Wer nichts fragt, lernt nichts
»Papi!« So pflegen mich meine Kinder anzureden. Diesmal war es Amir. Er stand vor meinem Schreibtisch, in der einen Hand das farbenprächtige Album »Die Wunder der Welt«, in der andern Hand den Klebstoff, mit dem allerlei farbenprächtige Bildlein in die betreffenden Quadrate einzukleben waren.
»Papi«, fragt mein blauäugiger, rothaariger Zweitgeborener, »stimmt es, dass sich die Erde um die Sonne dreht?«
»Ja«, antwortet Papi. »Natürlich.«
»Woher weißt du das?«, fragt mein Zweitgeborener.
Da haben wir’s. Das ist der Einfluss von Apollo 13. Der kluge Knabe will das Sonnensystem erforschen. Gut. Kann er haben.
»Jeder Mensch weiß das«, erkläre ich geduldig. »Das lernt man in der Schule.«
»Was hast du in der Schule gelernt? Sag’s mir.«
Tatsächlich: Was habe ich gelernt? Meine einzige Erinnerung an die Theorie des Universums besteht darin, dass unser Physiklehrer eine Krawatte mit blauen Tupfen trug und minutenlang – ohne Unterbrechung, aber dafür mit geschlossenen Augen – reden konnte. Er hatte schlechte Zähne. Die oberste Zahnreihe stand vor. Wir nannten ihn »das Pferd«, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt. Ich werde es gelegentlich einer Kontrolle unterziehen.
»Also? Woher weißt du das?«, fragt Amir aufs Neue.
»Frag nicht so dumm. Es gibt unzählige Beweise dafür. Wenn es die Sonne wäre, die sich um die Erde dreht, statt umgekehrt, würde man ja von einem Erdsystem sprechen und nicht von einem Sonnensystem.«
Amir scheint keineswegs überzeugt. Ich muss ihm eindrucksvollere Beweise liefern, sonst kommt er auf schlechte Gedanken. Er ist ja, das soll man nie vergessen, rothaarig.
»Schau her, Amir.« Ich ergreife einen weißen Radiergummi und halte ihn hoch. »Nehmen wir an, das ist der Mond. Und die Schachtel mit den Reißnägeln ist die Erde.«
Jetzt bin ich auf dem richtigen Weg. Die Schreibtischlampe übernimmt die Rolle der Sonne, und Papi führt mit einer eleganten Bewegung den Radiergummi über die Schachtel mit den Reißnägeln um die Schreibtischlampe herum, langsam, langsam, kreisförmig, kreisförmig …
»Siehst du den Schatten? Wenn der Radiergummi sich gerade in der Mitte seiner Bahn befindet, liegt die Schachtel mit den Reißnägeln im Schatten.«
»So?« Die Stimme meines Sohnes klingt zweiflerisch. »Sie liegt aber auch im Schatten, wenn du die Lampe hin und her drehst und die Schachtel auf dem Tisch liegen lässt. Oder?«
Man sollte nicht glauben, wie unintelligent ein verhältnismäßig erwachsenes Kind fragen kann.
»Konzentrier dich gefälligst!« Ich erhebe meine Stimme, auf dass mein Sohn den Ernst der Situation erfasse. »Wenn ich die Lampe bewege, würde der Schatten ja vollständig auf die eine Seite fallen und nicht auf die andere.«
Es ist nicht der Schatten, der jetzt fällt, sondern es fällt die Schachtel mit den Reißnägeln, und zwar auf den Boden. Wahrscheinlich infolge der Zentrifugalkraft. Der Teufel soll sie holen.
Ich bücke mich, um die über den ganzen Erdball verstreuten Reißnägel aufzulesen.
Bei dieser Gelegenheit fällt mein Blick auf meines Sohnes Socken.
»Du siehst wieder mal wie ein Landstreicher aus!«, bemerke ich tadelnd.
Was nämlich meines Sohnes Socken betrifft, so hängen sie bis über die Schuhe herunter. Das tun sie immer. Ich habe noch nie ein so schlampiges Kind gesehen.
Während ich das Material aus dem Universum rette, richte ich mich langsam auf und versuche mich an die Theorien von Galileo Galilei zu erinnern, der diese ganze Geschichte damals an irgendeinem Königshof oder sonstwo ins Rollen gebracht hat. Das weiß ich sehr gut, weil ich die gleichnamige Aufführung im Kammertheater gesehen habe, mit Salman Levisch in der Titelrolle. Er hat dem Großinquisitor, dargestellt von Abraham Ronai, heroischen Widerstand geleistet, ich sehe es noch ganz deutlich vor mir. Leider bedeutet das jetzt keine Hilfe für mich.
Auch der Himmel hilft mir nicht. Ich bin ans Fenster getreten und habe hinausgeschaut, ob sich dort oben etwas bewegt. Aber es regnet.
Ich schicke meinen Sohn in sein Zimmer zurück und empfehle ihm, über seine dumme Frage selbst nachzudenken, damit er sieht, wie dumm sie ist.
Amir entfernt sich beleidigt.
Kaum ist er draußen, stürze ich zum Lexikon und beginne fieberhaft nach einem einschlägigen Himmelsforscher zu blättern … Ko … Kopenhagen … da: Kopernikus, Nikolaus, deutscher Astronom (1473–1543) … Eine halbe Seite ist ihm gewidmet. Eine volle halbe Seite und kein einziges Wort über die Erddrehung. Offenbar haben auch die Herausgeber des Lexikons vergessen, was man ihnen in der Schule beigebracht hat.
Ich begebe mich in das Zimmer meines Sohnes. Ich lege meinem Sohn mit väterlicher Behutsamkeit die Hand auf die Stirn und frage ihn, wie es ihm geht.
»Du hast überhaupt keine Ahnung von Astronomie, Papi«, lässt mein Sohn sich vernehmen.
Höre ich recht? Ich habe keine Ahnung? Ich?! Unverschämt, was so ein kleiner Bengel sich erfrecht!
Die Erinnerung an Salman Levisch gibt mir neue Kraft.
»Und sie bewegt sich doch!«, erkläre ich mit Nachdruck. »Das hat Galileo vor seinen Richtern gesagt. Kapierst du das denn nicht, du Dummkopf? Und sie bewegt sich doch!«
»In Ordnung«, sagt Amir. »Sie bewegt sich. Aber wieso um die Sonne?«
»Um was denn sonst? Vielleicht um die Großmama?«
Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn. Mein väterliches Prestige steht auf dem Spiel.
»Das Telefon!« Ich sause zur Tür und in mein Zimmer hinunter, wirklich zum Telefon, obwohl es natürlich nicht geläutet hat. Vielmehr rufe ich jetzt meinen Freund Bruno an, der als Biochemiker oder etwas dergleichen tätig ist.
»Bruno«, flüstere ich in die Muschel, »wieso wissen wir, dass sich die Erde um die Sonne dreht?«
Sekundenlange Stille. Dann höre ich Brunos gleichfalls flüsternde Stimme. Er fragt mich, warum ich flüstere. Ich antworte, dass ich heiser bin, und wiederhole meine Frage nach der Erddrehung.
»Aber das haben wir doch in der Schule gelernt«, stottert der Biochemiker oder was er sonst sein mag. »Wenn ich nicht irre, wird es durch die vier Jahreszeiten bewiesen … besonders durch den Sommer …«
»Eine schöne Auskunft, die du mir da gibst«, zische ich ihm ins Ohr. »Das mit den vier Jahreszeiten bleibt ja auch bestehen, wenn die Lampe bewegt wird und die Schachtel mit den Reißnägeln nicht herunterfällt! Adieu.«
Als Nächstes versuche ich es bei meiner Freundin Dolly. Sie hat einmal Jura studiert und könnte von damals noch etwas wissen.
Dolly erinnert sich auch wirklich an das Experiment mit Fouchers Pendel aus der Physikstunde. Soviel sie weiß, wurde das Pendel an einem freistehenden Kirchturm aufgehängt und hat dann Linien in den Sand gezogen. Das war der Beweis.
Allmählich wird mir die Inquisition sympathisch. Freche, vorlaute Kinder, die nur darauf aus sind, ihre Altvorderen zu blamieren, sollten sich hüten! Woher weiß ich, dass die Erde sich um die Sonne dreht? Ich weiß es und Schluss. Ich spüre es in allen Knochen.
Mühsam schleppe ich mich an meinen Schreibtisch zurück, um weiterzuarbeiten. Wo ist der Radiergummi?
»Papi!« Der Rotkopf steht schon wieder vor mir. »Also bitte – was dreht sich?«
Tiefe Müdigkeit überkommt mich. Mein Kopf schmerzt. Man kann nicht sein ganzes Leben kämpfen, schon gar nicht gegen die eigenen Kinder.
»Alles dreht sich«, murmle ich. »Was geht’s dich an?«
»Du meinst, die Sonne dreht sich?«
»Darüber streiten sich die Gelehrten. Heutzutage ist alles möglich. Und zieh schon endlich deine Socken hinauf!«