines Eiscremekiosks im Zentrum von Tel Aviv an. Selbstverständlich wurde ihm diese Konzession nicht so ohne weiteres erteilt, denn solche Vergünstigungen waren ausschließlich jungen, verheirateten Männern vorbehalten, die nachweisbar ihren Militärdienst absolviert hatten. Josef K. wusste schon, was zu tun war. Er holte sich sofort ein Empfehlungsschreiben von seinem Onkel und ging damit zum zuständigen Beamten. Dieser sah den Zettel lange an und behauptete, den Onkel nicht zu kennen. Ohne Zeitverlust wandte sich unser Held an ein Mitglied der Gewerkschaftsexekutive mit der Bitte um ein persönliches Schreiben, in dem ausdrücklich vermerkt sein sollte, dass der zuständige Beamte besagten Onkel sehr wohl kenne. Doch der Beamte erwiderte, dass er auch von jenem Herrn der Gewerkschaftsexekutive noch niemals gehört habe. Daraufhin machte Josef den Beamten mit dem Gewerkschaftsführer bekannt, und der stellte dem Beamten Josefs Onkel vor. Aber just zu diesem Zeitpunkt wurde der Beamte in den Süden versetzt, um dort die Leistungsfähigkeit des Staatsapparates zu vermindern. Sein Nachfolger war zufällig ein alter Freund von Josefs Onkel und ließ daher sein Empfehlungsschreiben unbeachtet liegen, woraufhin Josef K. sofort den Schreibtisch des neuen Beamten in Brand steckte.
Diese Regelung war leider nur provisorisch. Der neue Beamte gab zwar Josef K. eine Empfehlung an sich selbst, aber in unleserlicher Handschrift.
Der enttäuschte Jossi entschied sich für das juristische Vorgehen und erhob beim Bezirksgericht Anklage gegen die ganze Bande. Gleichzeitig beantragte er beim Obersten Gerichtshof eine Einstweilige Verfügung, derzufolge das Bezirksgericht begründen sollte, warum es nicht bereit sei, die Klage des Josef K. zuzulassen. Darüber hinaus beantragte er beim Obersten Rabbinat einen Bannfluch gegen das Oberste Gericht, falls dieses nicht bereit sei, die Einstweilige Verfügung gegen das Bezirksgericht zu erlassen.
Um aber ganz sicherzugehen, suchte er nochmals den zuständigen Beamten auf. Bei dieser Gelegenheit brachte er einen verrosteten Kanister mit und begoss den Staatsdiener mit einer Mischung aus Waschbenzin und giftgrüner Acrylfarbe.
Zum Erstaunen aller Beteiligten wurde er daraufhin verhaftet und verbrachte fast eine ganze Woche im Gefängnis. Als er endlich gegen stark ermäßigte Kaution entlassen wurde, rannte er unverzüglich mit dem verrosteten Kanister zum Beamten zurück und erhielt sofort die Konzession für die Errichtung des Eiskiosks im Zentrum von Tel Aviv. Zwar handelte es sich nur um ein bescheidenes Unternehmen, doch sicherte es Herrn K. und seiner kleinen Familie ein angemessenes Einkommen.
Mittlerweile war die hochschwangere Gattin des Josef K. bereits ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der werdende Vater stürzte sich sogleich auf den Oberarzt mit dem Auftrag, dass seine Frau unbedingt einen Sohn zur Welt bringe.
»Warum ausgerechnet einen Sohn?«, fragte der Mediziner.
»Weil nur ein Mann in der Lage ist, den Stress im Leben zu ertragen«, antwortete Jossi K.
Der Oberarzt behauptete, darauf keinen Einfluss zu haben. Also ging Jossi mit dem verrosteten Kanister wieder zu seinem Freund, dem Beamten von der Konzessionserteilung, um diesen durch die bewährte Mischtechnik um einige telefonische Empfehlungen zu bitten.
Der Oberarzt blieb ungerührt und weigerte sich unsinnigerweise. Und zwar so lange, bis Josef K. einen gutvorbereiteten Nervenzusammenbruch erlitt, die Oberschwester biss und laute Klagelieder anstimmte. Damit erreichte er endlich sein Ziel, der Arzt gab seinen Widerstand auf, und Josef K. wurde Vater eines strammen Sohnes.
In diesem gemächlichen Stil ging das Leben des Durchschnittsbürgers Josef K. jahrelang weiter. Viele seiner Bekannten glaubten, dass Josef K. ein Glückspilz wäre, dem Fortuna Erfolg beschert, doch er selbst wusste genau, dass jedes Gelingen nur unter äußerstem Stress erfolgt war.
Der andauernde Druck unterwanderte schließlich seine Gesundheit, und eines Tages brach er zusammen.
Ehe Josefs müdes Herz zu schlagen aufhörte, lächelte er vor sich hin und dachte: »Endlich erreiche ich hierzulande etwas, ohne Druck auszuüben.«
Und damit schloss er seine Augen für immer.
Der Arzt notierte die Todesursache: zu hoher Blutdruck.